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Veröffentlicht am 18.03.2018

Weimarer Criminalisten

Die Affäre Carambol (Goethe und Schiller ermitteln)
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Wieder einmal müssen die zwei Heroen der deutschen Klassik die Arbeit an ihren dramatischen Werken unterbrechen um „criminalistisch“ zu ermitteln. Beide befinden sich in Frankfurt, um Mutter Goethe einen ...

Wieder einmal müssen die zwei Heroen der deutschen Klassik die Arbeit an ihren dramatischen Werken unterbrechen um „criminalistisch“ zu ermitteln. Beide befinden sich in Frankfurt, um Mutter Goethe einen Besuch abzustatten, als sie vom Fürsten und vom Stadtrat um Hilfe gebeten werden. Seit einiger Zeit gibt es seltsame Vorfälle in der Stadt, die auch schon Todesopfer forderte. Man fürchtet sich vor Repressalien durch die napoleonischen Besatzer, sollte etwas davon nach draußen dringen.


Von den Geschehnissen erfahren wir durch die Notizen Schillers, der wie weiland Dr. Watson als Mitstreiter dem Genie zu Seite steht und der sich nicht wenig ärgert, wenn er die zweite Geige spielen muss. Immer wieder witzig, wenn die Eifersüchteleien in spitzen Wortgefechten enden und sie Schiller dann dem Leser weitergibt. Denn Schiller wendet sich als Chronist ganz bewusst an einen späteren Leser und vermittelt dadurch das Gefühl ganz persönlich angesprochen und dabei zu sein.


Der Autor nutzt als Stilmittel eine etwas altertümelnde Sprache, die ich mit großen Vergnügen gelesen habe. Dazu auch immer wieder eine gewollt historische Rechtschreibung, die aber nicht konsequent beibehalten wird. Das wäre dem heutigen Leser auch wohl zu mühsam. So aber gibt das diesem Buch eine ganz besondere Atmosphäre mit. Der Krimi ist dann auch weniger ein klassisch aufgebauter Kriminalfall, eher eine Politintrige, die die beiden Dichter auch mehr zufällig lösen.


Etwas ganz Besonderes ist die Aufmachung, gebunden in feines, seidig glänzendes Papier mit goldgeprägten Scherenschnitten und Frakturschrift wirkt es edel und klassisch. Auch bei der Nennung des Verlags freut man sich. Bei der G. J. Cottaschen Buchhandlung sind schon damals Goethes und Schillers Werke erschienen.

Veröffentlicht am 18.03.2018

Eine Frau mit Charakter

Margaret Stonborough-Wittgenstein
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Margaret war eine Tochter des österreichischen Industriemagnaten Karl Wittgenstein. Zu ihren Geschwistern gehören auch der berühmte Philosoph Ludwig Wittgenstein und der Pianist Paul Wittgenstein. Der ...

Margaret war eine Tochter des österreichischen Industriemagnaten Karl Wittgenstein. Zu ihren Geschwistern gehören auch der berühmte Philosoph Ludwig Wittgenstein und der Pianist Paul Wittgenstein. Der Vater zog sich schon früh aus dem aktiven Wirtschaftsleben zurück und war fortan als Mäzen der bildenden Kunst und der Musik engagiert.
Gretl wächst in großbürgerlichem Luxus in Wien auf, elterliche Liebe oder Nähe war für die Geschwister ein eher seltenes Gut. Erzogen wurden sie hauptsächlich von Kindermädchen und Hauslehrern. Gretl war ein wissbegieriges Mädchen, das sich gut zu behaupten wusste. Musik und Kunst prägten sie schon sehr früh. Als sie dem Amerikaner Jerome Stonborough begegnet, imponierte ihr vor allem, dass er der erste Verehrer war, der ihr auf Augenhöhe begegnet. Ihre Leidenschaft für Naturwissenschaften nicht spöttisch abtut. Sie wird seine Frau, aber die Ehe bleibt distanziert. Als junge Ehefrau zieht Margaret mit ihrem unsteten Mann durch die Metropolen Europas, sie richtet nun ihre Energien auf die Ausstattungen der wechselnden Wohnungen.


