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Veröffentlicht am 28.03.2024

Poetischer Schrecken ohne Mehrwert.

Zitronen
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Von einer unbeschwerten Kindheit kann August Drach nur träumen. Das verwunschene, leicht schiefe Haus am Ortsrand samt Apfelgarten lässt an laue Sommerabende und nackte Kinderfüße denken, an Winternachmittage ...


Von einer unbeschwerten Kindheit kann August Drach nur träumen. Das verwunschene, leicht schiefe Haus am Ortsrand samt Apfelgarten lässt an laue Sommerabende und nackte Kinderfüße denken, an Winternachmittage mit Kako und Büchern. Doch die Atmosphäre ist alles andere als heimelig, denn sein Vater demütigt und misshandelt August. Als dieser wenig später die Familie verlässt, kann August einen Sommer lang aufatmen - bevor seine Mutter ihn durch die Gabe unnötiger Medikamente schleichend vergiftet und damit an ihre "liebevolle" Fürsorge kettet. Lilly Drach leidet am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom und sonnt sich in der Bewunderung und Aufmerksamkeit, die sie durch die Pflege ihres "kranken" Kindes erhält. August ist noch zu klein, vertraut ihr blind, bis er als junger Erwachsener seine Dämonen nicht mehr abschütteln kann...

Düster ist das erste Wort, das mir zu diesem Roman in den Sinn kommt. Die gesamte Atmosphäre ist durchzogen von trüben, grauen Schleiern. Ein wenig goldgelbes Licht fällt hier und da zwischen die Seiten; brüchig und scharfkantig sind die kurzen Momente des Glücks, wie die Glasscherben auf dem Cover. Valerie Fritschs zarte, fast poetische Prosa steht in hartem Kontrast zum Inhalt des Romans. Ihr Schreibstil erinnert mich an Künstler*innen in den Fußgängerzonen großer Städte, die mit raschen Bleistiftstrichen das Porträt eines Menschen skizzieren und damit dessen Wesen zu Papier bringen können. Mit wenig Worten und starken Bildern charakterisiert sie Personen und Situationen, verweist auf deren Schwachstellen und Verletzlichkeiten.

Ein Plot, der sich einer seltenen Erkrankung widmet und eine bezaubernde Sprache - das hätte großartig werden können und doch hat mich der Roman nicht erreicht. War ich zu Beginn noch tief beeindruckt, so hat mich die Sprache ab dem ersten Drittel regelrecht erdrückt. Fritsch presst jede noch so banale Alltäglichkeit in einen Schraubstock aus Kunstfertigkeit: "...klobige Apparate, die sich an der Ewigkeit abarbeiteten, bis sie eines Tages schwarz wurden. Die Satellitenschüsseln wuchsen hundertfach aus den bröckelnden Fassaden der Häuserblöcke wie fremdartige Pflanzen, runde graue Blüten, die sich in den Himmel streckten und Signale direkt aus jener anderen Welt, der man irgendwann angehören wollte, empfingen." (S. 102 f.) Auf Dauer anstrengend und bemüht künstlich.

Sobald wir August als jungen Erwachsenen treffen, zerfasert leider auch der Inhalt. Fritsch eröffnet einige völlig unnötige Nebenschauplätze und -figuren, wie eine Leichenhalle, in der August eine Weile arbeitet oder dessen Nachbarn mit ihren Lebensgeschichten. Dabei spart sie nicht mit makabren und teils gewaltvollen Details, die sie jedoch nicht ins eigentliche Geschehen einordnet. Kaum Kontext, keine Aufarbeitung. Hier wären einige Triggerwarnungen sinnvoll.

