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Veröffentlicht am 22.10.2019

Ein Loch ist nicht immer „ein Nichts mit was drumrum“

Das flüssige Land
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Ein Merkmal der Bewohner von Groß-Einland ist, dass „der Mensch als zu einer Landschaft gehöriges Wesen verstanden“ werden muss (S. 91). Deshalb passen die Groß-Einländer perfekt zu ihrer Heimat, denn ...

Ein Merkmal der Bewohner von Groß-Einland ist, dass „der Mensch als zu einer Landschaft gehöriges Wesen verstanden“ werden muss (S. 91). Deshalb passen die Groß-Einländer perfekt zu ihrer Heimat, denn so wie seine Bewohner einen dunklen Fleck auf Seele und Gewissen haben, hat der Ort einen dunklen Fleck unter sich, ein poröses Fundament, ein allegorisches „Loch“. Stets vom Einsturz bedroht, entstand der Ort nach den Zerstörungen des Krieges dennoch aus den Trümmern an derselben Stelle als Kopie seiner selbst, als hätten die Groß-Einländern nichts gelernt. Sie arrangierten sich mit dem Loch, unterwarfen sich dem Großkapital, das die Gesellschaft schließlich unter ein pseudofeudales Joch beugte, regiert von „der Gäfin“, und lernte: „Was man in das Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte.“ (S. 315).

Diese Zusammenhänge decken sich in einer sich girlandenartig durch die Handlung windenden Suche nach den eigenen Wurzeln auf, auf die sich die Extrem-Physikerin Ruth Schwarz begeben hat: Ihre jüngst verunglückten Eltern stammten aus Groß-Einland und waren ebenfalls dessen dunkler Geschichte auf der Spur. Ruth Schwarz ist nicht zufällig eine Physikerin, die sich mit Zeitphänomenen befasst, denn Autorin Raphaela Edelbauer geht s ja darum, die Gleichzeitigkeit von vergangenen Taten und heutiger Schuld darzulegen; zu zeigen, dass verdrängte Schuld sich zusammenballt wie ein Schwarzes Loch, das mit seiner enormen Gravitation selbst die Zeit nicht mehr entrinnen lässt (S. 185). Dass es um Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus geht, erfährt man wörtlich erst auf S.145 - oder aus dem Klappentext … Viele Hinweise sind aber zuvor in die Lektüre gestreut, nicht zuletzt der Name Groß-Einland, denn zur Zeit der fraglichen Verbrechen war der Ort Teil Groß-Deutschlands. Wie Zeit sich streckt und windet, beugt und verschlingt, führt der Text selbst vor, der schnell springt, ganze Jahre in Sätzen überfliegt, sich aber auch zum Minutenprotokoll stauchen kann (S. 250 ff.).

Die Stärke des Romans liegt in den durchdachten Details, der kräftigen Sprache (die Autorin hat „Sprachkunst“ studiert; manchmal – aber selten – wirkt ein Satz allerdings auch wie aus einem sprachkünstlichen Seminar), und im Gesamtarrangement, in dem vom Maskenhändler bis zum Fundamentenbröseln, vom Zeitdehnen und -stauchen bis zur naiv-genialen Hauptfigur Ruth alles passt.

Gleichzeitig entströmt dieser Stärke auch die Schwäche: Der Tonfall dröhnt ständig mit doppelter Bedeutung, bei der man sich fragt, auf welche Metaebene man noch durch das „Loch“ stürzen könnte - um dann am Ende bei eigentlich nur einer Doppelbödigkeit zu landen (ja: Ich hatte den Klappentext nicht gelesen). Das ist mir oft zu gewollt, zu parabelartig, bisweilen ermüdend redundant.

Dennoch: „Das flüssige Land“ mahnt poetisch die gesellschaftliche wie private Erinnerungskultur, dass Verdrängen nur Abgründe schafft, weil unsere Welt jederzeit nicht nur aus Gegenwart besteht.

Veröffentlicht am 22.10.2019

Herkunft als Abenteuer

HERKUNFT
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Der neue Roman von Saša Stanišić ist eine sympathische Collage aus Geschichten um seine Geburtsstadt Višegrad, die Flucht seiner Eltern, das Ankommen in Deutschland und Heidelberg und immer wieder die ...

Der neue Roman von Saša Stanišić ist eine sympathische Collage aus Geschichten um seine Geburtsstadt Višegrad, die Flucht seiner Eltern, das Ankommen in Deutschland und Heidelberg und immer wieder die Konfrontation mit den Fragen an seine Großmutter im Herkunftsland und den Altersgenossen im Ankunftsland.