Margaret lebte in einer unruhigen Zeit, der Erste Weltkrieg fordert seinen Tribut, ein Bruder stirbt. Die Weltwirtschaftskrise geht nicht spurlos am immensen Vermögen vorüber und Wien gerät immer mehr in den Bann der Nazis. Auch wenn es die Wittgensteins nie so gesehen haben und längst anderen Konfessionen angehören, einen Arierausweis erhalten sie nicht, den jüdischer Großvater konnten sie weder mit Geld noch mit Verbindungen aus dem Stammbaum löschen.


Margaret Stonborough-Wittgenstein lebte ein pralles Leben voller Höhen und Tiefen und geschichtlicher Umwälzungen. Sie war eine starke Frau von vielen Talenten, die von der ausgezeichneten Biografin Margret Greiner ins Blickfeld gerückt wurde. Ihre Biografie liest sich spannend wie ein Roman und lässt den Leser an dieser Lebens- und Familiengeschichte teilhaben. Dieses Buch lässt auch eine untergegangene Welt auferstehen, die Nazizeit und Kriege vernichtet haben. Viele Briefauszüge, Tagebucheinträge und Privatfotos dokumentieren diese Zeit. Auch wenn sich die die Biografie auf Margaret Stonborough-Wittgenstein konzentriert, erfährt der Leser auch vieles über die Geschwister und deren Entwicklung, vor allem in der Interaktion mit ihr.


Wäre Margaret später geboren – wie hätte sie ihre Talente und Begabungen nutzen können! So setzt sie ihr Organisationstalent für wohltätige Zwecke ein, mischt sich in die Leben ihrer Geschwister, wo sie oft rücksichtslos erscheinend, Verbindungen fördert oder entzweit. Ihre eigene Ehe ist nur noch eine formale Verbindung, das Ehepaar lebt schon lange getrennt, pflegt einen höflich-freundlichen Umgangston. Zwei Söhne stammen aus der Ehe, denen sie eine liebevolle, aber auch bestimmende Mutter ist.


Margret Greiner, deren Biografien ich überaus schätze, ist es wieder gelungen, einen Charakter lebendig werden zu lassen und zugleich ein Zeit-und Gesellschaftsbild zu malen. Wobei dieser Vergleich sehr gut passt, denn das Cover ziert ein Portrait der Margaret von Gustav Klimt, das sie als junge Braut zeigt. Deutlich wird in diesen Gesichtszügen die Offenheit und Neugier auf das Leben, gepaart mit Charakter und Selbstbewusstsein.

Veröffentlicht am 14.03.2018

Neuanfang

Im Angesicht der Wahrheit
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Nach einer traumatischen Erfahrung – sie wurde nach dem Schulabschlussball von mehreren Mitschülern vergewaltigt – hat Estelle ihre Heimat Argelès-sur-mer verlassen und in Deutschland ein neues Leben begonnen. ...