Ich hatte völlig andere Erwartungen an den Roman. Erhofft habe ich mir eine sensible Auseinandersetzung mit der tabuisierten Erkrankung der Mutter und der gestörten Mutter-Sohn-Beziehung. Stattdessen bekomme ich eine Geschichte, die ich so schon gefühlt tausendfach gelesen und gehört habe: Junger Mann mit schwieriger Kindheit, körperlich und psychisch schwer misshandelt, wird selbst zum Täter. Ähnlich wie dessen Eltern, die ebenfalls eine schwere Kindheit hatten und so weiter. Das ist Psychologie nach dem Baukasten-Prinzip, das eröffnet keine neuen Blickwinkel.

Valerie Fritsch ist ohne Frage eine Sprachkünstlerin, die mit Worten malen kann. Viele ihrer Bilder haben sich mir eingebrannt, weil sie so treffsicher sind. Dennoch war mir der Roman im Gesamten gleichzeitig zu viel und zu wenig. Poetischer Schrecken ohne Mehrwert. Leider keine Empfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 17.03.2024

Große existenzielle Fragen

Wellness
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Mit "Wellness" verarbeitet Nathan Hill große existenzielle Fragen zu literarischem Hochgenuss: Was hält Paare zusammen? Ist es der Glaube an eine gute, gemeinsame Geschichte? Ab wann verwandelt sich dieser ...

Mit "Wellness" verarbeitet Nathan Hill große existenzielle Fragen zu literarischem Hochgenuss: Was hält Paare zusammen? Ist es der Glaube an eine gute, gemeinsame Geschichte? Ab wann verwandelt sich dieser Glaube an sich selbst oder einen anderen Menschen in eine Lebenslüge?

Es waren einmal Jack und Elizabeth. Zwei Studierende in Chicago, neu in der Stadt, einsam und auf der Suche nach Glück, Erfolg und Liebe. Heimlich beobachteten und unkreisten sie einander, ohne das gegenseitige Interesse zu bemerken. Bis zu jenem besonderen Abend im Club. Jackpot, Seelenverwandtschaft. So erzählt uns Hill den Beginn dieser gemeinsamen Liebes- und Lebensgeschichte. Was in vielen anderen Romanen das Happy End wäre - und sie lebten glücklich bis an ihr Ende -, ist für Hill erst der Auftakt. Denn 20 Jahre später stehen Jack und Elizabeth vor der scheinbar alles entscheidenden Frage, ob ihr Traumhaus getrennte Schlafzimmer haben soll. Irgendwo zwischen den banalen Alltagsthemen und dem Projekt Hausbau, zwischen Geldsorgen und Fragen zur richtigen Kindererziehung, zwischen Care-Arbeit, Haushalt und Job haben sie sich gegenseitig verloren. Und vermutlich auch sich selbst. Während Jacks Künstlerseele (Lebens-) Entscheidungen auf Glauben und Vertrauen gründet, ist Elizabeth Wissenschaftlerin durch und durch. In ihrer Gesundheits-Praxis "Wellness" verkauft sie Placebos als Heilmittel für so ziemlich jedes Problem - und macht damit Profit mit dem Glauben der Menschen an wirkungsvolle Geschichten. Doch was passiert, wenn die Wissenschaftlerin selbst ein Placebo, eine neue glaubhafte Erzählung für ihre Ehe braucht?

"Wellness" ist ein herrlich kluges, philosophisches und sehr lebendiges Buch. Es hat mich vom Fleck weg berührt und begeistert, weil Nathan Hill ein wirklich begnadeter Erzähler ist. Er schafft es, verschiedenste Themen in diesem umfassenden Roman miteinander zu verbinden, ohne geschwätzig zu sein. Kunst, Wissenschaft, Amerikas utopisches Glücksversprechen, Gentrifizierung, Digitalisierung, Verschwörungstheorien, Neurodiversität und psychische Erkrankungen - es greift alles perfekt ineinander. Dazwischen immer wieder Jack und Elizabeth mit einer ausführlichen Analyse ihres Innenlebens, die beide trotz oder gerade wegen ihrer ausgewachsenen Probleme und belastender Vergangenheiten so erfrischend "normal und echt" wirken. Überraschende und hinreissende Wendungen runden den Roman im letzen Drittel zu einem wahren Pageturner ab.