Sein poetologisches Programm ist Erzählen, um zu erzählen: „Diese Geschichte beginnt mit dem Befeuern der Welt durch das Addieren von Geschichten.“ Das führt zu einer fast märchenhaften Fülle an Geschichten, die sich nicht nur übereinander stapeln, sondern auch verbreitern, denn „[o]hne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.“ (S. 37) Stanišić stellt sich der Frage, was Herkunft sei, also, indem er um sie herumkreist und sich ihr mal nähert, mal von ihr entfernt. Das ist oft witzig, aber auch oft ermüdend. Die Gleichförmigkeit der aufeinandergestapelten Geschichten ermüdet, auch wenn sich der Blick durch die sich teilweise kongruent abdeckenden, teilweise überlappenden oder freilassenden „Geschichtenschichten“ lohnt, weil sich am Ende verdichtet: Herkunft ist die Summe der Geschichten, die von der eigenen Familie (und hier vor allem von den Großmüttern als Übermüttern schlechthin) weitergegeben werden - zum Teil als Sage, zum Teil als Erlebtes, zum Teil als „Abenteuer“.

Dass Herkunft und Identität auch immer Abenteuer sind, erst recht wenn man aus einem Bürgerkrieg in die Fremde gezogen ist, ist dem Autor wichtig. So wichtig, dass er das Ende seiner Geschichtensammlung als Soloabenteuer im Stile der D&D- oder DSA-Abenteuerbücher gestaltet.

Manche der Geschichten wirken, als wären sie bereits für den mündlichen Vortrag konzipiert, und für mein Empfinden werden die auf das Poetry-Slam-Format zur Pointe gebürsteten Episoden dadurch geschwächt.

Unter dem Strich lispelt mir Hape Kerkeling mit Marcel Reich-Ranickis Stimme ins Ohr: „Ist das überhaupt ein Roman?“ Ich glaube nein. Aber es ist als Näherungswerk zur Herkunft ein sympathisches und lesbares Stück Literatur.

Veröffentlicht am 24.09.2019

Der unbekannte Vater einer ganzen Generation

Im Frühling sterben
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Rothmann erzählt die Geschichte zweier junger Männer – Fiete und Walter –, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges noch in die Waffen-SS gezwungen und an die Front in Ungarn geschickt werden. ...

Rothmann erzählt die Geschichte zweier junger Männer – Fiete und Walter –, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges noch in die Waffen-SS gezwungen und an die Front in Ungarn geschickt werden. Rothmann versteht es, in diesem kurzen Roman die Coming-of-Age-Geschichte Walters zu erzählen und dabei gleichzeitig tiefe Freundschaft, große Liebe und Nachdenken über den Tod im Angesicht des Granatenhagels zu den Themen von Walters Generation zu machen. Walter will überleben und Fiete einfach nur raus. Der eine ist pragmatisch und kommt aus dem Krieg, um nicht gerade das Leben eines Siegers zu führen, der andere zu freigeistig, um sich zu beugen.

Mir hat vor allem gefallen, wie es „Im Frühling sterben“ schafft, eine Geschichte zu erzählen, die gleichzeitig so gewöhnlich wirkt, wie sie außergewöhnlich ist, so dass sie auch als Geschichte einer ganzen Altersgruppe funktioniert, nämlich jener Flakhelfergeneration, von der die Bundesrepublik nach dem Krieg so geprägt wurde. Es erscheint folgerichtig, dass in der Rahmenhandlung Walters Sohn zum Erzähler wird und die ahnungslose Fragehaltung der Nachgeborenen einnimmt, die ratlos vor der Kriegserfahrung der Väter stehen.

Überdies ist der Roman ganz unaufgeregt und nachdenklich geschrieben und hätte auch das Etikett Liebesgeschichte verdient.

Eine echte Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 24.09.2019

„Hier ist alles machismo“ (S. 114)

Der Honorarkonsul
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„Der Honorarkonsul“ von Graham Greene kann mit dem „Dritten Mann“ nicht mithalten, beweist aber, warum Greene zu den großen gesellschaftskritischen Erzählern des 20. Jahrhunderts gehörte. Er packte in ...

„Der Honorarkonsul“ von Graham Greene kann mit dem „Dritten Mann“ nicht mithalten, beweist aber, warum Greene zu den großen gesellschaftskritischen Erzählern des 20. Jahrhunderts gehörte. Er packte in seinen Romanen heiße politische Themen seiner Zeit an und verwandelte sie in – zum Teil sogar spannende – Literatur. Vielleicht ist John le Carré sein legitimer Nachfolger.

Charly Fortnum ist der englische Honorarkonsul in irgendeiner argentinischen Stadt an der Grenze zu Paraguay – ein für das Foreign Office Ihrer Majestät der Queen völlig unbedeutendes Lichtlein du überdies menschlich ein „jämmerlicher Niemand“ (S. 180). Dieser bedauernswerte Säufer wird von paraguayischen Partisanen aus Versehen statt des amerikanischen Botschafters entführt und soll nun als Geisel dennoch erpresserischen Ertrag bringen. Der Roman lässt keinen Zweifel aufkommen, wie aussichtsreich dieses Unterfangen sein würde. In der gleichen Stadt wohnt auch Dr. Eduarde Plarr, Frucht aus englisch-paraguayischer Ehe, Gelegenheits-Gigolo für die Damen der Provinz und sowohl verwandtschaftlich als auch freundschaftlich mit den Partisanen und Gegnern des paraguayischen Diktators Alfredo Stroessner verbunden.

