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Veröffentlicht am 07.12.2020

Das Werk: brillant. Der Inhalt: gleichermaßen abwegig wie real möglich.

Insel der verlorenen Erinnerung
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Die Dystopie „Insel der verlorenen Erinnerung“ ist im Japanischen bereits 1994 erschienen.
Erst jetzt, 26 Jahre später, wurde sie, wie viele ihrer anderen Werke zuvor, vom Liebeskind Verlag herausgegeben. ...

Die Dystopie „Insel der verlorenen Erinnerung“ ist im Japanischen bereits 1994 erschienen.
Erst jetzt, 26 Jahre später, wurde sie, wie viele ihrer anderen Werke zuvor, vom Liebeskind Verlag herausgegeben.
Dass Yoko Ogawa bereits vor so vielen Jahren eine dystopische Welt von solcher Wucht und mit solchem symbolischen Realitätsbezug geschrieben hat, fasziniert mich.
Vieles ist durchaus vorstellbar und erscheint gar nicht so abwegig, sondern real möglich.

Auf einer namenlosen Insel herrscht ein totalitäres Regime, das nur indirekt über seine unerbittliche Polizei in Erscheinung tritt.
Nach und nach verschwinden auf dieser Insel willkürlich ausgesuchte Dinge, z. B. Hüte, Fotos, Früchte, Vögel, Haarbänder, Rosen, Romane und schließlich auch die Erinnerungen an diese Dinge.
Die Vorstellung dieses Szenarios an sich ist erschreckend und löst schon vor und während der Lektüre dieses beeindruckenden Werkes verschiedenste Assoziationen aus.

Auf dieser Insel lebt eine junge Schriftstellerin, die diesen Prozess des Verschwindens höchst besorgt beobachtet und interessiert verfolgt, während viele andere Inselbewohner sich mit dieser Entwicklung recht gelassen oder sogar gleichgültig abfinden.

Die Schriftstellerin wurde schon vor langer Zeit hellhörig.
Damals wurde ihre Mutter, eine Bildhauerin, vom Regime verhaftet und abgeholt ... und als Leiche zurückgebracht.
Erlitt sie tatsächlich einen Herzinfarkt oder wurde sie vom Regime beseitigt, weil sie verbotenerweise einige dieser verschwundenen Dinge aufbewahrt hat?

Die erbarmungslose Inselpolizei „Erinnerungspolizei“ genannt, die ihre Augen und Ohren überall hat, will verhindern, dass sich die Menschen erinnern und sorgt dafür, dass alles auch wirklich verschwindet.
Sie führt brutale Razzien durch und verfolgt diejenigen Menschen, die sich erinnern und nicht vergessen können.

Eines Tages wird diese Polizei auf den Lektor der Schriftstellerin aufmerksam, der auch einer der wenigen Menschen zu sein scheint, der nicht vergessen kann und will.
Die Schriftstellerin beschließt, ihn in einem geheimen unterirdischen Raum in ihrem Haus zu verstecken.

Nun geht es darum, nicht entdeckt zu werden und den aktuellen Roman der Schriftstellerin zu Ende zu bringen. Es ist ein Roman, in dem die Erinnerungen konserviert, aufrechterhalten und festgehalten werden sollen.
Auch in diesem Roman im Roman verschwindet etwas: die Stimme der Protagonistin und letztlich sogar die Fähigkeit, zu schreiben.

In Yoko Ogawas Werk geht es nicht nur um die Bedeutung von Erinnerung und Vergangenheit, sondern auch um das emotionale Abstumpfen durch den Verlust der Erinnerung, um die Allmachtsphantasien der Menschen und um den Umgang mit Unterdrückung:
Anpassung, Unterordnung, blinder Gehorsam bishin zu Identifikation mit dem Unterdrücker oder eigenständiges, unabhängiges Denken und Rebellion?
Passives und konformes Mitlaufen oder aktives Handeln?
...hoch aktuelle und die Zeit überdauernde, brisante Fragestellungen!

