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Veröffentlicht am 07.06.2019

„Mars regiert die Welt“ (S. 47)

Ben Hur
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Wer „Ben Hur“ hört, denkt „Wagenrennen“ - umso erstaunlicher, dass das Wagenrennen auf den 356 Seiten meiner 1924 bei Neufeld & Henius in Berlin erschienenen Ausgabe keine 15 Seiten ausmacht. Plus Vorbereitung ...

Wer „Ben Hur“ hört, denkt „Wagenrennen“ - umso erstaunlicher, dass das Wagenrennen auf den 356 Seiten meiner 1924 bei Neufeld & Henius in Berlin erschienenen Ausgabe keine 15 Seiten ausmacht. Plus Vorbereitung und Training der Araberpferde Ben Hurs sind es kaum 30 Seiten. Wenn es nicht ums Wagenrennen geht, worum dann?

Lewis Wallace, Rechtsanwalt und General in den Vereinigten Staaten, ging es um die Christwerdung: Wie wird ein durch und durch edler Mensch, dem das Schicksal und die Menschen übel mitgespielt haben, zum Gläubigen, der von seinem Racheplan ablässt? Die Handlung des Romans spielt deshalb zur Zeit Christi - Ben Hur begegnet dem Heiland mehrfach und wird stark von ihm beindruckt, aber auch andere Figuren des Neuen Testamentes haben ihren Platz in der Handlung. Diese setzt ein mit der Begegnung der Heiligen Drei Könige in der Wüste auf der Suche nach dem eben geborenen „König der Juden“ und endet mit dessen Kreuzigung. Dazwischen spielt sich das Leben Judah Ben Hurs ab: Geboren in eine edle und reiche Familie, wird er von seinem Jugendfreund Messala verraten und für ein Verbrechen zur Galeere verdammt, das er nicht begangen hat. Seine Mutter und Schwester erleiden ebenfalls ein schweres Schicksal, und die Familie verliert ihr gesamtes Hab und Gut. Judah aber kann sich im Seekampf auszeichnen, wird von einem römischen Tribun adoptiert, gewinnt Ansehen und Vermögen und kehrt nach Antiochia zurück. Hier sinnt er auf Rache - an Messala und mit ihm an allen Römern. Im Laufe des Romans wächst der Hass auf die römischen Herrscher, der Freiheitskampf der der unterdrückten „israelitischen Nation“ gewinnt immer mehr Bedeutung. Es ist Christus selbst, der mit seiner Friedensbotschaft das Blatt wendet.

Kann man den Roman heute noch lesen?

Unbedingt ja, und ich frage mich warum. Der christliche Schwerpunkt der Handlung („A Tale of the Christ“ lautet der englische Untertitel) mag weniger gläubige Menschen abschrecken. Die Figurenzeichnung ist grob - gut ist gut und böse ist böse; lediglich Iras ist eine vielschichtige und starke Person. Die Handlung wartet mit einigen arg konstruierten Wendungen auf und mündet in ein rosarotes Happy End. Überdies ist die Sprache altertümlich und wirkt bisweilen angestaubt.

Aber vielleicht beginnt die Atmosphäre dieses Romans gerade bei der Sprache? Die Geschichte besitzt Strahlkraft und erzeugt eine dichte Stimmung, der man sich nicht entziehen kann. Die Komposition aus historischem Umfeld, aufbrechendem Konflikt und der rührenden Ernsthaftigkeit der Personen erschafft ein überzeugendes Bild.

Die Handlung weist erhebliche Parallelen zur Rachegeschichte des „Grafen von Monte Christo“ auf und birgt deshalb das Spannungspotenzial eines Abenteuerromans. Die Actionszenen - Galeerenkampf, Wagenrennen, Vorbereitung des Aufruhr - sind plastisch, spannend und exzellent gelungen - was umso mehr erstaunt, als „Ben Hur“ 1880 erschienen ist.

Also: Auch wenn Ben Hur oftmals zu hell strahlt und Messala ein chargierender und viel zu früh abgelegter Bösewicht sind, auch wenn „Hurs Sohn“ im Deutschen irgendwie unglücklich klingt und auch wenn die Greise alle weise und die Frauen alle lieblich sind, besitzt der Roman eine Kraft, die ihn auch heute noch lesenswert macht.

Veröffentlicht am 07.06.2019

hart, blutig und politisch unkorrekt

Wilder Winter
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Die 60er sind vorbei - und damit kommen einige nicht so gut klar. Hap Collins und Leonard Pine beispielsweise, die hartgesottenen Underdogs, die einander so gegensätzlich sind (außer dem Humor), dass sie ...

