Profilbild von Beust

Beust

Lesejury Profi
offline

Beust ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Beust über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.05.2020

Erstaunlich, wie der Roman im Dialog die schwersten Themen schultert

Und Nietzsche weinte
0

„Und Nietzsche weinte“ ist ein erstaunlicher Roman des amerikanischen Psychoanalytikers Irvin Yalom, in dem die wechselseitige Behandlung Friedrich Nietzsches und Josef Breuers zentrales Handlungselement ...

„Und Nietzsche weinte“ ist ein erstaunlicher Roman des amerikanischen Psychoanalytikers Irvin Yalom, in dem die wechselseitige Behandlung Friedrich Nietzsches und Josef Breuers zentrales Handlungselement ist. Warum erstaunlich? Weil es Yalom gelingt, in ausholenden, lebendigen und tiefgründigen Dialogen zu erzählen, ohne das gesprochen Wort öfter als nötig zu verlassen, um etwa die Umgebung zu beschreiben. Auf diese Weise liefern die Personen scheinbar von sich aus alle Informationen, die sie ausmachen - notfalls ergänzt durch einen inneren Monolog. Selbstredend kann Yalom nicht „den ganzen Nietzsche“ referieren oder „die komplette Geburt der Psychoanalyse“ - sollte er auch besser nicht -, aber dennoch lernt man beides gut kennen. Dabei fühlt man sich keineswegs schulmeisterlich belästigt, sondern stets auf lehrreiche und humorvolle Weise unterhalten. Das Erstaunlichste aber war für mich: Nitzsche und Breuer haben sich wahrscheinlich nie getroffen. Der Roman ist von vorn bis hinten das, was ein Roman sein sollte: gelungene Fiktion. Chapeau!

Veröffentlicht am 18.05.2020

Das Gewohnte verloren in Tunesien

Das Zittern des Fälschers
0

Howard Ingham ist Schriftsteller mit aufkeimenden Bestselleraussichten, der für einen befreundeten Produzenten einen Roman zum Drehbuch umarbeiten soll und zu diesem Zweck nach Tunesien reist. Dort erwartet ...

Howard Ingham ist Schriftsteller mit aufkeimenden Bestselleraussichten, der für einen befreundeten Produzenten einen Roman zum Drehbuch umarbeiten soll und zu diesem Zweck nach Tunesien reist. Dort erwartet er den Produzenten. der nicht erscheint, sondern sich umbringt – und auf Nachrichten seiner Verlobten Ina, die auf seine Nachrichten nicht antwortet. Howard bleibt trotz dieser Misserfolge und Schicksalsschläge in Tunesien, offenbar weil ihn die Atmosphäre zum Beginn eines neuen Romans motiviert.

Umgeben ist Howard von tunesischen Hotelpagen mit sinisteren Absichten, langfingrigen Eingeboren, einem homosexuellen dänischen Fotografen und einem neugierigen Amerikaner mit politisch halbgarer Agenda. Dieser Adams rückt Howard immer weiter auf die Pelle, nachdem jener einen Einbrecher vermutlich getötet hat – sicher ist das nicht. Im Folgenden entwickelt sich ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Adams, Howard und Howards Gewissen, in dem als Katalysatoren auch der Däne und schließlich die Verlobte Ina mitmischen. Während des Spiels wird deutlich, wie Howard langsam den Boden unter den Füßen verliert und damit auch sein unerschütterliches, us-amerikanisches Koordinatensystem für Menschlichkeit und das Richtige. Howard blickt in die Abgründe seiner selbst und wir Lesenden mit ihm.

Es gelingt Highsmith vortrefflich, die Ansichten und Absichten ihrer Figuren zu beschreiben, im Alltäglichen das Fremde und um Fremden das Alltägliche vorzuführen, um es anschließend zu verzerren. Allerdings macht es einem der Roman nicht leicht, sich durch die Zeilen zu bewegen, weil der deskriptive Stil und die Handlungsarmut kaum vermuten lässt, dass Highsmith eigentlich für Kriminalliteratur bekannt ist. Die Autorin hat „das Zittern des Fälschers“ als ihren wichtigsten Roman bezeichnet; das mag sein, wärmt aber dennoch nicht mein abschließendes Urteil: Erreichte mich nicht.

Veröffentlicht am 17.03.2020

Maintal Psycho statt American Psycho

Allegro Pastell
0

Schon lange habe ich keinen Roman mehr gelesen, der mir so auf die Nerven ging, obwohl ich nicht wusste, ob er so gut oder so schlecht war. „Allegro Pastell“ ist so eine durchdesignte Beziehungskiste zwischen ...