Der Roman folgt den Handlungen dieser beiden Männer, die verbunden sind durch eine Frau, nämlich Fortnums Ehefrau Clara. Ex-Hure, Plarrs Geliebte und Zeugin des südamerikanischen „machismo“, dessen unseligen Handlungsanweisungen, Haltungen und Fehlverhalten des männlichen Teils der südamerikanischen Bevölkerung der Handlung das Dramatische geben.

Aufgaben? Erst denken, dann handeln? Ehrenvoller Rückzug? Gute Ratschläge von Alten, Schwachen oder gar Frauen? Das alles gibt es nicht mit dem Männlichkeitsideal, das auf dem gesamten Kontinent bereits mit der Muttermilch verabreicht wird. „Hier ist machismo gleichbedeutend mit Leben. (…) Ohne machismo ist ein Mann tot.“ (S. 114).

Greene entwickelt und verwickelt seinen Roman um diese Grundhaltung seines Personals sowie um die ambivalente Position Dr. Plarrs zwischen allen Fronten. Die Spannung entsteht, weil der machismo den Männern Dummheiten diktiert – erfunden wurde er wahrscheinlich von „einer Bande von Raufbolden wie Pizzaro oder Cortés“ (S. 291) – und weil Greene es versteht, Dr. Plarr und Fortnum vor widersprüchliche Handlungsoptionen zu stellen, an denen sie entweder scheitern oder wachsen können.

Das andere, den Kontinent prägende Thema ist die Glaubensfrage, also wie indigener Glaube, das barmherzige Christentum und die Amtskirche sich im Volk vereinigen lassen - oder nicht. Der gefallene Priester, der als Partisan nicht nur der Kirche,. sondern auch der Staatlichkeit abhanden gekommen ist, bringt die Problematik in den Roman, die zwar wichtig, aber auch redundant und ermüdend ist.
Mir hat gefallen, dass „Der Honorarkonsul“ mit spannender Handlung einen Winkel der der südamerikanischen Seele ausleuchtet, wenn auch Längen entstehen.

Veröffentlicht am 24.09.2019

Motte begegnet dem Leben und dem Tod

Blackbird
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Als die Generation X noch jung war und gar nicht ahnte, dass ihr die Generationen Y und Z im Nacken sitzen würden, stürzt sich Morten „Motte“ Schumacher ins Leben. Er weiß, was wirklich wichtig ist - Bonanza-Fahrräder ...

Als die Generation X noch jung war und gar nicht ahnte, dass ihr die Generationen Y und Z im Nacken sitzen würden, stürzt sich Morten „Motte“ Schumacher ins Leben. Er weiß, was wirklich wichtig ist - Bonanza-Fahrräder zum Beispiel -, lernt aber in der intensiven Phase als 16jähriger noch ein paar andere wichtige Dinge dazu: dass Mama und Papa sich trennen können etwa. Dass Mädchen rätselhaft sind, vor allem die, die man anbetet und die einem den ersten richtigen Liebeskummer verpassen. Dass das Leben womöglich doch nicht unendlich ist, wenn man sich das Krankenschicksal von Mottes bestem Freund Bogi ansieht.

Matthias Brandt versteht es gekonnt, mit dem Witz und Charme des pfiffigen Jungen die Coming-of-Age-Geschichte eines Durchschnittstypen zu erzählen, dem Dinge passieren, die auch völlig durchschnittlich wären - würden sie nicht das erste Mal passieren. Denn durch die Ich-Form des Erzählens hat man beim Lesen Anteil an den Das-erste-Mal-Erfahrungen Mottes, fast ein wenig, als würde man sie selbst noch einmal erleben. Das Hingebungsvolle Warten am Fähranleger, um die Angeschmachtete „zufällig“ anquatschen zu können oder das Zaudern des Hasenfußes von der Kante des Zehners herab sind eher stereotype als originelle Erlebnisse des Heranwachsens, werden aber bei Brandt so charmant und flott erzählt, dass es nicht auffällt. Es fällt auch kaum auf, dass Mottes analytisches Verständnis seiner Situation eigentlich zu reif und nicht altersgerecht ist, was vor allem am Slang liegt, den Motte spricht,

Bogis Krankheit ist ein nur punktuell aufblitzender Kontrast zum „normalen (Er)Leben“ Mottes. Denn Bogis Geschichte rückt bei der Lektüre ins Gegenüber, was eigentlich jemand verlöre, der nicht wie Motte 16 werden kann, weil er vorher dahingerafft wird. Die Leerstelle des „Was wäre wenn“ ist es ja, die am Tod junger Menschen besonders schmerzt, dass eine ganze Zukunft verloren geht, die es nicht mehr gibt. In „Blackbird“ ist es nicht nur eine Zukunft, die Bogi nicht mehr haben wird, sondern er hat schon keine Gegenwart mehr. Das wird erst zum Ende des Romans deutlicher, auch wenn Brandt die Szenen vorher schon bewusst gestaltet - das Fußballspiel der Freunde unter Bogis Krankenhausfenster etwa.

„Blackbird“ ist ein wunderbares Buch, das zu lesen Spaß macht, und absatzweise sogar als Jungbrunnen taugt, ohne durch zu Seichtes zu plätschern. Außerdem ist Motte ein dufter Typ.