Die japanische Autorin Yoko Ogawa schreibt auf den ersten Blick leidenschaftslos und nüchtern.
Trotzdem empfinde ich ihre Sprache als poetisch, eindringlich und bildhaft.
Diese Gleichzeitigkeit von Emotionslosigkeit und Poesie zog mich sofort in ihren Bann.
Durch ihre wunderschönen, anschaulichen und detailreichen Beschreibungen entsteht ein wahres Kopfkino.
Die Beschreibung des Verschwindens der Rosenblätter und ihr Dahintreiben auf einem Fluss löste bei mir beispielsweise gleichermaßen Faszination wie Gänsehaut aus.
Von Anfang an ist eine rätselhafte, beunruhigende und düstere Atmosphäre spürbar, die neugierig macht und ein subtiles Kribbeln verursacht.

Ich möchte den Roman mit dem ergreifenden Ende als brillanten, fesselnden und erschütternden Pageturner bezeichnen, der zum Nachdenken animiert und nachhallt.

Nach der Lektüre dieses verstörenden und eindrucksvollen Werkes kann ich gut nachvollziehen, dass es für den National Book Award und für den International Booker Prize nominiert wurde.

Ich empfehle diese großartige Dystopie sehr gerne weiter!


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Veröffentlicht am 06.12.2020

Der fulminante Abschluss einer Romantrilogie.

Spiegel unseres Schmerzes
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Paris. 1940.
Ganz normaler Alltag in Paris.
Niemand glaubt mehr an den Krieg. Man plaudert im Café, man träumt von der Zukunft.
Auch im Restaurant „La Petite Bohème“ von Monsieur Jules in Montmartre geht ...

Paris. 1940.
Ganz normaler Alltag in Paris.
Niemand glaubt mehr an den Krieg. Man plaudert im Café, man träumt von der Zukunft.
Auch im Restaurant „La Petite Bohème“ von Monsieur Jules in Montmartre geht alles seinen üblichen Gang.
Die Lehrerin Louise Belmont kellnert dort wie üblich an den Wochenenden und ist inzwischen zu einem unverzichtbarer Teil des Lokals geworden.
Dass sich an der Maginotlinie die feindlichen Truppen gegenseitig belauern wird verleugnet und dass die deutsche Wehrmacht auf dem Vormarsch ist und durch die Ardennen näherrückt ist noch nicht bei jedem ins Bewusstsein vorgedrungen.
Aber dann beginnt die Lawine zu rollen und Louise den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Louise erfährt äußerst Unerfreuliches und ihr Leben gerät ins Wanken.
Der Stammgast Doktor Thirion vom „La Petite Bohème“ spielt dabei eine Rolle und es offenbart sich eine komplizierte und dramatische Familiengeschichte in deren Zentrum Louises Bruder Raoul steht, der an der Maginot-Linie als Elektriker bei den Pionieren eingesetzt ist und dessen Stubenkamerad der Mathematiklehrer und Fernmelder Gabriel ist.

Auch der junge Soldat Gabriel, um den es in einem zweiten Strang geht, muss, wie Louise, erstmal damit klarkommen, dass sich in seinem Leben etwas verändert und bewegt, dass seine überraschende Beförderung Konsequenzen hat.

Und schließlich muss die gesamte Bevölkerung der Realität ins Auge sehen: die deutsche Wehrmacht hat die Maginotlinie durchbrochen und schreitet Richtung Paris.

Unruhe, Tumult, Aufruhr, Verwirrung, Verunsicherung, Angst und und Chaos sind die Folgen...

Seine Charaktere zeichnet Pierre Lemaitre in all ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit.
Sie haben Ecken und Kanten, schlagen sich mit inneren Ambivalenzen und seelischen Konflikten auseinander und wirken dadurch authentisch.

Unterhaltsam, mit einem Schuss Leichtigkeit, spannend und mit einigen Prisen Humor schafft Pierre Lemaire es, die Gräuel und Dramen des Krieges zu schildern, die Atmosphäre sowohl im vor Schock gelähmten Paris als auch auf dem Feld und in einem Gefängnis glaubhaft zu vermitteln und dabei nichts zu bagatellisieren oder zu ironisieren.
Die Szenen und Handlungdorte beschreibt er so anschaulich, dass man das Gefühl hat, vor Ort zu sein.

Pierre Lemaitre, ein Menschenkenner , der scharf beobachten und wunderbar erzählen kann, hat mit „Spiegel unseres Schmerzes“ seine Romantrilogie, ein bedeutsames und lesenswertes literarisches Werk, sehr gut beendet.
Die Geschichte begann absolut fesselnd, hatte dann allerdings im Verlauf einige Längen.
Deshalb nur vier von fünf Sternen.