Schon lange habe ich keinen Roman mehr gelesen, der mir so auf die Nerven ging, obwohl ich nicht wusste, ob er so gut oder so schlecht war. „Allegro Pastell“ ist so eine durchdesignte Beziehungskiste zwischen Tanja und Jerome, wahnsinnig hip, modern, kontrolliert und seicht. Sind die heute 30-Jährigen so, dass für sie alles gleich wichtig oder unwichtig ist, dass Drogen oder Sex nur eine von vielen Kommunikationsformen oder Zeitvertreiben sind, denen man nachgehen kann, wenn das Wetter verregnet ist? Kann einem eine Textnachricht „gefallen“, weil ihr „Tonfall souverän“ ist? (S. 37) Die Sprache mit ihren Anglizismen und aus der mündlichen Sphäre entnommenen Ungenauigkeiten nervt gewaltig - spricht man heute so, wenn man in einer Berliner Wegagentur arbeitet? Oder schlimmer: Schreibt man so?

Gleichzeitig hat Leif Randt freilich seine Sprache gut im Griff und erlaubt sich keine Ausrutscher. Einige Sätze entlarven durch Konstruktion und Inhalt das geschehen als leer und seicht: „Marlene besaß eine optimalere Pfanne las Tanja.“ (S. 267) Das spiegelt die Einfältigkeit vieler Gespräche und hebt gleichzeitig mittels unsinnigen Superlativs en Finger.

Offenbar geht es hier ums Älterwerden oder ums Nicht-Erwachsen-Werden einerseits und die hohle Welt der Dinge andererseits. Die ganze Handlung ist derartig unreif, eindimensional und platt, wie sie bestimmt genauso gewollt ist. Das wirft die Frage auf, ob Leif Randt hier eine phänotypische Fallstudie in Sozioethnologie abbilden wollt, ob er zur Analyse der geistigen Dürftigkeit der rezenten Leistungsträger aufruft oder ob er subtil zur satirischen Anklage anhebt.

Mir ist es fast egal, weil ich es entweder nach 80 Seiten schon begriffen oder eben nicht verstanden hatte und den ganzen Rest in quälender Abundanz nur erleiden konnte.

Hat den Leipziger Buchpreis ja auch nicht bekommen.

Veröffentlicht am 17.03.2020

eine Phantasie – eine Absurdität – ein Genie

Ich erwarte die Ankunft des Teufels
0

Mary MacLane war eine außergewöhnlich Frau - halb It-Girl ihrer Zeit, halb Ikone der sexuellen Erweckung in er Vor-Revolutionszeit, halb politische Streiterin der Frauenrechte. Wer rechnen kann, kommt ...

Mary MacLane war eine außergewöhnlich Frau - halb It-Girl ihrer Zeit, halb Ikone der sexuellen Erweckung in er Vor-Revolutionszeit, halb politische Streiterin der Frauenrechte. Wer rechnen kann, kommt jetzt auf 1,5 Hälften und nähert sich damit der Größe ihres Egos, das in ihrem ersten Text „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“ aus jedem Absatz platzt: Eine Neunzehnjährige zwischen Pubertät und Erwachsenendasein, zwischen Provinz und Kultur, zwischen Schlaf und Erweckung und mit dem unbedingten Willen zu Ruhm und einem prallen Leben lässt dröhnend alle Emotionen heraus, die sie erfüllen.

Ihr Programm: „Ich bin eine Phantasie – eine Absurdität – ein Genie!“ (S. 154) Ihr Geniebegriff ist dabei von umfassender Gestalt, aber naiv, wie überhaupt der ganze Text ein unermesslich gesteigerter naiver Aufschrei nach dem Beginn des „eigentlichen“ Lebens ist. Dabei ist MacLane weder so außergewöhnlich noch so einzigartig, wie ihr Text tut. Ganz im Gegenteil erscheint es sehr modern, wie eine junge Frau alles will, Ruhm und ein glühendes Leben, ohne dafür viel zu tun. Letztlich wartet sie auf den Teufel, weil sie sich verspricht, von diesem alles geschenkt zu bekommen. Sie verhält sich wie jemand, der wahnsinnig gern Klavier spielen können möchte, aber wegen der Mühen keinesfalls Klavier spielen lernen will. Damit charakterisiert MacLane wunderbar den Moment des Atemholens, ehe sich der Mensch für die Richtung seines Lebens entscheidet, ohne eine Ahnung davon zu haben, was das bedeutet: Richtung, Leben oder Entscheidung. Deshalb ist das Buch auch kein Roman, aber auch keine Darstellung, wie MacLane es will (S. 11, 154, 175 u.ö.), sondern am ehesten ein Bekenntnis.