Nach einer traumatischen Erfahrung – sie wurde nach dem Schulabschlussball von mehreren Mitschülern vergewaltigt – hat Estelle ihre Heimat Argelès-sur-mer verlassen und in Deutschland ein neues Leben begonnen. Die Erbschaft ihrer Großmutter bringt sie zurück nach Südfrankreich. Sie will die alte Auberge, die ihr nun gehört, aufmöbeln und einen Neuanfang machen. Aber trotzdem will sie wissen, was aus ihren Peinigern geworden ist und beauftragt einen Privatdetektiv mit Nachforschungen.
Während sie das Hotel renoviert, mit tatkräftiger Hilfe eines überaus attraktiven Nachbars, der leider verheiratet ist, wie es den Anschein hat, kommt es zu den ersten Begegnungen mit ihrer Familie. Die verlaufen allerdings nicht sehr harmonisch und auch die erste Begegnung mit einem Täter von damals bringt Estelle in Wallung. Sie streitet lautstark und wirft ihn aus ihrem Haus.
Als er am nächsten Tag erstochen in seiner Wohnung aufgefunden wird, hat er ein Datum in die Stirn geritzt, das Datum, das Estelle nur allzu vertraut ist. Da es auch Zeugen für ihren Streit mit dem Mann gibt, gerät sie unter Tatverdacht.
Das Buch ist wirklich flott geschrieben und richtige Urlaubslektüre. Dafür sorgen schon die schönen Landschaftsbeschreibungen und das Hotel, in dem man am liebsten gleichen Urlaub machen möchte.
Estelle als Hauptfigur ist sympathisch, mir hat gefallen, wie tatkräftig sie sich ihrem Hotel widmet und ihre Vergangenheit aufarbeitet. Dabei hilft ihr das Tagebuch ihrer Großmutter, damit bekommt der Roman auch noch einen Erzählstrang in die Vergangenheit. Ich habe einen Krimi, einen Familienroman und eine Liebesgeschichte gelesen. Alle drei Themen fließen ineinander und ergänzen sich zu einer wirklich unterhaltsam-fesselnden Geschichte, wobei das Krimimotiv für meinen Geschmack etwas zu kurz gekommen ist.

Veröffentlicht am 13.03.2018

Ausgezeichnet

Leinsee
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Karl ist der Sohn des legendären Künstlerehepaars Stiegenhauer. Er selbst tritt schon seit seiner Schulzeit unter dem Pseudonym Karl Sand auf. Das war nicht selbst gewählt, die Eltern bestimmten es bei ...

Karl ist der Sohn des legendären Künstlerehepaars Stiegenhauer. Er selbst tritt schon seit seiner Schulzeit unter dem Pseudonym Karl Sand auf. Das war nicht selbst gewählt, die Eltern bestimmten es bei seinem Eintritt ins Internat so. Karls Eltern waren sich selbst genug, ihre innige Zweisamkeit, verbunden mit der künstlerischen Symbiose, ließ kein Platz für ein Kind. Selbst in den Ferien war er eher ein unliebsamer Gast, der die Abläufe störte. So wandte sich Karl nach dem Internat auch völlig von den Eltern ab. Erst die Nachricht einer schweren, lebensbedrohlichen Krankheit seiner Mutter und der dadurch ausgelöste Suizid des Vaters führen ihn zurück nach Leinsee. Zurück im Elternhaus wird er nun mit einem Teil seines Lebens konfrontiert, den er weit von sich geschoben, aber doch nie abgeschlossen hat. Seine Mutter erkennt ihn nicht mehr, im Gegenteil, sie hält ihn für ihren geliebten Mann und Karl spielt – anfangs zögernd – das Spiel mit.


Die für ihn völlig fremde Welt und die Situation wirft Karl völlig aus der Bahn. Er selbst hat sich inzwischen auch als Künstler einen Namen gemacht und seine Lebensgefährtin und Beraterin drängen auf eine baldige Rückkehr in die Hauptstadt. Doch Karl kann sich nicht lösen, da ist zum einem seine Mutter, die ihn zwar nicht mehr erkennt, der er aber zum ersten Mal richtig nahe ist und da ist Tanja, ein kleines Mädchen aus dem Ort, das ihm völlig unbekümmert begegnet und mit ihrer Alltagswelt erdet.


Das Kind Tanja ist meines Erachtens die wichtigste Person in diesem Roman. Sie taucht auf und verschwindet, es findet kaum eine verbale Kommunikation statt, sie tauschen sich über kleine Schätze wie Gürtelschnallen, Vogelfedern und ähnliche Fundstücke aus. Die Atmosphäre zwischen diesen beiden Personen ist seltsam und geheimnisvoll, für Außenstehende sicher auch befremdend. Nur die Mutter Stiegenhauer in ihren eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten durch den Hirntumor, findet einen unkomplizierten Zugang zu Tanja. Es scheint, dass das Mädchen eine Saite in Karl zum Klingen bringt.