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Veröffentlicht am 03.12.2020

Man braucht einen langen Atem und wird belohnt.

Aus der Welt
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Aus der Welt“ ist der fiktive Debutroman von Karl Ove Knausgård, der 1998 in Norwegen erstveröffentlicht und ausgezeichnet wurde.
Erst jetzt, 2020 wurde er ins Deutsche übersetzt.
Er basiert lose ...




Aus der Welt“ ist der fiktive Debutroman von Karl Ove Knausgård, der 1998 in Norwegen erstveröffentlicht und ausgezeichnet wurde.
Erst jetzt, 2020 wurde er ins Deutsche übersetzt.
Er basiert lose auf Knausgårds eigenen Lebens- und Familiengeschichte.

Der 26-jährige Aushilfslehrer Henrik Vankel zieht Ende des 20. Jahrhunderts in ein abgelegenes Dorf im Norden Norwegens. Er ist am Ende seiner Lehrerausbildung, einige Prüfungen stehen noch aus. Er will ein Jahr lang an dieser Schule arbeiten. Obwohl die Dörfler freundlich sind, fühlt er sich in der Enge dieser Gemeinschaft nicht so recht wohl.
Im ersten Drittel des Buches begleiten wir den Protagonisten in seinem Lehreralltag. Wir lernen ihn ziemlich gut kennen und merken bald, dass etwas nicht mit ihm stimmt. Henrik ist psychisch instabil und hat Schwierigkeiten damit, Beziehungen aufzubauen. Er fühlt sich einsam, leidet unter Scham- und Schuldgefühlen, bezieht alles auf sich, hat manchmal fast paranoide Vorstellungen davon, dass Mitmenschen über ihn reden und sich über ihn lustig machen und wird von seinem Selbsthass und seinen selbstdestruktiven Tendenzen gequält. Manchmal verschwimmen die Grenzen zwischen Traum und Realität. Wahrscheinlich haben wir es mit einer Borderline-Struktur und -Persönlichkeit zu tun.
Sein schlimmstenfalls krankheitswertiges, bestenfalls pubertär-unsicheres Wesen führt zwangsläufig zu auffälligem und befremdlichem Verhalten, so dass seine Umgebung ihn fraglich findet und skeptisch beäugt.

Und dann passiert das Ungeheuerliche!
Er, der selbst pubertär und unreif anmutet, verliebt sich in eine 13-jährige Schülerin.
Begierde, Phantasie, der Beginn einer Affäre, eine einmalige erotische Begegnung.
Was ist, darf nicht sein!
Er flieht aus Angst vor Entdeckung und Bestrafung in den Süden des Landes.
Dort gibt er sich intensiv seinem Innenleben hin.
Er beschäftigt sich mit sich und seiner Vergangenheit, in der seine Andersartigkeit und Beziehungsstörung bereits offensichtlich waren. Schon damals legte er grenzüberschreitende Verhaltensweisen an den Tag und sein obsessiver Wunsch, eine Freundin zu finden verführte ihn dazu, zum Stalker zu werden. Wir lesen von seinen Eltern und erfahren, wie sie sich kennengelernt haben
Henrik will Vergangenes aufarbeiten, überlässt sich seinen endlosen Assoziationen, überbordenden Phantasien, exzessiven Träumereien und fast zermürbenden Grübeleien.

Die tiefgründigen psychologischen Analysen und interessanten philosophischen Betrachtungen waren für mich als Psychoanalytikerin äußerst interessant, wenn auch zeitweise zu ausufernd und ziemlich anstrengend.
Dass der Roman aus diesem Grund derart umfangreich wurde, wundert mich nicht.

Karl Ove Knausgårds wortgewaltige Sprache und die kraftvollen Bilder, sowie seine prägnanten und stimmungsvollen Beschreibungen von Landschaft und Natur gefielen mir außerordentlich gut.

Das Spannende und Absurde ist, dass wir Henriks Geschichte aus seiner Perspektive erfahren und diese Tatsache dazu verführt, Vieles zu bagatellisieren, zu beschönigen und zu verstehen und Vieles so einzuordnen und in dem Licht zu sehen, wie Henrik selbst es macht.
Er könnte es schaffen, einen um den Finger zu wickeln, wenn man nicht immer wieder einen Schritt zurücktreten würde, um die Geschehnisse und Entwicklungen aus einer anderen, nämlich der Fremd-Perspektive zu betrachten. Der Leser muss aufpassen, um nicht von Henrik manipuliert und beeinflusst zu werden. Er darf sich nicht verwickeln lassen. Ich musste mich immer wieder herauswinden aus seiner Sicht der Dinge, um einen klaren Kopf zu behalten.
Das war oft mühevoll und unangenehm.
Dass der Autor so etwas bewirkt und auslöst lässt mich bewundernd staunen!

