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Veröffentlicht am 19.01.2024

Hoffnung auf Erlösung...

Haie in Zeiten von Erlösern
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"Wenn ich die Augen schließe, sind wir alle noch am Leben, und es wird offenbar, was die Götter von uns wollen. Die Mythen, die die Leute über uns erzählen, mögen ja mit jenem türkisblauen Tag vor Kona ...

"Wenn ich die Augen schließe, sind wir alle noch am Leben, und es wird offenbar, was die Götter von uns wollen. Die Mythen, die die Leute über uns erzählen, mögen ja mit jenem türkisblauen Tag vor Kona und mit den Haien anfangen, aber ich weiß es besser. Unser Anfang war viel früher. Dein Anfang war viel früher." (S. 9)

Kawai Strong Washburn hat mich mit diesen ersten Sätzen mitten reingezogen in sein atemberaubendes Debüt, angesiedelt in seiner Heimat, Hawaii.

Der Beginn wie ein Paukenschlag - Naionoa ist sieben Jahre alt, als er schlagartig zur Legende wird. Bei einem Bootsausflug fällt er über Bord in den Pazifik und scheint verloren: Haie umkreisen ihn, eine Rettung ist ausgeschlossen. Doch der größte Hai trägt ihn in seinem Maul zurück zum Boot. Ein Wunder! Oder doch Vorherbestimmung? Schicksal? Seine Eltern sind überzeugt, dass ihr Sohn von den Göttern für etwas Größeres auserwählt wurde, dass er Hawai retten und die Familie erlösen soll. Vom Raubbau, der die Natur zerstört, von der um sich greifenden Armut und den Folgen des früheren Kolonialismus. Nainoa trägt schwer an dieser Verantwortung als Wunderkind und auch seine Geschwister Dean und Kaui kämpfen um ihren Platz in der Familie. Die Drei verlassen Hawai und suchen ihr Glück auf dem Festland. Sie verlieren einander und sich selbst und hören doch alle den Ruf ihrer Heimat, der sie zurück nach Hawaii zieht...

Klingt alles ziemlich mystisch, vielleicht sogar einen Hauch kitschig, nach zuviel Drama? Ja, das dachte ich im ersten Moment auch. Dennoch hat mich die Beschreibung magisch angezogen, ich wollte dieses Buch unbedingt lesen und habe es nach den letzten Seiten absolut ergriffen und begeistert zugeklappt. Einfach nur wow! Die erste Hälfte über weiß man nicht, wohin die Geschichte einen trägt, man ist gefesselt und verloren gleichzeitig. Kawai Strong Washburn hat mit diesem Debüt etwas Aufregendes geschaffen, ich habe bisher nichts Vergleichbares gelesen. Atemlos bin ich durch die Seiten geflogen, habe mit den Geschwistern gelacht, gelitten und geweint, habe Hawaiis uralte Geschichten aufgesaugt und unglaublich viel gelernt.

Auf Hawaii prallen buchstäblich Welten aufeinander. Die indigene Welt mit ihren Mythen und Legenden trifft auf neue Realitäten: Glaube, Götter und magischer Realismus werden überlagert von Armut, Hoffnungslosigkeit und der Auflösung von Traditionen und Familienstrukturen. Üppige Natur und Traumstrände auf der einen Seite, Hotelkomplexe und zerstörter Lebensraum für Mensch und Tier auf der anderen. Wie Washburn es schafft, alle diese Themen zu einem großen Ganzen zu vereinen und damit seiner Heimat Hawaii eine neue Stimme verleiht, ist große Kunst.

Doch was mich wirklich beeindruckt hat, ist sein feines Gespür für zwischenmenschliche Abhängigkeiten. Im Zentrum stehen die Geschwisterbeziehung und die Familienbande, die geprägt sind von einem allumfassenden Wunsch nach Erlösung, Errettung und dem Festhalten an alten Bräuchen und Traditionen. Gleichzeitig streben die Geschwister Nainoa, Dean und Kaui nach Freiheit, Eigenständigkeit und nach neuen Erfahrungen, immer überschattet von der Sehnsucht nach elterlicher Anerkennung. Ein unmöglicher Spagat, der die Familie langsam, aber sicher auseinanderdriften lässt. Washburn fährt diesen feinen Rissen im Beziehungsgeflecht nach und verfolgt sie bis zur Katastrophe, bis zum Bruch. Dann nimmt er die Scherben behutsam auf, setzt sie wieder zusammen und erschafft dabei etwas völlig Neues, etwas Wunderschönes, etwas ganz und gar Magisches.