Nathan Hill konnte mich mit "Wellness" restlos begeistern und überzeugen. Mit seiner warmherzigen Figurenzeichnung und einem klugen Blick auf aktuelle Probleme und Entwicklungen hat er sich in meine Jahreshighlights 2024 geschrieben. Noch lange wird mich die Frage beschäftigen, ob wir den Geschichten, die wir uns (gegenseitig) erzählen - über uns selbst, über Freundschaft, Liebe und Verbindung, vertrauen können? Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 08.03.2024

Gossip Girl in der Buchbranche.

Yellowface
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Holla die Waldfee, war das eine wilde Achterbahnfahrt der Gefühle! RF Kuang gelingt mit diesem Roman eine bitterböse und gleichzeitig unglaublich unterhaltsame Abrechnung mit brandaktuellen Skandalen ...

Holla die Waldfee, war das eine wilde Achterbahnfahrt der Gefühle! RF Kuang gelingt mit diesem Roman eine bitterböse und gleichzeitig unglaublich unterhaltsame Abrechnung mit brandaktuellen Skandalen und Themen aus Social Media, Bookstagram und dem Verlagswesen - glaubt mir, hier kommt nichts und niemand ungeschoren davon.

Im Mittelpunkt stehen Athena und June. Ok, eigentlich June, denn sie erzählt uns ihre Geschichte mit und um Athena. Die eine ein gefeiertes Hype-Sternchen am Literaturhimmel, die andere ein literarisches Mauerblümchen. Während Athena kräftig abräumt, einen Bestseller nach dem anderen schreibt und einen Netflix-Deal abschließt, steht June neidisch und unbeachtet in ihrem Schatten. Die beiden verbindet eine seltsame Zweck-Freundschaft-Hass-Besessenheit. Sind sie wirklich Freundinnen? Feindinnen? "Freindinnen"? Als Athena vor Junes Augen auf absurde Weise stirbt, lässt diese im Affekt Athenas neuestes Manuskript mitgehen. Niemand hat es bisher zu Gesicht bekommen oder gelesen... Und das verführt June zu einem perfiden Spiel mit dem Feuer.

Der Beginn ist eine Steilvorlage: Unfall - Diebstahl - kurzer Schock und Zack, sitzt June an Athenas Manuskript und überarbeitet es für ihre Zwecke. Show must go on, oder so. Mir jedenfalls ist ein wenig schwindlig geworden. Das Buch entwickelt einen richtigen Lesesog, der Stil ist eingängig und die Handlung passiert Schlag auf Schlag.

Mit June bekommen wir eine absolut unzuverlässige und sehr ambivalente Erzählerin. Man kann sie nicht gern haben, man kann ihr nicht glauben und fiebert dennoch mit. Sie verhält sich mal naiv und völlig selbstvergessen, dann wieder egoistisch und abgebrüht as hell. Die Leserschaft verklärt die Buchbranche gerne, glaube ich. Hier erleben wir, was hinter den Kulissen passiert: Konkurrenzkampf, Schnelllebigkeit, Wahllosigkeit, immenser Druck und Intrigen, Intrigen, Intrigen. Ein bisschen wie "Gossip Girl" in der Buchszene.

Kuang greift mit Yellowface wirklich einige brandaktuelle Themen auf: Kulturelle Aneignung in der Buchbranche (Wer hat das Recht über bestimmte Themen zu schreiben? Darf eine weiße Autorin aus dem Leid anderer Kulturen Profit schlagen?), Diversität als bloße Quote, Alltagsrassismus, Cancel Culture und Shitstorms/Hate Speech in den sozialen Medien. Über all dem schwebt subtil die Frage nach Ethik und Moral. Die Autorin schafft es, ihre Leser*innen komplett durchzuschütteln. Sowohl moralisch, als auch gefühlsmäßig. Am Ende weiß man nicht, wohin der moralische Kompass zeigt, weil sich "Norden" so oft verschiebt... Eine explosive Mischung mit einem folgerichtigen Ende. Hier ist der Hype berechtigt. Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 18.02.2024

Büchermenschen sind überall.