Wer sich nicht von der Dicke des Buches abschrecken lässt, wem es nichts ausmacht, viele Stunden mit einem unsympathischen Protagonisten zu verbringen und wer sich nicht daran stört, dass der Autor sich oft in Details, Beschreibungen und zusammenhanglosen Ab- und Ausschweifungen verliert, sollte dieses herausragende Werk lesen. Es war für mich kein vergnügliches, aber ein besonderes und beeindruckendes Leseerlebnis.

Jetzt, nach der Lektüre dieses Erstlingswerkes, frage ich mich, was eigentlich so skandalträchtig an diesem über 900-seitigen Roman ist. Die Beziehung des 26-jährigen Aushilfelehrers Henrik Vankel zu seiner 13-jährigen Schülerin Miriam ist zwar haarsträubend, empörend und skandalös, aber ihre Entstehung ist psychdynamisch nachvollziehbar und psychoLOGISCH und deren Schilderung nimmt vergleichsweise wenig Raum ein. Nach den ersten 300 Seiten mutiert sie zur Nebensache, weil von da an Henriks Vergangenheit fokussiert wird. Mir scheint, dass es eher aufsehenerregend ist, dass öffentlich bekannt und angeprangert wird, dass Norwegen minderqualifizierte Lehrkräfte einstellt.

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Veröffentlicht am 02.12.2020

Interessante und unterhaltsame Coming of Age Geschichte vor brisantem Hintergrund.

Dorfroman
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In dem Roman geht es im Großen um eine der größten, umstrittensten und bekanntesten Investitionsruinen im Nachkriegsdeutschland:
Der „schnelle Brüter“ von Kalkar.
Im Kleinen geht es um das Aufwachsen ...

In dem Roman geht es im Großen um eine der größten, umstrittensten und bekanntesten Investitionsruinen im Nachkriegsdeutschland:
Der „schnelle Brüter“ von Kalkar.
Im Kleinen geht es um das Aufwachsen und Erwachsen werden des Ich-Erzählers Peter.

Die Meinungen der Bewohner eines bäuerlich und katholisch geprägten Dorfes am unteren Niederrhein gehen stark auseinander, als in den 80-er Jahren in ihrer Nähe, in Kalkar, ein Kernkraftwerk, ein sogenannter Brutreaktor oder „schneller Brüter“, gebaut werden soll.

Zwei gegensätzliche Haltungen stoßen aufeinander:
Es gibt die Konservativen und Traditionsbewussten, die am Alten festhalten und das Bewährte und Gewohnte schätzen und es gibt die Fortschrittlichen und Modernen, die Veränderung und Entwicklung favorisieren, weil sie darin die Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand sehen.
Ein Teil des Kirchenvorstands will kirchliche Ländereien an die Kraftwerksgesellschaft verkaufen, der andere Teil und die Landwirte sind gegen den Bau des Hochtemperaturreaktors.

Als wäre das nicht schon konfliktträchtig genug, schaltet sich noch eine dritte Gruppe von außerhalb dazu: die Atomkraft-Gegner.
Sie wollen mit ihren politischen Aktivitäten den Bau blockieren und unterbinden, wodurch sie den Aufruhr im Dorf noch verstärken.
Die Konflikte kochen hoch, die bis dahin gut funktionierende Dorfgemeinschaft wird zerstört.

Peter wächst mitten in diesem Tumult auf, erzählt melancholisch und beschreibt detailliert in drei Handlungssträngen und Zeitebenen seine Geschichte und die des Dorfes.
Wir lernen ihn in seiner Kindheit, in der Teenagerzeit und als Erwachsenen kennen und erleben sämtliche Entwicklungsphasen mit.