Die 60er sind vorbei - und damit kommen einige nicht so gut klar. Hap Collins und Leonard Pine beispielsweise, die hartgesottenen Underdogs, die einander so gegensätzlich sind (außer dem Humor), dass sie sich verstehen wie zweieiige Zwillinge. Aber auch Haps Exfrau Trudy will die Welt wieder verbessern, wie sie früher einmal war, ihr neuer Lover Howard auch und der dickliche Chub sowieso. Paco mit dem verbrannten Gesicht hat es auf seine Weise mal versucht und alles viel schlimmer gemacht, vor allem für sich selbst. Trudy bringt die Truppe zusammen, um versenktes Geld aus einem texanischen Creek im Nirgendwo zu haben. Und wo abgeranzte Typen, Ex-Knackis, Bombenbauer und eine bindungsscheue Wuchtbrumme eine Sache unternehmen, kann man sicher gehen, dass si schief geht und sich die Beteiligten anschließend die Schädel einschlagen.

Joe R. Lansdale ist bekannt für seine harten Texas-Krimis, in denen er sich den Abgehängten, den Unterprivilegierten und den Desillusionierten annimmt und seine Leser daran teilnehmen lässt, was menschliche Schwächen und Schlechtigkeiten für grausame Folgen haben können. Es sind die verstellten Horizonte der Hinterwäldler, die gemeine Kurzsichtigkeit der Kleinkriminellen und die herzlose Grausamkeit der Selbstsüchtigen, die Lansdale vorführt - auch im „Wilden Winter“, in dem die verhinderten Weltverbesserer ihr Fett wegbekommen.

Der Roman ist der Auftakt der Reihe um die beiden großartig gelungenen Charakterköpfe Hap & Leonard, weshalb in der Vorstellung der beiden die eine oder andere erzählerische Schleife das Tempo verringert, das ansonsten sehr hoch ist. Die zweite Hälfte spult sich scheinbar von selbst ab wie die Filmrolle eines Actionwestern - brutal, kompromisslos und überraschend. Das Geld hätten die Schatzsucher mal lieber rechtzeitig für die Wale spenden sollen.

Wenn das hier die Pilotfolge ist, dann will ich den Rest der Serie sehen - hart, blutig und politisch unkorrekt, aber sauschnell und witzig.

Veröffentlicht am 02.06.2019

Großmütterliche Groteske

Der Zopf meiner Großmutter
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Margarita Iwanowna hat es nicht leicht: Sie ist in einer deutschen Kleinstadt als russischer Kontingentsflüchtling gelandet, hat einen schweigsamen, fleißigen Mann und einen debilen, dem Tode nahen Enkelsohn, ...

Margarita Iwanowna hat es nicht leicht: Sie ist in einer deutschen Kleinstadt als russischer Kontingentsflüchtling gelandet, hat einen schweigsamen, fleißigen Mann und einen debilen, dem Tode nahen Enkelsohn, dessen schwacher Metabolismus jeden Augenblick den gefährlichen Keimen in Speiseeis, auf Kofferaußenseiten oder in Weihnachtskalenderschokolade erliegen könnte. Sie opfert sich lautstark, märtyrerhaft und unter Aufbringung aller russischen Raffinesse auf, um ihrem Enkel ein Überleben und ihrem Mann Tschingis ein menschenwürdiges Leben zu sichern.

Margarita sähe es vielleicht so. Aber der Roman ist aus er Sicht des Enkels Maxim erzählt, der sich auf 214 Seiten und über einige Jahre von der tyrannischen Umklammerung der Großmutter befreit und alles andere als debil, sondern sehr hellsichtig, die Affäre des Großvaters mit Nina kommen sieht, aus der ein Kind hervorgeht, das wie der Großvater Tschingis heißt und vom Tag seiner Geburt an der Onkel des Erzählers ist. Dieser skurrile Gedanke einer Patchworkfamilie wider Willen, die die Generationen durcheinanderwürfelt, ist beispielhaft für die ungewöhnlichen Einfälle der Autorin, für die im familiären Miteinander auftretenden Details des Mit- und Gegeneinanders.

