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Veröffentlicht am 11.11.2019

Drachen lassen’s krachen

Das Imperium aus Asche
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„Das Imperium aus Asche“ bleibt, wenn Menschen und Drachen um die Vorherrschaft über die Welt kämpfen. Anthony Ryans Abschlussband feuert aus allen Rohren und lässt es richtig krachen. Ich hatte große ...

„Das Imperium aus Asche“ bleibt, wenn Menschen und Drachen um die Vorherrschaft über die Welt kämpfen. Anthony Ryans Abschlussband feuert aus allen Rohren und lässt es richtig krachen. Ich hatte große Sorge, dass er diese Trilogie mit seinem letzten Streich in der Art vergeigen würde, wie ihm die Trilogie „Das Lied des Blutes“ entglitten ist; übrigens auch in einer großen, welterschütternden Schlacht. Hier aber - so viel vorweg - ist ihm ein ordentlicher Abschluss geglückt, der trotzdem seine Schwächen hat.

Über drei Bände erstreckt sich der Plan des Weißen Drachen, sich mit den von ihm unterjochten Drachenvölkern zum Herrscher der Welt aufzuschwingen. Zunächst sind bei der Lektüre auf die Beobachtungen dreier Point-of-View-Charaktere angewiesen, die Zeugen der erwachenden Drachenrevolte sind. Die Agentin Lizanne, der Seeoffizier Hilmore und der findige Gesetzlose Clay decken die Geheimnisse nach und nach auf und lassen auch die Ordnung der Welt durch ihre Augen erstehen. Ryan hat diese Welt fein konstruiert und diese Konstruktion als einen der beiden Handlungsmotoren der Trilogie fit gemacht: Zwei Großreiche streben nach der Vorherrschaft - ein feudaler Überwachungsstaat versus einen unmenschlichen Turbokapitalismus. Dieser Motor funktioniert mit dem Treibstoff der menschlichen Schwächen Gier, Machtlust, Heimtücke und Verrat. In den Kapiteln, in denen der Drache nicht das Sagen hat, bestimmen diese allzumenschlichen Triebe die Handlung und führen zum Zusammenbruch der Systeme. Das ist auch deshalb so charmant zu lesen, weil Ryan damit ein Wesensmerkmal guter Literatur gelingt, nämlich das Menschliche im anderen Kontext - hier der Fantasywelt - deutlicher werden zu lassen. Kapitalismuskritik an den Machthabern auf Drachisch lautet so: „Sie sind die wahre Monster. In ihrer Gier haben sie einen ganzen Kontinent zuschanden gerichtet […].“ (S. 54)

Der andere Motor der Geschichte ist der weiße Drache und sein bedingungsloses Streben nach Herrschaft. Im ersten Band schienen sich die Drachen nur zu wehren, immerhin ist ihr Blut der Stoff, mit dem die Steampunkwelt der Trilogie angetrieben wird, katalysiert und in Kraft verwandelt durch die „Blutgesegneten“. Im zweiten Band enthüllte der Weiße seine Pläne und unterjochte die Menschen nicht allein durch Drachenzähne, sondern vor allem dadurch, dass er sei in seelenlose Zomies verwandelt. Mittels eines Kristalls verwandelte er ihr Äußeres ins Echsische der „Verderbten“, ihr Inneres in einen borg-artigen Ameisenzustand, in dem alle von allen alles wissen und von Einzelnen - nicht zuletzt dem Weißen selbst - willenlos kommandiert werden können. Einblick in diesen Kollektivalptraum gewährt der vierte Point-of-View-Charakter Siron, der nicht irgendein „Verderbter“ ist, sondern zum taktischen Generalstab der Drachen gehört. Spätestens hier zerbrach die Vorstellung einer Allegorie der sich wehrenden ausgebeuteten Natur, die es Leid ist, zur Ressource der technisierten Welt degradiert zu werden. Es ist schade, dass Ryan diesem Motor eine Vorgeschichte gegeben hat, die sich vollständig im dritten Band als banal enthüllt. Nichtsdestotrotz funktioniert der Motor der Geschichte, indem der Turbo eingeschaltet wird und die Drachen in die Schlacht ziehen.

Wirkte zunächst der Drachenplot komplexer, ist es am Ende doch die menschliche Welt mit ihren widerstreitenden Interessen, die im Abschlussband noch eine komplexere Erzählung gewährleistet.

Die Stärke der Trilogie und erst recht des dritten Bandes liegt in der rasanten Erzählung, der actioneichen Handlung und den farbeneichen Schilderungen der Szenen. Auch die Grundkonstruktion der Trilogie ist brillant erdacht.