Leinsee ist ein ganz besonderer Roman, ein Künstlerroman, ein Buch über eine fast gescheiterte Existenz, eine tragische Familiengeschichte und nicht zuletzt eine sensible und zarte Liebesgeschichte. Eigentlich entzieht sich das Buch jeder Einordnung. Die Autorin findet einen leichten, schwebenden Stil, der vieles nur andeutet und zwischen den Zeilen lesen lässt. Aber immer wieder durchbricht eine heitere, lustig geschilderte Szene den Ablauf, lässt manche Figuren – ich denke da an den Sekretär Torben – durch Überzeichnung bewusst zum komischen Kontrapunkt werden.
Etwas ganz Besonderes sind die Kapitelüberschriften, die ganz besondere Farben benennen: Kanarienvogelgelb, Gottweiß, Regentageblau und viele mehr, die immer genau die Stimmung des Kapitels treffen.


Leinsee ist ein Debütroman und ich bin beeindruckt, wie reif und stilsicher der Text ist.
Der Diogenes Verlag beweist immer wieder, dass er ein Händchen für junge, bemerkenswerte Talente hat. Ich hoffe, es gibt mehr von Anne Reinecke zu lesen.

Veröffentlicht am 12.03.2018

Erschütternd

Der Reisende
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Otto Silbermann ist Jude, ein geachteter Geschäftsmann, der jäh erkennen muss, dass er ein Rechtloser, ein Ausgestoßener ist. Lange wollte er es nicht wahrhaben, seinem Sohn gelang noch die Ausreise nach ...

Otto Silbermann ist Jude, ein geachteter Geschäftsmann, der jäh erkennen muss, dass er ein Rechtloser, ein Ausgestoßener ist. Lange wollte er es nicht wahrhaben, seinem Sohn gelang noch die Ausreise nach Frankreich. Er zögerte – zu lange! Wer früher ein honoriger Geschäftspartner war, zeigt nun sein wahres Gesicht. Für lächerliche Summen kaufen sie ihm sein Geschäft ab und verhöhnen ihn dabei noch. Eine Woche lang reist Silbermann mit dem Zug durch Deutschland, immer auf der Flucht, er weiß nicht wohin, seine Wohnung verwüstet, eine Ausreise nicht mehr möglich, die Hatz auf Juden in vollem Gang. Die Verzweiflung überkommt ihn, immer mehr verliert er sich. „Ich werde mich verhaften lassen, dachte er. Ich werde zur Polizeiwache zurückgehen. Man soll mich festnehmen. Der Staat hat mich ermordet, er soll mich auch beerdigen.“


Alexander Boschwitz hat diesen Text schon 1939 verfasst. Er wurde in Deutschland nie veröffentlich, denn Boschwitz war selbst Jude und auf der Flucht. Das gibt diesem Roman eine Authentizität und Dichte, der ich mich nicht entziehen konnte. Auch Boschwitz‘s Flucht führte ihn durch ganz Deutschland und Europa, bis er bei einem Torpedoangriff ums Leben kam. Er kannte die Angst des Gejagten, des Heimatlosen aus eigener Anschauung, sicher ist vieles davon in seinen Roman eingeflossen.


Besonders beeindruckt hat mich die Beschreibung der Verfolgung. Was in Geschichtsbüchern und Dokumentationen beschrieben wird, bleibt oft abstrakt. Hier, mit dem Schicksal eines Einzelnen bekommen der Wahn, die aberwitzigen Vorurteile und die Ausflüchte ein Gesicht. Wenn langjährige Geschäftspartner ihren wahren Charakter zeigen, sein Judentum als Ausrede für Betrug herhalten muss und Silbermann sich nicht wehren darf, spürt man die Verzweiflung. Nicht nur seine materielle Grundlage wurde zerstört, man hat ihm sein Recht auf eine Existenz genommen. Seine Bahnfahrten werden immer verzweifelter, die Persönlichkeit des Protagonisten wird zerstört.


Dieser Eindringlichkeit konnte ich mich nicht entziehen. Manchmal musste ich das Buch sinken lassen und für einige Minuten pausieren. Es ist gut, dass dieser Text nun endlich bei uns erschienen ist.