Hauptfigur, ja: Fixstern des Romans ist die Großmutter, deren despotischer Irrsinn die Familie auf Trab hält und den Text mit grotesken Situationen, Sätzen und Überraschungen würzt. Margarita hat nicht nur einen Fimmel, sondern ausgewachsene Defekte, die sie an ihrem passiven Mann und dem anfänglich wehrlosen Enkel auslässt. Margarita ist zwar für den einen oder anderen Lacher gut, aber völlig ungeeignet, sich an ihr zu wärmen. Dass hinter ihrem Kontrollwahn eine tragische Geschichte steht, durchzieht den Text bis an sein Ende, versöhnt aber nicht mit der Übergriffigkeit der russischen Radauschwester.

Schnell ist klar: Es geht in dem Roman nicht um die Glaubwürdigkeit der Gesamtgeschichte oder ihrer Einzelteile, dafür sind die Elemente der Geschichte und die Personen zu stark überzeichnet. Vielmehr zeigt sich der Schmerz und die Liebe zum Kind im gegensätzlichen Verhalten der Großmutter, entwickelt sich ein Verständnis für die durchgebrannten Sicherungen der Alten zusammen mit der Emanzipation des erzählenden Enkels. Dann ist der Roman witzig, unterhaltsam und tragikomisch - und darin ein wortwitziger Genuss.

Gegen Margarita können die anderen Figuren nicht ankommen - und das ist schade. Nina Tochter Vera bleibt blass, Nina desgleichen, und die oft erwähnte Alterslosigkeit des Großvaters korrespondiert mit seiner nicht stattfindenden Entwicklung.

Noch problematischer empfand ich den Verlauf der Handlung, die gerade im ersten Drittel zugunsten der großmütterlichen Grotesken stark abnimmt und weniger durch Bewegung als durch Beschreibung in das Figurenleben einführt. Erst mit des kleinen Tschingis Geburt nimmt die Handlung wieder Fahrt auf, um sich zum Ende hin in ein abnormes Tempo zu steigern, bei dem man sich eigentlich gewünscht hätte, dass die Autorin sich mehr Zeit gelassen hätte.

Vor allem ist der Roman eine vergnügliche Lektüre mit einigen tiefen Einblicken in den Menschen hinter dem Wahnsinn.

Veröffentlicht am 02.06.2019

Alles hat ein Ende ...

Aller Tage Abend
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Viermal fragt Jenny Erpenbeck in diesem Roman: Was wäre wenn? Wenn die Protagonistin nicht gestorben wäre, sondern eines der vielen möglichen Leben gelebt hätte. In Intermezzi lässt Erpenbeck die Handlung ...

Viermal fragt Jenny Erpenbeck in diesem Roman: Was wäre wenn? Wenn die Protagonistin nicht gestorben wäre, sondern eines der vielen möglichen Leben gelebt hätte. In Intermezzi lässt Erpenbeck die Handlung sich einen anderen Abzweig wählen, auf dem es weitergeht durch die Jahre, durch die Generationen, durch das Schicksal. Dabei lesen wir kluge Gedanken, erleben starke Frauen in wechselvollen Zeiten – von der K.u.K.-Monarchie über das Dritte Reich, das Moskauer Exil bis in die Tage der realexistierenden DDR und die Nachwendezeit. Das Schicksal der Familie ist auch ein ostjüdisches, vor allem aber ein menschliches.

Die Sprache des Roman ist bisweilen frisch und leicht, bisweilen phantasievoll und überraschend, leider häufig redundant und meistens zu nüchtern.

Je länger der Text währt, desto öfter fragt man sich unwillkürlich, ob das Was-wäre-wenn nicht eigentlich banal ist. Ob nicht der gewählte Abzweig ein beliebiger wäre – oder eben just der, den die Autorin brauchte und deshalb erfand, manchmal arg gekünstelt. Und schließlich scheint der Roman in seinen Titel zu münden: Irgendwann ist schließlich immer „Aller Tage Abend“, egal welchen Abzweig das Leben genommen hat. Welche Bedeutung hat es dann?

Wenn das Unausweichliche unausweichlich ist, was teilen die vielen Möglichkeiten, die unzähligen Potenzial denkbaren parallelen Leben dann mit?

Der Roman scheint auf vier nicht gerade erbaulichen Umwegen diese Frage zu stellen, ohne eine Antwort anzudeuten.

Veröffentlicht am 17.05.2019

Sie hat es immer gemocht, Hunger zu haben

All das zu verlieren
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Adèle ist eine moderne Frau – sie ist unabhängig, berufstätig, Mutter und Gattin. Modern ist sie aber auch darin, egoistisch zu sein, ihren Bedürfnissen zu folgen, ja: ihrer Gier nachzugeben. Statt sich ...