"Wenn ein Gott etwas ist, was absolute Macht über uns hat, dann gibt es in dieser Welt viele Götter. [...] Hoffnung kann auch ein Gott sein. Sie ist etwas, zu dem man beten kann." (S. 215 ff.)

Ein großartiges Debüt, von mir gibt es eine unbedingte Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 19.01.2024

Das Gegenteil von Depression.

Mein schmerzhaft schönes Trotzdem
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Dieses Buch hat mich genau zur richtigen Zeit erreicht. Ich steckte selbst in einer tiefen, schweren Krise und es tat so unfassbar gut zu lesen, dass es andere Menschen mit ähnlichen Gefühlen gibt. Denn ...

Dieses Buch hat mich genau zur richtigen Zeit erreicht. Ich steckte selbst in einer tiefen, schweren Krise und es tat so unfassbar gut zu lesen, dass es andere Menschen mit ähnlichen Gefühlen gibt. Denn mitten in einer depressiven Episode fühlt man sich unendlich allein, nicht gesehen, nicht verstanden.

Barbara Vorsamer hat eine ganz bezaubernd ehrliche und direkte Art von ihrer Erkrankung zu sprechen. Sie macht deutlich, dass der Umgang mit ihrer Depression ein langer Weg war und weiterhin ist. Es ist nicht ratsam, Vergleiche anzustellen mit anderen Erkrankten, sondern es lohnt sich, seinen eigenen Weg zu suchen. Sie findet Worte für eigentlich Unerklärliches und beschreibt wichtige Erkenntnisse, die sie im Laufe der Zeit für sich gesammelt hat. Ich glaube, dass sich jede*r in ihren Beschreibungen wiederfinden kann, weil sie eine tiefe, universelle Weisheit beinhalten. Ihre Metaphern für die Erkrankung und die damit einhergehenden Gefühle werden mich auch weiterhin begleiten, denn der Umgang damit ist und bleibt ein Seiltanz.

Die wichtigste Botschaft des Buches ist das "Trotzdem". Man kann die Erkrankung nicht "wegzaubern" mit Therapie oder Medikamenten. Aber man kann lernen mit ihr so umzugehen, dass "trotzdem" leben möglich wird. Denn das Gegenteil von Depression ist nicht Freude, sondern Lebendigkeit. Sich lebendig zu fühlen ist schon einmal die halbe Miete auf dem Weg der Besserung.

Mich hat das Buch sehr berührt und abgeholt, weil es einen sehr persönlichen und dennoch allgemeinen Zugang zu einer Diagnose eröffnet, die so viele betrifft und über die wir als Gesellschaft leider immer noch viel zu wenig offen reden. Ein kluges und weißes Buch, von mir gibt es eine absolute Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 19.01.2024

Chemie und Feminismus.

Eine Frage der Chemie
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Chemie und Feminismus in den 60ern, das hat mich sofort angesprochen! Das Buch war plötzlich in aller Munde und entgegen meiner sonstigen Abneigung zu sogenannten "Hype-Büchern" musste ich dieses hier ...

Chemie und Feminismus in den 60ern, das hat mich sofort angesprochen! Das Buch war plötzlich in aller Munde und entgegen meiner sonstigen Abneigung zu sogenannten "Hype-Büchern" musste ich dieses hier tatsächlich direkt lesen und ich habe es nicht bereut.

Elizabeth Zott ist eine wirklich taffe Frau! Wenn man sich die Strukturen der damaligen Zeit vor Augen führt, die im Roman auch schonungslos aufgezeigt werden, ist sie eine absolute Vorreiterin gewesen. Ihre Kraft und ihre Sturheit haben mich wirklich beeindruckt. Sie gibt keinen Millimeter nach und kämpft für das, was ihr wichtig ist.
Leider plätschert der Roman im Mittelteil ein wenig vor sich hin und verliert sich in zu vielen Nebenhandlungen und nicht ganz so relevanten Details. Mir persönlich waren auch einige Wendungen ein wenig zu dick aufgetragen und möchtegern-dramatisch. Das hätte die Handlung meiner Meinung nach nicht gebraucht um spannend zu sein. Elizabeths mutigen Werdegang zu verfolgen, war spannend und unterhaltsam genug.