Die Schwäche liegt ebendort: in der Geschwindigkeit der Erzählung. Gerade der Abschlussband verzeichnet weitestgehend auf Figurenzeichnungen zugunsten handlungsgetriebener Action. Ganz in Blockbustermanier werden die einmal eingeführten Helden der Geschichte nicht weiterentwickelt, sondern verharren gleichsam auf ihren Gefechtspositionen. Hatte man mehr erwartet, schleicht sich leichte Enttäuschung ob der vertanen literarischen Chancen ein. Die Perspektive verschiebt sich vom Kampf „Mann gegen Drache“ auf die Schlacht „riesige Menschenheere gegen wahnwitzige Drachenscharen und Zombieheere“. Dass hierbei auch die Waffen immer mehr Distanz gewinnen - bis hin zum Bombenabwurf - entzieht dem Kampf die direkte Attraktivität und abstrahiert zum mechanisierten Töten. Die Zentren der Erzählung ballen sich um Lizanne aufseiten des Widerstandes und um Siron aufseiten des Drachenheeres und sind spannend. Clays und Hilmores Mission verfolgt die heikle Aufgabe, zum Kern der Geheimnisse vorzustoßen (ist das am Ende nur eine Waffe?).

„Das Imperium aus Asche“ ist meines Erachtens ohne die Vorgängerbände unverständlich, die auch deshalb unbedingt vorher gelesen werden müssen, weil Ryan darauf verzichtet, eingeführte Figuren weiterzuzeichnen, wenn sie ihren Platz gefunden haben.

Unter dem Strich ist die „Memoria Draconis“ eine gelungene, actionreiche Trilogie mit großem Potenzial und hohem Popcornkoeffizienten.

3,5 von 5 verbrannten Drachenschuppen.

Veröffentlicht am 22.10.2019

Ein Loch ist nicht immer „ein Nichts mit was drumrum“

Das flüssige Land
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Ein Merkmal der Bewohner von Groß-Einland ist, dass „der Mensch als zu einer Landschaft gehöriges Wesen verstanden“ werden muss (S. 91). Deshalb passen die Groß-Einländer perfekt zu ihrer Heimat, denn ...

Ein Merkmal der Bewohner von Groß-Einland ist, dass „der Mensch als zu einer Landschaft gehöriges Wesen verstanden“ werden muss (S. 91). Deshalb passen die Groß-Einländer perfekt zu ihrer Heimat, denn so wie seine Bewohner einen dunklen Fleck auf Seele und Gewissen haben, hat der Ort einen dunklen Fleck unter sich, ein poröses Fundament, ein allegorisches „Loch“. Stets vom Einsturz bedroht, entstand der Ort nach den Zerstörungen des Krieges dennoch aus den Trümmern an derselben Stelle als Kopie seiner selbst, als hätten die Groß-Einländern nichts gelernt. Sie arrangierten sich mit dem Loch, unterwarfen sich dem Großkapital, das die Gesellschaft schließlich unter ein pseudofeudales Joch beugte, regiert von „der Gäfin“, und lernte: „Was man in das Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte.“ (S. 315).

Diese Zusammenhänge decken sich in einer sich girlandenartig durch die Handlung windenden Suche nach den eigenen Wurzeln auf, auf die sich die Extrem-Physikerin Ruth Schwarz begeben hat: Ihre jüngst verunglückten Eltern stammten aus Groß-Einland und waren ebenfalls dessen dunkler Geschichte auf der Spur. Ruth Schwarz ist nicht zufällig eine Physikerin, die sich mit Zeitphänomenen befasst, denn Autorin Raphaela Edelbauer geht s ja darum, die Gleichzeitigkeit von vergangenen Taten und heutiger Schuld darzulegen; zu zeigen, dass verdrängte Schuld sich zusammenballt wie ein Schwarzes Loch, das mit seiner enormen Gravitation selbst die Zeit nicht mehr entrinnen lässt (S. 185). Dass es um Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus geht, erfährt man wörtlich erst auf S.145 - oder aus dem Klappentext … Viele Hinweise sind aber zuvor in die Lektüre gestreut, nicht zuletzt der Name Groß-Einland, denn zur Zeit der fraglichen Verbrechen war der Ort Teil Groß-Deutschlands. Wie Zeit sich streckt und windet, beugt und verschlingt, führt der Text selbst vor, der schnell springt, ganze Jahre in Sätzen überfliegt, sich aber auch zum Minutenprotokoll stauchen kann (S. 250 ff.).

