Hoffnung auf Erlösung...
Haie in Zeiten von Erlösern"Wenn ich die Augen schließe, sind wir alle noch am Leben, und es wird offenbar, was die Götter von uns wollen. Die Mythen, die die Leute über uns erzählen, mögen ja mit jenem türkisblauen Tag vor Kona ...
"Wenn ich die Augen schließe, sind wir alle noch am Leben, und es wird offenbar, was die Götter von uns wollen. Die Mythen, die die Leute über uns erzählen, mögen ja mit jenem türkisblauen Tag vor Kona und mit den Haien anfangen, aber ich weiß es besser. Unser Anfang war viel früher. Dein Anfang war viel früher." (S. 9)
Kawai Strong Washburn hat mich mit diesen ersten Sätzen mitten reingezogen in sein atemberaubendes Debüt, angesiedelt in seiner Heimat, Hawaii.
Der Beginn wie ein Paukenschlag - Naionoa ist sieben Jahre alt, als er schlagartig zur Legende wird. Bei einem Bootsausflug fällt er über Bord in den Pazifik und scheint verloren: Haie umkreisen ihn, eine Rettung ist ausgeschlossen. Doch der größte Hai trägt ihn in seinem Maul zurück zum Boot. Ein Wunder! Oder doch Vorherbestimmung? Schicksal? Seine Eltern sind überzeugt, dass ihr Sohn von den Göttern für etwas Größeres auserwählt wurde, dass er Hawai retten und die Familie erlösen soll. Vom Raubbau, der die Natur zerstört, von der um sich greifenden Armut und den Folgen des früheren Kolonialismus. Nainoa trägt schwer an dieser Verantwortung als Wunderkind und auch seine Geschwister Dean und Kaui kämpfen um ihren Platz in der Familie. Die Drei verlassen Hawai und suchen ihr Glück auf dem Festland. Sie verlieren einander und sich selbst und hören doch alle den Ruf ihrer Heimat, der sie zurück nach Hawaii zieht...
Klingt alles ziemlich mystisch, vielleicht sogar einen Hauch kitschig, nach zuviel Drama? Ja, das dachte ich im ersten Moment auch. Dennoch hat mich die Beschreibung magisch angezogen, ich wollte dieses Buch unbedingt lesen und habe es nach den letzten Seiten absolut ergriffen und begeistert zugeklappt. Einfach nur wow! Die erste Hälfte über weiß man nicht, wohin die Geschichte einen trägt, man ist gefesselt und verloren gleichzeitig. Kawai Strong Washburn hat mit diesem Debüt etwas Aufregendes geschaffen, ich habe bisher nichts Vergleichbares gelesen. Atemlos bin ich durch die Seiten geflogen, habe mit den Geschwistern gelacht, gelitten und geweint, habe Hawaiis uralte Geschichten aufgesaugt und unglaublich viel gelernt.
Auf Hawaii prallen buchstäblich Welten aufeinander. Die indigene Welt mit ihren Mythen und Legenden trifft auf neue Realitäten: Glaube, Götter und magischer Realismus werden überlagert von Armut, Hoffnungslosigkeit und der Auflösung von Traditionen und Familienstrukturen. Üppige Natur und Traumstrände auf der einen Seite, Hotelkomplexe und zerstörter Lebensraum für Mensch und Tier auf der anderen. Wie Washburn es schafft, alle diese Themen zu einem großen Ganzen zu vereinen und damit seiner Heimat Hawaii eine neue Stimme verleiht, ist große Kunst.
Doch was mich wirklich beeindruckt hat, ist sein feines Gespür für zwischenmenschliche Abhängigkeiten. Im Zentrum stehen die Geschwisterbeziehung und die Familienbande, die geprägt sind von einem allumfassenden Wunsch nach Erlösung, Errettung und dem Festhalten an alten Bräuchen und Traditionen. Gleichzeitig streben die Geschwister Nainoa, Dean und Kaui nach Freiheit, Eigenständigkeit und nach neuen Erfahrungen, immer überschattet von der Sehnsucht nach elterlicher Anerkennung. Ein unmöglicher Spagat, der die Familie langsam, aber sicher auseinanderdriften lässt. Washburn fährt diesen feinen Rissen im Beziehungsgeflecht nach und verfolgt sie bis zur Katastrophe, bis zum Bruch. Dann nimmt er die Scherben behutsam auf, setzt sie wieder zusammen und erschafft dabei etwas völlig Neues, etwas Wunderschönes, etwas ganz und gar Magisches.
"Wenn ein Gott etwas ist, was absolute Macht über uns hat, dann gibt es in dieser Welt viele Götter. [...] Hoffnung kann auch ein Gott sein. Sie ist etwas, zu dem man beten kann." (S. 215 ff.)
Ein großartiges Debüt, von mir gibt es eine unbedingte Leseempfehlung!