Insgesamt ein hübscher Unterhaltungsroman mit Tiefe, einer taffen Protagonistin, schlagfertigen Dialogen und einer ordentlichen Prise Humor. Manchmal ist das alles, was man braucht!

Das Hörbuch ist übrigens ganz fantastisch eingelesen von Luise Helm. Wer sich generell für den Roman interessiert, dem empfehle ich in diesem Fall dem Hörbuch den Vorzug zu geben!

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Veröffentlicht am 19.01.2024

Blaukaltes, tiefes Grauen.

In blaukalter Tiefe
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Treffen sich zwei Paare auf einer luxuriösen Segelyacht, um gemeinsam den hart erarbeiteten und dringend nötigen Jahresurlaub zu verbringen. Befreundet sind sie nicht, eher hierarchisch angeordnet. Denn ...

Treffen sich zwei Paare auf einer luxuriösen Segelyacht, um gemeinsam den hart erarbeiteten und dringend nötigen Jahresurlaub zu verbringen. Befreundet sind sie nicht, eher hierarchisch angeordnet. Denn Andreas, ein hohes Tier in der Anwaltsszene, hat sein Nachwuchstalent Daniel auf einen Segeltörn eingeladen. Irgendwie muss man sich ja besser kennenlernen, wenn man(n!) einen neuen Juniorpartner in die Kanzlei aufnehmen will. Andreas Frau Caroline und Daniels Freundin Tanja dürfen natürlich nicht fehlen, schließlich sehen sich die Paare vor lauter Arbeit im Alltag kaum. Der mysteriöse Skipper Eric wurde samt seiner hübschen Segelyacht von Andreas für diesen bezaubernden Urlaub engagiert. Da Andreas den gesamten Trip bezahlt, darf er sich auch wie das Alpha-Männchen der Gruppe aufführen, logisch. Achja, der Name der Yacht ist übrigens "Querelle" - das ist Französisch und bedeutet "Streit", zwinker zwinker.

Dies ist die Ausgangslage des Romans (nach ca. einer halben Stunde Hörbuch-Hören) und meine linke Augenbraue wanderte schon leicht kritisch in die Höhe. Der Klappentext klingt definitiv einladender und hat mich leider hinterlistig in diese literarische Sackgasse geführt.

Nach dem ersten Drittel des Romans begann dann mein linkes Auge wild zu zucken. Toxische Männlichkeit und Übergriffigkeit, verwöhntes Geplänkel und die ganzen möchtegern-spannenden Andeutungen gingen mir hier schon gehörig auf die Nerven. Doch es wird leider nicht besser. Niemand von diesen fünf erwachsenen (!) Menschen verhält sich dementsprechend. Das allein ist erstmal nicht unglaubwürdig. Aber von psychologisch fein ausgearbeiteten Charakteren kann keine Rede sein. Alle haben mysteriöse Geheimnisse oder angedeutete Probleme in der Vergangenheit, weswegen sie in der Gegenwart mit einem angeknacksten Ego zu kämpfen haben. Da hat die Autorin einfach nur schnell in die Klischeekiste gegriffen, ohne weitere Mühe in eine stimmige Ausarbeitung ihrer Chataktere zu investieren. Die mitgelieferten "psychologischen" Erklärungen der Verhaltensweisen und Wendungen an Bord waren absolut unrealistisch und haarsträubend.

Auch der Schreibstil konnte mich nicht überzeugen. Einfacher Satzbau, viele Wiederholungen, gut geeignet zum raschen (Über-)Lesen. Bei Szenen, die körperliches Verlangen oder Lust ausdrücken sollten, wurde es dann einfach nur plump. Wenn es beispielsweise Caroline "zwischen den Beinen zieht", wenn sie an Eric denkt oder ihn sieht... Das ist zum Fremdschämen. Und ja - es wird viel im Kreis herum begehrt, geflirtet und gegrabscht. Schließlich wird ganz viel mit den Motiven Eifersucht, Rache und unerwidertes Begehren gearbeitet.

Leider überspannt die Autorin mit ihrer Geschichte so einiges - die Glaubwürdigkeit, die Protagonisten und vor allem meine Nerven. Dabei bleibt der eigentliche Spannungsbogen auf der Strecke - denn der angedeutete große Knall verpufft zu einer lauwarmen Brise und der Roman endet unbefriedigend.