Adèle ist eine moderne Frau – sie ist unabhängig, berufstätig, Mutter und Gattin. Modern ist sie aber auch darin, egoistisch zu sein, ihren Bedürfnissen zu folgen, ja: ihrer Gier nachzugeben. Statt sich in einem Leben einzurichten, wie die Konventionen es vorsehen und wie sie es sich eigentlich gewünscht hat, folgt sie ihrem krankhaften Sextrieb, ihrer Sexsucht und hat Affären und sexuelle Beziehungen zu Männern, wobei sie nicht einmal besonders wählerisch ist. Sie braucht sowohl die körperliche Sättigung als auch die Anerkennung als begehrenswertes Objekt der Begierde. Dieses Lebenselixier schlürft sie im Übermaß – kein Wunder dass irgendwann das Doppelleben, das sie lebt, auffliegt und in einer Krise endet: Ihr Mann kommt dahinter, dass Adèle ihn nicht nur hintergeht, sondern viel schlimmer: den Sohn vernachlässigt.

Leila Slimani gewährt im ersten Teil des Romans eine Innensicht in Adèles von der Sucht gezeichnetes Leben. Diese Sucht begann schon in frühen Jahren, keineswegs erst als Auswuchs einer Wohlstandsverwahrlosung oder einer aus der Langweile der Ehe mit dem Arzt Richard geborene Flucht: „Sie hat es immer gemocht, Hunger zu haben.“ (S.72) Die Deformation von Adèles Charakter mag krankhaft sein, sie hat aber auch etwas Über-Individuelles, weil sich in der – nicht gerade sympathischen – Mythomanin auch die Ich-Bezogenheit einer ganzen Gesellschaft spiegelt. Der Wahn, den eigenen Spaß zu optimieren, Bindungen und Verpflichtungen zu vernachlässigen und die Bedeutung von Äußerlichkeiten zu übertreiben. Ihr Kind beispielsweise als ultimative, verpflichtende Fremdbestimmung ist einerseits Bezugspunkt einer überkommenen Lebensvorstellung als Mutter, anderseits emotionale Mitte Adèles, andererseits einfach nur „lästig“ (S.36).
Im zweiten Teil nimmt der Roman Richards Perspektive ein: Er hat die Familie aufs Land verfrachtet, Adèle zu Änderungen verpflichtet und sie in einem konformistischen leben regelrecht eingesperrt.

Nicht zufällig heißt Richard „Robinson“ mit Nachnamen – immerhin ein absolut ungewöhnlicher französischer Name und deshalb bedeutsam. Richard zwingt Adèle zu einer Robinsonade, einem einsamen Inseldasein auf dem Land ohne Kontakt zu Adèles vorherigem leben. Gleichzeitig war Adèle selbst vorher selbst schon nichts anderes als eine Insel – eine Existenz ohne feste Verbindungen nach außen, allein treibend im Meer des Unverbindlichen. Der deutsche Titel „All das zu verlieren“ regt zu recht die Frage an: Was gibt es denn in diesem Leben zu verlieren? Den ungezügelten Hedonismus? Die Selbstbestimmtheit der Frau? Die Dominanz der Frau in einer üblicherweise Männern zugeschriebenen sexuellen Hierarchie? Die bürgerliche Fassade? Die Familie?

Vielleicht ist Adèles Sucht auch nichts anderes als eine Krankheit, die aus den Zwängen und Normierungen entstanden ist, der eine Frau in dieser Welt von heuet ausgesetzt ist. Die konformistische Tradition erzeugt erst die Deformation Adèles – in die sie dann auf dem Lande regelrecht zurückgezwungen wird, in den „Garten des Ogers“ (so der französische Originaltitel: „Dans le jardin de l’ogre“). Vielleicht aber ist der Unhold ("l'ogre"), der Adèle in seinen Fängen hält, auch die Sucht.

Slimani erschafft eine verstörende, nicht sympathische, aber faszinierend dominante Frauenfigur, die durch einen in zwei Teile zerfallenden Roman prescht – erst in den Abgrund der Sucht, dann in das Zeitlupenleben Richards. Sex und Gewalt werden nicht geschönt, die Lektüre ist unmittelbar und hart. Der Roman wirkt nicht besonders literarisch, aber vollkommen authentisch. Ein starkes Buch, das nicht vorbei ist, wenn es ausgelesen wurde.