Er bewundert seinen Vater, der ein Entscheidungsträger im Kirchenvorstand ist, für dessen Engagement, was den Bau des Reaktors anbelangt.
Er setzt sich mit seinen Eltern, der Kirche und dem politischen Geschehen auseinander, hinterfragt Obrigkeiten, zweifelt Autoritäten an, rebelliert, protestiert.
Er verliebt sich mit fast 16 Jahren erstmals in die um sechs Jahre ältere Juliane, eine Atomkraft-Gegnerin, entwickelt ein politisches Bewusstsein, kehrt dem Dorf den Rücken, zieht nach Berlin und besucht schließlich Jahrzehnte später seine inzwischen hochbetagten Eltern in dem Dorf seiner Kindheit und Jugend. Ein Besuch, der Erinnerungen weckt und von denen wir hier lesen.

Christoph Peters erzählt unaufgeregt, einfühlsam und ruhig von einer wohlsituierten Mittelstandsfamilie vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten und Spannungen anlässlich des geplanten Reaktorbaus in der noch jungen Bundesrepublik.

„Dorfroman“ ist eine packende und kluge Coming of Age-Geschichte, die ein recht genaues und ziemlich interessantes Bild des damaligen westdeutschen Zeitgeschehens und des ländlichen Milieus mit seinen Sitten und Bräuchen vermittelt.

Christoph Peters präsentiert mit seinem Buch anspruchsvolle, interessante und lesenswerte Unterhaltung

Übrigens: Der „schnelle Brüter“ in Kalkar wurde 1985 fertiggestellt, aber wegen sicherheitstechnischen und politischen Bedenken nie in Betrieb genommen. 1991 wurde das Projekt eingestellt.

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Veröffentlicht am 02.12.2020

Brillant und verstörend!

Der Mann, der alles sah
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Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, die auf zwei Zeitebenen spielen. Beide sind in der Nähe von bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen angesiedelt.
Der erste Teil spielt im Jahr 1988, ...

Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, die auf zwei Zeitebenen spielen. Beide sind in der Nähe von bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen angesiedelt.
Der erste Teil spielt im Jahr 1988, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer und der zweite Teil ist 2016, im Jahr des Brexitvotums, angesiedelt.

Mit Aufklappen des Buches begeben wir uns in den Herbst 1988 nach London.
Gleich zu Beginn werden wir Zeugen eines Unfalls auf der Abbey Road, also dort, wo die Beatles ihr berühmtes Albumcover aufgenommen haben.

Der 28-jährige Ich-Erzähler Saul Adler, ein Historiker, der das kommunistische Osteuropa beforscht, betritt einen Zebrastreifen und muss auf den Gehweg zurückspringen, als ein Jaguar ungebremst auf ihn zufährt.
Saul stürzt, der Fahrer, ein Mittsechziger mit silbernen Haaren, bremst und steigt aus.
Er ist besorgt, aber Saul scheint nicht allzu sehr verletzt zu sein.
Der größte Schaden ist wohl der zersplitterte Außenspiegel des Fahrzeugs.

Warum sich Saul hier in der Abbey Road am Zebrastreifen aufhält?
...um von seiner 23-jährigen Freundin Jennifer Moreau, einer Kunststudentin, ein Foto von sich machen zu lassen, auf dem er in dieser legendären Straße den berühmten Zebrastreifen nach dem Vorbild der Beatles auf dem Cover ihres Albums „Abbey Road“ überquert.
... um dieses Foto der beatlesbegeisterten Luna Müller zu schenken, bei der er übergangsweise wohnen wird, wenn er in drei Tagen zu Forschungszwecken nach Ostdeutschland fahren wird.

Als wäre der Schock des Unfalls nicht schon genug, lässt der zweite Schlag nicht auf sich warten:
Trotz ihrer Leidenschaft für den hochattraktiven Saul lehnt Jennifer unberührt und kaltherzig seinen Heiratsantrag ab, weil dieser sich nicht ehrlich und ausreichend für sie und ihre Kunst interessieren würde... und weil sie ohnehin vorhabe, nach ihrem Examen in eine Künstlerresidenz nach Massachusetts zu ziehen.