Obwohl MacLane behauptet, sie „habe keine Botschaft“ (S. 57), steckt ihr Bekenntnis doch voller sowohl drastischer wie subtiler Botschaften und legt das Seelenleben, einer an sich verzweifelnden (oder verzweifeln wollenden?) jungen Frau offen. Sie beobachtet dabei sehr genau das noch nicht ausgebildete Vermögen, sich selbst in den Kontext des Lebens setzen zu könne, das Unvermögen etwa, die Zeit oder die eigene Endlichkeit wahrnehmen zu können: „Neunzehn Jahre fühlen sich an wie eine Ewigkeit, wenn man neunzehn ist.“ (S. 92) Auch dass es der Teufel sein soll, ein „Mann-Teufel“ voll Virilität und ausgemalter Kraft und Herrlichkeit, ist ein Teenietraum. Mittels starker Emphasen und fortwährender Wiederholung sowie reihende Wiederaufnahme desselben Gedankens oder anderer Gedanken in derselben sprachlichen Form gibt MacLane ihrem Text den beschwörenden, starken und die Lektüre enthusiasmierenden Ton, der einen weiterlesen und offenen Mundes staunen lässt über die Frechheit und Unverfrorenheit der Jugend, Denn nur dieser fehlen alle Grenzen, auch die Grenzen des Egos - und das ist auch gut so.

MacLane findet in der inszenierten Übergröße ihres Egos nur megalomanische Vergleiche, sie etwa sei ein „Napoleon, wenngleich in einer weiblichen Version“. (S. 15) Napoleon ist auch öfter der Fixpunkt des Vergleichs, wenn sich MacLane zum Beispiel ihr lustbetontes, erfolgreiches Leben vorstellt, dann ist das pubertär, wie auch Napoleons Ich-Bezogenheit etwas Pubertäres hatte - oder mit Mary MacLane: „… man bekommt den Verdacht, dass Napoleon Bonaparte nur lebte, um Napoleon Bonaparte zu befriedigen.“ (S. 134 f.)

Es stimmt schon, dass die Mary MacLane ihres Ego-Pamphlets nicht immer sympathisch ist. Oftmals wirkt sie vielmehr pubertär, verzogen und immer überheblich. Doch gibt sie viele humorvolle Hinweise darauf, dass es ihr nicht ganz so ernst ist mit ihrer Koketterie. Das Lob auf die MacLane-Leber, der exquisiten Eigenschaften sie hervorheben würden (S. 23), ist ein ironisches Lob pars pro toto. Und auch der Zustand des Jetzt wird in ein iornisches Verhältnis gesetzt: Denn „die Welt ist noch ein reizvoller Ort, solange ich nur mein feines, blutiges Porterhouse-Steak aus Omaha habe.“ (S. 37) Wohlgemerkt: Im Ironischen wird beides gleichzeitig gesagt, die Aussage und ihr Gegenteil, und diese Ambivalenz speist den Text mit einer spannenden Würze, die ihn unwiderstehlich macht.

Ein Wehrmutstropfen mengt sich nicht etwa durch die Übersetzung in die hervorragende Ausgabe des Reclam-Verlages, sondern durch die Übersetzerin Ann Corton. Ihr naseweises Nachwort hat zu viel von Mary MacLane. Wie sich die Übersetzerin in den Vordergrund schiebt, indem sie zum Beispiel ihr „polnisches Gendering“ verordnet, eine unlesbare Buchstabenkombination aus allen für alle Geschlechter notwendigen Buchstaben (S. 186), empfinde ich als übergriffig und unpassend. Auch das zweite Nachwort von Juliane Liebert liefert nur flachen Kontext und kaum biographische Informationen, die über den hervorragenden Anmerkungsapparat hinausgehen.

Bis Seite 183 ein außergewöhnlicher, mitreißender Text voll Aktualität, Emotion und Anregung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.02.2020

Unfreiwillig in Canaris‘ Diensten - handwerklich gelungen

Der Empfänger
0

Josef möchte lieber Joe heißen, notfalls Josef, aber bitte nicht José. Er kommt aus Deutschland, wanderte in den späten 1920ern nach New York aus und muss nach dem Krieg in Argentinien und Costa Rica wohnen, ...