Die Stärke des Romans liegt in den durchdachten Details, der kräftigen Sprache (die Autorin hat „Sprachkunst“ studiert; manchmal – aber selten – wirkt ein Satz allerdings auch wie aus einem sprachkünstlichen Seminar), und im Gesamtarrangement, in dem vom Maskenhändler bis zum Fundamentenbröseln, vom Zeitdehnen und -stauchen bis zur naiv-genialen Hauptfigur Ruth alles passt.

Gleichzeitig entströmt dieser Stärke auch die Schwäche: Der Tonfall dröhnt ständig mit doppelter Bedeutung, bei der man sich fragt, auf welche Metaebene man noch durch das „Loch“ stürzen könnte - um dann am Ende bei eigentlich nur einer Doppelbödigkeit zu landen (ja: Ich hatte den Klappentext nicht gelesen). Das ist mir oft zu gewollt, zu parabelartig, bisweilen ermüdend redundant.

Dennoch: „Das flüssige Land“ mahnt poetisch die gesellschaftliche wie private Erinnerungskultur, dass Verdrängen nur Abgründe schafft, weil unsere Welt jederzeit nicht nur aus Gegenwart besteht.

Veröffentlicht am 22.10.2019

Herkunft als Abenteuer

HERKUNFT
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Der neue Roman von Saša Stanišić ist eine sympathische Collage aus Geschichten um seine Geburtsstadt Višegrad, die Flucht seiner Eltern, das Ankommen in Deutschland und Heidelberg und immer wieder die ...

Der neue Roman von Saša Stanišić ist eine sympathische Collage aus Geschichten um seine Geburtsstadt Višegrad, die Flucht seiner Eltern, das Ankommen in Deutschland und Heidelberg und immer wieder die Konfrontation mit den Fragen an seine Großmutter im Herkunftsland und den Altersgenossen im Ankunftsland.

Sein poetologisches Programm ist Erzählen, um zu erzählen: „Diese Geschichte beginnt mit dem Befeuern der Welt durch das Addieren von Geschichten.“ Das führt zu einer fast märchenhaften Fülle an Geschichten, die sich nicht nur übereinander stapeln, sondern auch verbreitern, denn „[o]hne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.“ (S. 37) Stanišić stellt sich der Frage, was Herkunft sei, also, indem er um sie herumkreist und sich ihr mal nähert, mal von ihr entfernt. Das ist oft witzig, aber auch oft ermüdend. Die Gleichförmigkeit der aufeinandergestapelten Geschichten ermüdet, auch wenn sich der Blick durch die sich teilweise kongruent abdeckenden, teilweise überlappenden oder freilassenden „Geschichtenschichten“ lohnt, weil sich am Ende verdichtet: Herkunft ist die Summe der Geschichten, die von der eigenen Familie (und hier vor allem von den Großmüttern als Übermüttern schlechthin) weitergegeben werden - zum Teil als Sage, zum Teil als Erlebtes, zum Teil als „Abenteuer“.

Dass Herkunft und Identität auch immer Abenteuer sind, erst recht wenn man aus einem Bürgerkrieg in die Fremde gezogen ist, ist dem Autor wichtig. So wichtig, dass er das Ende seiner Geschichtensammlung als Soloabenteuer im Stile der D&D- oder DSA-Abenteuerbücher gestaltet.

Manche der Geschichten wirken, als wären sie bereits für den mündlichen Vortrag konzipiert, und für mein Empfinden werden die auf das Poetry-Slam-Format zur Pointe gebürsteten Episoden dadurch geschwächt.

Unter dem Strich lispelt mir Hape Kerkeling mit Marcel Reich-Ranickis Stimme ins Ohr: „Ist das überhaupt ein Roman?“ Ich glaube nein. Aber es ist als Näherungswerk zur Herkunft ein sympathisches und lesbares Stück Literatur.

Veröffentlicht am 24.09.2019

Der unbekannte Vater einer ganzen Generation

Im Frühling sterben
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Rothmann erzählt die Geschichte zweier junger Männer – Fiete und Walter –, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges noch in die Waffen-SS gezwungen und an die Front in Ungarn geschickt werden. ...

Rothmann erzählt die Geschichte zweier junger Männer – Fiete und Walter –, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges noch in die Waffen-SS gezwungen und an die Front in Ungarn geschickt werden. Rothmann versteht es, in diesem kurzen Roman die Coming-of-Age-Geschichte Walters zu erzählen und dabei gleichzeitig tiefe Freundschaft, große Liebe und Nachdenken über den Tod im Angesicht des Granatenhagels zu den Themen von Walters Generation zu machen. Walter will überleben und Fiete einfach nur raus. Der eine ist pragmatisch und kommt aus dem Krieg, um nicht gerade das Leben eines Siegers zu führen, der andere zu freigeistig, um sich zu beugen.