Vor dem Hintergrund des Todes seines kommunistischen Vaters vor drei Wochen, hat Saul, der mit 12 Jahren schon den Verlust seiner Mutter verkraften musste, fürs Erste wirklich genug Erschütterungen zu verdauen.
„Ehrlich gesagt fühlte ich mich angesichts des Autounfalls und der Ablehnung meines allerersten Heiratsantrags, als hätte man mich verprügelt.“ (S. 40)

Als Saul in Ostberlin ankommt, wird er von dem ca. 30-jährigen zuvorkommenden Walter Müller empfangen, der ihm als Dolmetscher zugeteilt worden ist und bei dessen Mutter Ursula und Schwester Luna er übernachten soll.
Das Foto, auf dem er genauso wie Jahre zuvor John, Paul, Ringo und George die Abbey-Road überquert, hat Saul dabei.
Die Dose Ananas, um die ihn Walter gebeten hat, hat er allerdings vergessen.

Im Verlauf der Lektüre lernen wir Saul aufgrund von eingestreuten Erinnerungen und Rückblicken immer besser kennen.

Er vermisst seine verstorbene Mutter, deren Perlenkette er trägt und er hat(te) ambivalente und konfliktreiche Beziehungen zu seinem autoritären, abwertenden und strafenden Vater und zu seinem Bruder, der ihn als Kind verprügelte.

Es ist äußerst interessant, in den Alltag der ehemaligen DDR einzutauchen und vom Heizen mit Braunkohle und Schlange stehen wegen einer der sehr seltenen Bananenlieferungen zu lesen.
Außerdem erfahren wir von den Gartenzwergen der Datschenbesitzer, vom Risiko, auf der Straße grundlos einen unbekannten Ausländer zu grüßen, vom allgegenwärtigen Interesse der Stasi und davon, dass Homosexuelle anscheinend das Regime destabilisieren.

Fast 30 Jahre später wird Saul, inzwischen 56 Jahre alt, erneut auf der Abbey-Road angefahren.

Wieder will er über den Zebrastreifen gehen, den die Beatles im August 1969 im Gänsemarsch überquert haben.
Wieder kommt ein Jaguar auf ihn zu.
Wieder hält er nicht an.

Ein Déja vue...
Aber Saul wird dieses Mal schwer verletzt. Er muss im Krankenhaus operiert werden. Der geringste Schaden ist der zersplitterte Außenspiegel des Fahrzeugs.

Sauls Kopfverletzung und das Morphium gegen die postoperativen Schmerzen führen zu geistiger Verwirrung.
Die Zeit gerät durcheinander, Erinnerungen verrutschen und Inhalte verschieben sich.
Sie liegen jetzt lose nebeneinander wie Puzzleteile, die darauf warten, zu einem Bild zusammengefügt zu werden. Sie liegen herum wie die Splitter des Außenspiegels der Unfallfahrzeuge... zusammenhanglos und unsortiert.

Deborah Levy hat eine schöne, bildhafte Sprache und erzählt lebendig und flott.
Sie hält überraschende Entwicklungen und unvorhergesehene Wendungen bereit, was mich immer wieder staunen ließ und meine Neugierde auf das Kommende steigerte.

Ein Beispiel für eine wunderschöne bildhafte Formulierung möchte ich anführen:
„... dass ich als Kind der Arbeiterklasse unter den feinen Pinkeln für Aufregung sorgte wie die Katze im Taubenschlag.“ (S. 30)

Es ist brillant, wie sie den Leser überrascht, verblüfft, verunsichert, verwirrt und auf falsche bzw. unklare Fährten lockt.
Was ist wahr, was ist fiktiv?
Was ist Psychose, postoperatives Delir mit Wahnvorstellungen oder Halluzinationen, was ist Traum, Erinnerung, Fantasie oder gegenwärtige Realität?
Was war früher, was ist heute?

Deborah Levy spielt mit den Wörtern, mit den Zeiten, mit dem Inhalt und letztlich mit dem Leser, der sich auf dieses Spiel einlassen muss, um ein überzeugendes Lesevergnügen zu erleben.

Der beeindruckende Roman der in Südafrika geborenen britischen Schriftstellerin Deborah Levy wurde für den Booker Preis nominiert und jetzt, nach der Lektüre, kann ich das sehr gut nachvollziehen.

Er ist auf faszinierende Weise packend, mitreißend und berührend und übt einen regelrechten Sog aus.
Einmal begonnen, ist es schwer, die Lektüre zu unterbrechen.

Beim Zuklappen des Romans hatte ich das Gefühl, mich schütteln zu müssen wie ein Hund, der gerade triefend nass den See verlässt, in dem er gebadet hat.
Warum?
Um aus dieser Traumwelt aufzutauchen.
Um wieder in der Realität anzukommen.




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