Ein psychologisch feines Kammerspiel? Für mich eher Besenkammer, Licht aus und Hackebeil.

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Veröffentlicht am 19.01.2024

Ein Fels als Ausgangspunkt einer intensiven Zeitreise.

Der weiße Fels
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"An diesem Ort verliebte sich die Formlosigkeit zum ersten Mal in die Form. Und so, genau so wurde die Welt geboren, an jenem Ort und zu jener Zeit." (S. 199)

Ein Fels als Ursprung der Welt. Weiß, zerklüftet, ...

"An diesem Ort verliebte sich die Formlosigkeit zum ersten Mal in die Form. Und so, genau so wurde die Welt geboren, an jenem Ort und zu jener Zeit." (S. 199)

Ein Fels als Ursprung der Welt. Weiß, zerklüftet, mystisch steht er am Strand von San Blas, einem kleinen Fischerdorf an der Pazifikküste Mexikos. Laut den Legenden der indigenen Ethnie Wixárika, ist er als erste feste Form aus dem Meer gestiegen und gilt seit jeher als besonderer und heiliger Ort.
In Anna Hopes neuem Roman bildet er den Ausgangspunkt für eine intensive Zeitreise, die beinahe 250 Jahre und vier auf den ersten Blick unabhängige Handlungsstränge umfasst.

Eine reisende Schriftstellerin 2020, ein desillusionierter Musiker 1969, zwei verschleppte Schwestern aus dem Yoeme-Stamm 1907 und ein verwirrter Kapitänsleutnant 1775 - sie alle treffen zu unterschiedlichen Zeiten auf diesen mystischen Ort, im Gepäck ihre ganz eigenen Ängste und Sorgen, Hoffnungen und Träume. Der weiße Fels ist das verbindende Element zwischen den nur lose zusammenhängenden Geschichten. Ruhig und unbeeindruckt steht er inmitten der (Gefühls-)Stürme, die seit Jahrhunderten um ihn herum toben. Menschen kommen und gehen, bringen Dankesopfer, erbitten Vergebung oder Errettung, suchen Schutz und Ruhe vor der Welt. Wieviel Leid hat der Fels schon gesehen? Wieviele Leben gerettet?

Anna Hopes neuer Roman benötigt Zeit und Aufmerksamkeit, denn der komplexe Aufbau mit den vier Handlungssträngen und vielen historischen Details wirkt anfangs verwirrend und überfordernd. Es bedarf einer gewissen Ruhe und Ausdauer, um sich in die verschiedenen Figuren und Zeitebenen einzulesen und gegenbenenfalls historische Hintergründe zu recherchieren. Dennoch haben mich die vier Geschichten von Beginn an sehr berührt und gefesselt. Mit ihrem einfühlsamen und präzisen Schreibstil erschafft Hope lebendige Figuren und schafft Sprachbilder voller Schönheit und Eindrücklichkeit. Ihr ist ein kluger und reflektierte Roman gelungen, der zeitlose Fragen aufwirft und die Aufarbeitung schwieriger Themen wie koloniale Verbrechen, kulturelle Aneignung und Klimakatastrophen nicht scheut.

Ihre Herangehensweise über ein gemeinsames Element - den weißen Felsen - finde ich sehr gelungen. Der Fels spielt in jeder der vier Geschichten eine andere Rolle und zeigt sich aus einer anderen Perspektive. Als Projektionsfläche für verschiedene Interessen bietet er viel Interpretationsspielraum. Er verdeutlicht durch seinen Status als heiliger Ursprung, dass der Blick des Einzelnen auf die Welt von der jeweiligen Perspektive und von vielen weiteren Faktoren wie individuellen oder gesellschaftlichen Privilegien und letztendlich dem Zufall abhängt. Wo werden wir geboren? In einem Land das erobert oder das ausgebeutet wird? Und sind letztendlich diese Grenzen nicht fließend?

"Und sie [die Schriftstellerin]? Was will sie hier, wenn nicht ebenfalls schürfen? Sich am Rohmaterial der Geschichte bedienen und aus den Schmerzen, der Mühsal und den unvorstellbaren Verlusten eine Geschichte formen, die sich verkaufen lässt. Sie ist genauso korrupt wie alle anderen. Genauso ausbeuterisch wie jene, die vor dreihundert, vierhundert oder fünfhundert Jahren auf der Suche nach Gold an diesen Ort kamen." (S. 59)

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