Mir hat vor allem gefallen, wie es „Im Frühling sterben“ schafft, eine Geschichte zu erzählen, die gleichzeitig so gewöhnlich wirkt, wie sie außergewöhnlich ist, so dass sie auch als Geschichte einer ganzen Altersgruppe funktioniert, nämlich jener Flakhelfergeneration, von der die Bundesrepublik nach dem Krieg so geprägt wurde. Es erscheint folgerichtig, dass in der Rahmenhandlung Walters Sohn zum Erzähler wird und die ahnungslose Fragehaltung der Nachgeborenen einnimmt, die ratlos vor der Kriegserfahrung der Väter stehen.

Überdies ist der Roman ganz unaufgeregt und nachdenklich geschrieben und hätte auch das Etikett Liebesgeschichte verdient.

Eine echte Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 24.09.2019

„Hier ist alles machismo“ (S. 114)

Der Honorarkonsul
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„Der Honorarkonsul“ von Graham Greene kann mit dem „Dritten Mann“ nicht mithalten, beweist aber, warum Greene zu den großen gesellschaftskritischen Erzählern des 20. Jahrhunderts gehörte. Er packte in ...

„Der Honorarkonsul“ von Graham Greene kann mit dem „Dritten Mann“ nicht mithalten, beweist aber, warum Greene zu den großen gesellschaftskritischen Erzählern des 20. Jahrhunderts gehörte. Er packte in seinen Romanen heiße politische Themen seiner Zeit an und verwandelte sie in – zum Teil sogar spannende – Literatur. Vielleicht ist John le Carré sein legitimer Nachfolger.

Charly Fortnum ist der englische Honorarkonsul in irgendeiner argentinischen Stadt an der Grenze zu Paraguay – ein für das Foreign Office Ihrer Majestät der Queen völlig unbedeutendes Lichtlein du überdies menschlich ein „jämmerlicher Niemand“ (S. 180). Dieser bedauernswerte Säufer wird von paraguayischen Partisanen aus Versehen statt des amerikanischen Botschafters entführt und soll nun als Geisel dennoch erpresserischen Ertrag bringen. Der Roman lässt keinen Zweifel aufkommen, wie aussichtsreich dieses Unterfangen sein würde. In der gleichen Stadt wohnt auch Dr. Eduarde Plarr, Frucht aus englisch-paraguayischer Ehe, Gelegenheits-Gigolo für die Damen der Provinz und sowohl verwandtschaftlich als auch freundschaftlich mit den Partisanen und Gegnern des paraguayischen Diktators Alfredo Stroessner verbunden.

Der Roman folgt den Handlungen dieser beiden Männer, die verbunden sind durch eine Frau, nämlich Fortnums Ehefrau Clara. Ex-Hure, Plarrs Geliebte und Zeugin des südamerikanischen „machismo“, dessen unseligen Handlungsanweisungen, Haltungen und Fehlverhalten des männlichen Teils der südamerikanischen Bevölkerung der Handlung das Dramatische geben.

Aufgaben? Erst denken, dann handeln? Ehrenvoller Rückzug? Gute Ratschläge von Alten, Schwachen oder gar Frauen? Das alles gibt es nicht mit dem Männlichkeitsideal, das auf dem gesamten Kontinent bereits mit der Muttermilch verabreicht wird. „Hier ist machismo gleichbedeutend mit Leben. (…) Ohne machismo ist ein Mann tot.“ (S. 114).

Greene entwickelt und verwickelt seinen Roman um diese Grundhaltung seines Personals sowie um die ambivalente Position Dr. Plarrs zwischen allen Fronten. Die Spannung entsteht, weil der machismo den Männern Dummheiten diktiert – erfunden wurde er wahrscheinlich von „einer Bande von Raufbolden wie Pizzaro oder Cortés“ (S. 291) – und weil Greene es versteht, Dr. Plarr und Fortnum vor widersprüchliche Handlungsoptionen zu stellen, an denen sie entweder scheitern oder wachsen können.

Das andere, den Kontinent prägende Thema ist die Glaubensfrage, also wie indigener Glaube, das barmherzige Christentum und die Amtskirche sich im Volk vereinigen lassen - oder nicht. Der gefallene Priester, der als Partisan nicht nur der Kirche,. sondern auch der Staatlichkeit abhanden gekommen ist, bringt die Problematik in den Roman, die zwar wichtig, aber auch redundant und ermüdend ist.
Mir hat gefallen, dass „Der Honorarkonsul“ mit spannender Handlung einen Winkel der der südamerikanischen Seele ausleuchtet, wenn auch Längen entstehen.