Büchermenschen
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Dieses Buch hat mich beim Stöbern in der Kinderbuch-Abteilung unserer Bücherei im Ort direkt angesprochen. Die farbenfrohe Gestaltung erinnerte mich an ein Wimmelbuch, in dem es immer viel zu entdecken ...

Dieses Buch hat mich beim Stöbern in der Kinderbuch-Abteilung unserer Bücherei im Ort direkt angesprochen. Die farbenfrohe Gestaltung erinnerte mich an ein Wimmelbuch, in dem es immer viel zu entdecken und - wie in diesem Fall - viel zu lernen gibt!

Beim Aufschlagen fällt einem gleich die unglaublich liebevolle Gestaltung des Buches auf. Kleine Pfeile, Hinweise und Zeichnungen sind gleich auf den Vorsatzseiten zu finden und erklären die Papierauswahl, die Bindetechnik, die Schriftart und den Coverschnitt. Danach geht es weiter mit jeweils 2 Doppelseiten für so ziemlich jede Berufssparte, die im Buchbereich tätig ist und mit dafür sorgt, dass wir ein fertiges Buch in Händen halten können. Vom Autor, über die Illustratorin, den Gestalter, die Vertreterin und und und. Ein wenig irritiert hat mich die Tatsache, dass den Übersetzer*innen kein eigenes Kapitel gewidmet wurde. Sie werden zwar kurz erwähnt, aber diese äußerst wichtige Rolle (!) mal wieder ein wenig unter den Tisch gekehrt - schade! Sehr schön hingehen fand ich die Doppelseiten über Buchhandlungen und Bibliotheken als Treffpunkt für kleine und große Buchliebhaber und als Ort für Events rund ums Buch.

Insgesamt ein wirklich gelungenes und liebevoll gestaltetes Kindersachbuch, das auch Erwachsene begeistern kann!

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Veröffentlicht am 18.02.2024

Eine wunderschöne Liebesgeschichte.

Salz und sein Preis
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Keine Ahnung, warum ich lange Zeit dachte, Patricia Highsmith wäre nichts für mich. Dass ihre Bücher "verstaubte" Krimis seien, ein wenig "Cosy Crime", eher was für die älteren Generationen...

Doch dann ...

Keine Ahnung, warum ich lange Zeit dachte, Patricia Highsmith wäre nichts für mich. Dass ihre Bücher "verstaubte" Krimis seien, ein wenig "Cosy Crime", eher was für die älteren Generationen...

Doch dann kam der Bücherschrankfund. Und die Neugierde. Ich begann zu lesen und war sofort elektrisiert: "Hier ist nichts altbacken oder überholt, das hier ist brandaktuell!"

Scharfsinnig und klug erzählt Highsmith eine Liebesgeschichte, die in den 50er Jahren so nicht sein durfte. Es geht um zwei Frauen, Carol und Therese, die beide in ihren jeweiligen Rollenbildern gefangen sind. Die alles riskieren für eine Liebe, die in der Gesellschaft auf Unverständnis und Ablehnung stößt. Highsmiths Figuren werden psychologisch messerscharf analysiert; die Umstände sind schwierig und sie beschönigt nichts. Dennoch ist die Geschichte so zart und sinnlich, voller Hoffnung auf eine bessere Welt.

Wie schön, dass ich Highsmith endlich für mich entdecken konnte! Dieser Roman konnte mich so begeistern, dass ich meinen Bücherschrank-Fund direkt gegen diese wunderhübsche Sonderausgabe austauschen musste ❤️ Wer kann bei diesem Cover auch widerstehen?

Dies wird sicherlich nicht mein letzter Roman der Autorin sein, ich bin nämlich wahnsinnig angetan und kann jedem nur ans Herz legen: Lest Patricia Highsmith, sofort!

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