Josef möchte lieber Joe heißen, notfalls Josef, aber bitte nicht José. Er kommt aus Deutschland, wanderte in den späten 1920ern nach New York aus und muss nach dem Krieg in Argentinien und Costa Rica wohnen, will aber eigentlich immer zurück nach America. Darum auch Joe. Ulla Lenze erzählt die interessante Auswanderergeschichte Josefs und öffnet gleichzeitig den Blick in ein Kapitel der Geschichte, das keine große Lobby hat, nämlich das Schicksal der vielen Deutschen in den USA während der Nazizeit. Wie rotteten sich die Gesinnungsnazis damals in den USA zusammen? Wie wurden sie für die Pläne des Deutschen Reichs instrumentalisiert? Welche Rolle spielten sie auf dem Spielbrett des Krieges? Welche Aktivitäten entfaltet die deutsche Abwehr seinerzeit unter den möglicherweise rekrutierbaren Volksgenossen im Ausland? Das ist spannend und interessant - im Anhang gibt es gleich eine Reihe von Literaturtipps, denen man weiter folgen kann. Muss man aber nicht, denn Lenzes Roman ist womöglich Sachbuch genug.



Das Buch krankt an einem Unglück, das historisch verbürgte Stoffe - Lebensgeschichten von Verwandten zumal - oft befällt: Es wirkt zu einzelfallartig, zu stringent erzählt, zu wenig exemplarisch, zu „komplett“. Dabei kann Lenze schreiben, ihr fallen unverbrauchte Metaphern ein, sie setzt Figuren und Schauplätze anschaulich in Szene und hat ein bewunderungswürdiges Auge für das Detail. Auch die verschachtelte Konstruktion unterschiedlicher Zeiten ist handwerklic gelungen.

Das Problem ist also die Grundanlage des Romans selbst: Josef ist ein Heimtaloser, ein Zerrissener, ein Antiheld-wider-Willen. Er wird gegen seinen Willen vom deutschen Geheimdienst eingesetzt und gegen seinen Willen vom FBI benutzt. Nach Internierung abgeschoben wieder in Deutschland kebt er gegen seinen Willen beim Bruder Carl, um dann verlegenheitshalber nach Argentinien zu pilgern, um wieder nach New York kommen zu können. Man liest viel Interessantes über die Ultrarechte in den USA, über Nazis jenseits des Großen Teichs. Über frühe Fake News wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ (S. 44) und die mehr als aktuell klingende Agitation der klerikalen Fundamentalisten in den Staaten. Über die Truppe von Canaris und dessen klandestinen Widerstand. Über die Schwierigkeiten des Neuanfangs in Deutschland nach der Befreiung. Über das verkorkste Brüderverhältnis der Zwischenkriegsgeneration. Über die unverbesserlichen Alten Kameraden.

Aber nach „der Empfänger“ habe ich den Eindruck, nicht mehr zu wissen, als mir ein Sachbuch auch vermittelt hätte.

Das hat auch sehr viel mit den beiden zentralen Figuren zu tun, den Brüdern Josef und Carl: Beide sind nicht nationalsozialistisch, nicht rassistisch, nicht antisemitisch eingestellt, Beide müssen nicht im Krieg dienen. beide sind eher Opfer der Zeitläufte, in denen sie leben. Vor allem Josefs Einsatz als Funker im Dienste des Reiches ist eine Tätigkeit ohne Schuld. „Ich denke nur, dass ich einfach zu blöd war.“ (S. 295) Der Eindruck beschleicht mich auch. Aus diesem Einzelschicksal kann ich keine Erkenntnis über die Zeit saugen. ich kann nur feststellen, dass ein Auswandererschicksal offenbar das Gefühl fundamentaler Entwurzelung erzeugt. Und? Das hätte ich vorher schon gewusst. Am besten gelingt Lenze die Spannung zwischen Josef und seiner (sehr) amerikanischen Freundin Lauren, die in ihrem Freund den Kollaborateur vermutet und ihn als Deutschen kritisch begleitet.

Mit dem Nazimilieu in New York um 1939, mit Canaris, mit der Nachkriegsnot am Rhein, mit der „Rattenlinie“ nach Argentinien und den dortigen Alt-Nazikolonien hat sich Lenze thematisch überladen und führt nichts richtig aus. Mithin: Gut lesbarer, interessanter Stoff mit mangelnder Tiefe.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere