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Veröffentlicht am 26.11.2020

Spannend und entspannend!

Lacroix und die stille Nacht von Montmartre
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Auch am dritten Kriminalroman, in dem der scharfsinnige und etwas altmodische Kriminalkommissar Lacroix die Hauptrolle spielt, bin ich nicht vorbei gekommen.
Schon die außergewöhnlich schöne Gestaltung ...

Auch am dritten Kriminalroman, in dem der scharfsinnige und etwas altmodische Kriminalkommissar Lacroix die Hauptrolle spielt, bin ich nicht vorbei gekommen.
Schon die außergewöhnlich schöne Gestaltung des Buches lenkte meine Aufmerksamkeit in seine Richtung.
Das in Blau- und Brauntönen gehaltene Cover mit Christbaum und Lichterketten versetzte mich unweigerlich in winterlich-weihnachtliche Stimmung und der leuchtend rote Farbschnitt schafft einen spannenden Kontrast dazu.
Dieser gegensätzliche äußere Auftritt des Buches symbolisiert den Inhalt: wir bekommen einen ruhigen und fesselnden Kriminalroman zu lesen.

Es war mir schon vor dem Lesen des Klappentextes und vor dem Aufschlagen des Buches klar, dass ich diesen Kriminalroman, der, wie ich richtig vermutete, im weihnachtlichen Paris spielen muss, lesen werde!

Kommissar Lacroix sitzt eine Woche vor Hl. Abend gelangweilt in seiner Stammkneipe und blättert leidenschaftslos in der Zeitung.
Das aktuelle Gesprächsthema der Pariser, der bevorstehende starke Schneefall sowie die Hoffnung und Vorfreude auf weiße Weihnachten, erweckt ihn auch nicht zum Leben.

Als er auf einen Artikel stößt, in dem davon berichtet wird, dass im Bezirk Montmartre die weihnachtlichen Lichterketten gestohlen wurden, schlägt sein Herz höher.

Er wird neugierig und fast schlagartig aus seiner vorweihnachtlich ruhigen, gelangweilten und fast lethargischen Stimmung gerissen.

Lacroix ist für diesen Fall zwar nicht zuständig, weil er das Kommissariat in einen anderen Arrondissement leitet, aber er interessiert sich brennend dafür, wer die prächtige Weihnachtsbeleuchtung gestohlen und am Folgetag den Christbaum gefällt hat.

Die Straftaten riechen auf den ersten Blick zwar förmlich nach bloßer und blinder Zerstörungswut, aber er kommt intuitiv zu der Überzeugung, dass mehr als Vandalismus hinter diesen Taten steckt und bietet seiner für Montmartre zuständigen netten und im Moment stark erkälteten Kollegin Rose Violet seine Unterstützung an.

Niemand scheint etwas gesehen oder bemerkt zu haben. Weder Touristen, noch die Künstler oder Bewohner des Viertels haben auf den wegen Kälte und Schneefall ausgestorbenen Straßen und Gassen von Montmartre etwas beobachtet.

Zwei Straftaten.
Viele Zweifel,
kaum Zeugen und
keine Beweise.
Das wäre eine schlechte Ausgangssituation, wenn da nicht das Unbewusste, die Intuition und die Hartnäckigkeit des sympathischen Kommissars Lacroix wären...

Alex Lépic präsentiert 208 Seiten spannenden und entspannenden Lesegenuss, den sich niemand entgehen lassen sollte, der das Pariser Flair liebt, atmosphärische, unblutige und unaufgeregte Krimis mag und bereits ein Faible für Simenon- und Agatha Christie-Kriminalromane hat.

Ich rätselte mit, musste Spekulationen verwerfen und wurde mit unvorhergesehenen Wendungen überrascht.
Die gemeinsamen Mahlzeiten und Gespräche mit seiner Frau Dominique, der Bürgermeisterin, waren „wie immer“ unterhaltsam und erhellend und ich las mit großem Vergnügen von den Zusammentreffen mit der von Lacroix alles andere als geliebten, aber gewieften Reporterin Romy Schneider.

Das Buch lässt sich übrigens ohne Weiteres unabhängig von seinen beiden Vorgängern lesen, aber aus eigener Erfahrung muss ich sagen, dass es das Lesevergnügen noch erhöht, wenn man Lacroix, einen charakterstarken, schlauen und sympathischen Genießer mit diversen Eigenheiten von Anfang an kennenlernt und miterlebt.
Ein Handy hat er übrigens immer noch nicht!

Klare Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 25.11.2020

Originell, unterhaltsam und interessant!

Goldene Jahre
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Etwas, das seit über 50 Jahren existiert, ist fester Bestandteil, gibt Orientierung und Halt.
Der Kiosk, den Margrit und Rosa-Maria in einem Dorf in den Schweizer Bergen betreiben, ist so ein Fixpunkt. ...

Etwas, das seit über 50 Jahren existiert, ist fester Bestandteil, gibt Orientierung und Halt.
Der Kiosk, den Margrit und Rosa-Maria in einem Dorf in den Schweizer Bergen betreiben, ist so ein Fixpunkt.
Allerdings einer, dessen beste Jahre schon der Vergangenheit angehören.
Die Leuchtreklame auf dem Dach zieht die Aufmerksamkeit trotzdem immer noch auf sich und die Zapfsäule ist nicht nur die einzige Tankmöglichkeit im Ort, sondern auch das Rudiment der einst zum Kiosk gehörigen Tankstelle.
Noch immer wird man hier freundlich und diskret mit Waren, Nachrichten und Informationen versorgt.

Was Arno Camenisch da macht, ist einfach nur originell:
Er lässt Margrit und Rosa-Maria ihren Kiosk für uns öffnen und von ihren „goldenen Jahren“, in denen alles besser war, erzählen.
Dieses Erzählen geschieht über ein Gespräch, das die beiden so ganz en passant an einem typischen Arbeitstag mit dem immergleichen Ablauf miteinander führen. Dabei wechseln sie munter zwischen den verschiedensten Themen hin und her.
Über die Damen selbst erfahren wir dabei aber nichts, obwohl sie ohne Punkt und Komma schwatzen und tratschen. Nicht einmal, ob sie Familien haben, Schwestern oder Freundinnen sind.
Aber aus Andeutungen kann man schließen, dass sie einst nichts haben anbrennen lassen.

1969, im Jahr des Summer of Love und der Mondlandung, haben die beiden inzwischen über 70-jährigen Frauen ihren Kiosk eröffnet und vor kurzem haben sie ihr 50-jähriges Jubiläum gefeiert!
Dazwischen ist so einiges passiert und über all das wird frisch-fröhlich geplaudert.
Vom bedeutungslosen aber interessanten Klatsch und Tratsch bis hin zur hohen Politik und großen Weltgeschichte.
Sie erinnern sich an einen Dreh für einen James Bond-Film mit Roger Moore, an die Tour de Suisse, daran, dass Sportler, Fans und Prominente bei ihnen eingekauft haben.
Einmal hatte sogar eine Kundin mit einem Los von ihnen in der Lotterie gewonnen.
Sie haben diverse Liebesgeschichten und Skandale miterlebt und dem Pfarrer verkauften sie diskret Sexheftchen. Ereignisse wie Tschernobyl oder der Mauerfall in Deutschland fallen ihnen genauso ein, wie Hochwasser-Katastrophen und Lawinenunglücke. Auch um den Klimawandel kommen sie in ihrem Plausch nicht herum.

Die beiden haben mit ihrem kleinen Geschäft, das sie renoviert und modernisiert haben, wenn es nötig war, allen Widrigkeiten getrotzt. Sie haben alles überstanden und sind noch heute das Zentrum im Dorf.
Alles ist picobello.
Alles hat seine Ordnung.
Alles geht seinen gewohnten Gang. Alles wird gehegt und gepflegt.

Dass die Umgehungsstraße ihnen die Laufkundschaft rauben und ihren Niedergang bedeuten könnte, ist eine nicht von der Hand zu weisende Befürchtung.
Mal sehen, was draus wird. Unterkriegen lassen sich die beiden optimistischen und tapferen Seniorinnen auf jeden Fall noch nicht.

Mir gefiel nicht nur der Inhalt, sondern auch die außergewöhnliche, alpenländisch gefärbte Sprache und der nostalgische Ton der Damen in ihrem erfrischenden Zwiegespräch über das Vergangene.
Dass ich das ein oder andere Wort nachschlagen „musste“, war überhaupt kein Problem für mich. So wird man schlauer

Ich kann gut nachvollziehen, dass der Autor mit seinem ganz besonderen Buch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020 gelandet ist.

Ich empfehle dieses schmale und äußerst unterhaltsame Bändchen, das mir gute 2 Stunden Lesevergnügen verschaffte sehr gerne weiter!

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Veröffentlicht am 23.11.2020

Ein tiefgründiger Leckerbissen mit überraschenden Wendungen!

Die Rezepte meines Vaters
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Eine berührende Familiengeschichte.
Eine ergreifende Geschichte über eine Vater-Sohn-Beziehung.
Eine erstaunliche Coming-of-Age Geschichte.
Ein bewegender Entwicklungsroman.

So könnte man das Buch „Die ...

Eine berührende Familiengeschichte.
Eine ergreifende Geschichte über eine Vater-Sohn-Beziehung.
Eine erstaunliche Coming-of-Age Geschichte.
Ein bewegender Entwicklungsroman.

So könnte man das Buch „Die Rezepte meines Vaters“ einordnen.

Zu Beginn des Romans, der in Frankreich spielt, sitzt der erwachsene, ca. 1960 geborene, Ich-Erzähler Julien, am Krankenhausbett seines Vaters in der Palliativstation.

Seit sechs Monaten liegt Henri dort. Vor drei Wochen ist er ins Koma gefallen.
Der Tod scheint unmittelbar bevorzustehen.

Julien schwelgt in Erinnerungen und erzählt seinem Vater aus seinem Leben.
Er erinnert sich an viele Episoden und gemeinsame Erlebnisse im „Le Relais fleuri“, dem Bistro seines Vaters, das er jetzt am Laufen hält.

Dabei wird immer klarer, dass wir es mit einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung zu tun haben.

Julien konnte seinen Vater, den kühlen, wortkargen und unnahbaren Küchenchef wohl trotz aller Bemühungen emotional nicht erreichen.

Es resultierte ein distanziertes Verhältnis, das von Seiten des Sohnes einerseits von Bewunderung, tiefer Zuneignung und großer Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung sowie andererseits von Wut und manchmal sogar Hass geprägt war.

Eine eindrückliche Aussage des Sohnes, die diese traurige Tatsache bestätigt, ist: „Ich mag es, wenn du mit mir meckerst. Das heißt, dass du dich für mich interessierst.“ (S. 68)

Es macht großen Spaß, über die Gedanken und Erinnerungen des Ich-Erzählers in die Welt des Kochens einzutauchen.
Julien erinnert sich an die Spezialitäten und Lieblingsrezepte seines Vaters Henri, einem außergewöhnlichen und leidenschaftlichen Koch, es fallen ihm Szenen aus der Küche ein und er erzählt feinfühlig und warmherzig Anekdoten aus seiner Kindheit und Jugend im Bistro, das im Erdgeschoss des Elternhauses untergebracht ist.

Wir lernen Julien, seine Biographie, seinen Alltag, seine Innenwelt und seine Bezugspersonen auf diese Weise immer besser kennen.

Obwohl das Setting ernst, bedrückend und traurig ist und obwohl ein Hauch von Sehnsucht und Wehmut über der Geschichte schwebt, ist es keineswegs deprimierend, den Roman zu lesen.

Wenn man von pochierten Eiern mit Pfifferlingen und Zitronentarte liest, läuft einem das Wasser im Mund zusammen, wenn man sich mit Hilfe von Juliens gedanklicher Beschreibung vorstellt, wie Königinpastete zubereitet wird, bekommt man Lust aufs Kochen, es ist amüsant, zu lesen, dass der Sohn nicht selten Rotwein, Schinken im Heumantel, Käse und andere Delikatessen ins Krankenzimmer geschmuggelt hat, um seinem Vater eine kleine Freude zu bereiten und es ist rührend, zu beobachten, wie der Sohn seinen Vater mit einem Duftwasser einreibt, obwohl dessen Motto während seiner Berufstätigkeit war: „Ein Koch benutzt kein Duftwasser. Das verdirbt ihm die Nase und die Geschmackszellen.“ (S. 11)

Daneben gibt es auch Momente, in denen man ziemlich wütend auf den ungeduldigen, barschen und ziemlich kaltherzigen Vater wird.
Er war dem Sohn, der von Kindesbeinen an selbst leidenschaftlich am Kochen interessiert war und nach drei zermürbenden Jahren an der technischen Fachoberschule und einem Studium der Literaturwissenschaften inzwischen Vaters Bistro über Wasser hält, ein ziemlich schlechter Lehrmeister.

Stop! Darauf sollte ich vielleicht differenzierter eingehen.
Julien hat Talent und Begeisterung von seinem Vater „geerbt“ und unglaublich viel von seinem Vater gelernt, weil der ihn mithelfen, über die Schulter schauen und ausprobieren ließ, aber er hat ihm kein einziges Rezept erklärt und sich strikt geweigert, ihm seine Kochgeheimnisse anzuvertrauen oder sein Rezeptbuch zu vererben.
Und nicht nur das!
„In einem Anfall kalter Wut“ (S. 16) hat der Vater wohl eines Tages beschlossen, seine Rezeptsammlung verschwinden zu lassen.
Nicht selten fragt der Sohn sich nun, wo der Vater „das verfluchte Rezeptbuch“ (S. 18) versteckt haben könnte.

Julien erzählt trotz der spürbaren Einsamkeit und Wehmut zackig und lebendig. Man saust regelrecht durch das Buch, weil man neugierig auf diese Vater-Sohn-Beziehung und auf alles andere drum herum ist.

Schon recht bald erfährt man, dass Juliens Mutter Hélène eine Französischlehrerin ist, die ihre Nase ständig in Bücher steckt und man bekommt den Eindruck, dass Henri seine Partnerin, die er unter allen Umständen von der Küche fernhaften will, aufrichtig liebt und äußerst gern mit Champagner und Austern verwöhnt.

Etwas verblüfft lese ich, dass die Beziehung zwischen Vater und Sohn einst recht gut gewesen zu sein scheint.
Julien erinnert sich an viele Episoden mit seinem Vater, in denen man ihr Verhältnis unschwer als unbeschwert und den Vater ohne weiteres als liebevoll und geduldig beschreiben kann.

Eines Tages schenkt Hélène Henri ein Notizbuch, in das hinein sie seine Rezepte, die er ihr diktieren soll, schreiben möchte.
Von Diktat zu Diktat entfernen sich die beiden voneinander.
Sie, die einst so liebevoll und neckisch miteinander umgegangen sind, entfremden sich mehr und mehr.

Was ist da passiert?
Haben die Rezeptsammlung und der dadurch eingeleitete Prozess etwas damit zu tun, dass Henri und seine Beziehung zu seinem Sohn Julien sich so zum Nachteil verändert hat?
Und wo ist das Rezeptbuch, bei dem es um weit mehr als nur um Rezepte geht?

All das werde ich natürlich nicht erzählen.
Aber so viel verrate ich noch:
Es macht große Freude, Julien durch seine Kindheit und Jugend zu begleiten und darüber hinaus seine Familie, Freunde und Bekannte kennenzulernen.
Unaufgeregt, aber zügig und flott, feinfühlig und psychologisch stimmig und nachvollziehbar beschreibt Jacky Durand die inneren Prozesse und Handlungen seiner Protagonisten.
Ich war voll dabei und mitten drin.
Einige unvorhergesehene Wendungen überraschen den Leser ganz plötzlich und machen das Werk auf diese Weise zusätzlich zu einem Schmankerl.

Ich empfehle diesen besonderen und berührenden Roman, der schon gut beginnt und immer besser wird, äußerst gerne weiter.






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Veröffentlicht am 23.11.2020

Interessanter und informativer Blick in eine fremde Kultur.

Der Buchhändler aus Kabul
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Das auf Tatsachen beruhende Reportagebuch „Der Buchhändler aus Kabul“ von der norwegischen Schriftstellerin Åsne Seierstad erschien bereits 2002 erstmals im norwegischen Original.

Es geht in diesem Werk ...

Das auf Tatsachen beruhende Reportagebuch „Der Buchhändler aus Kabul“ von der norwegischen Schriftstellerin Åsne Seierstad erschien bereits 2002 erstmals im norwegischen Original.

Es geht in diesem Werk um ihren mehrmonatigen Aufenthalt in Afghanistan nach dem Sturz des Talibanregimes.

Sie verbrachte diese Zeit in der in Kabul lebenden Familie des eleganten 56-jährigen Buchhändlers Shah Mohammad Rais, im Buch genannt Sultan Khan, und schildert in diesem Werk aus verschiedenen Perspektiven das für westliche Leser rückständig anmutende Leben dieser afghanischen Großfamilie.

Manches von dem sie berichtet, hat sie selbst erlebt, manche Geschichten, Gedanken oder Emotionen wurden ihr erzählt und anvertraut.

Abwechselnd kommen der Buchhändler, der neben offiziellen Büchern auch „verbotene Literatur“ verkauft, seine Frauen oder Kinder zu Wort.
Dabei erfahren wir in 19 locker miteinander verknüpften Episoden viel über den Lebensalltag in Afghanistan, die Sorgen, Nöte und Hoffnungen der Menschen sowie über die Rolle, die Situation und den Zwiespalt der afghanischen Frauen, die seit Generationen dermaßen von den zementierten und gewachsenen Strukturen geprägt wurden, dass sie ihr Los oft als unumstößlich bzw. selbstverständlich ansehen.

Wir erfahren so manches über den Buchhändler und seinen Laden, über sein hartes Regiment als Familienoberhaupt, über teilweise befremdliche Rituale und häufig diskriminierende Traditionen, das Tragen der Burkha, Brautwerbung, Hochzeiten, Zwangsverheiratungen, Mehrehe, Bildungssystem, Moralvorstellungen, die Schreckensherrschaft der Taliban, und vieles mehr.

Wir lesen von einem Besuch im Hammam, von einer religiösen Pilgerfahrt und von einem Marktbesuch.

Aus vielen Puzzleteilen entsteht so ein buntes, lebendiges, atmosphärisches und facettenreiches Bild.

Das Buch hat eine umstrittene und bewegte Vergangenheit hinter sich. Es hat sehr kontroverse Debatten ausgelöst, da es von der Buchhändlerfamilie nach der Veröffentlichung angefochten wurde.
Die Familie fühlte sich in ihrer Ehre gekränkt und zog gegen Autorin und Verlag vor Gericht.
Ein 13 Jahre andauernder Prozess folgte.
Eine der Frauen des Buchhändlers warf der Autorin vor, Gerüchte verbreitet zu haben und der Buchhändler selbst klagte sie wegen Verleumdung an.
In späteren Übersetzungen strich Åsne Seierstad einige Passagen.

Nach der Lektüre des am 1.9.2020 im Kein & Aber Verlag erschienenen Taschenbuchs kann ich unschwer nachvollziehen, dass die 1970 geborene Kriegsreporterin Åsne Seierstad für ihr meines Erachtens sachliches und informatives Werk, das eher Bericht als Roman ist, mehrere Auszeichnungen erhielt.

Ich empfehle es sehr gerne weiter! Es regt zum Nachdenken an, ist intensiv, unterhaltsam und kurzweilig, gleichermaßen fesselnd wie beklemmend und hallt nach.

Es brachte mich in Berührung mit einer fremden Kultur, gestattete mir Einblicke in eine andere Welt und erlaubte mir einen Blick über den Tellerrand.
Neben all dem Lob möchte ich aber auch betonen, dass dieses Buch kritisch gelesen werden muss, obwohl die Autorin nicht wertet oder urteilt.
Der Leser kann selbst seine Schlüsse ziehen, sollte aber die Geschichte und Hintergründe des Buches nicht außer acht lassen.
Wo endet die Wahrheit, wo beginnt die Fiktion?
Was wurde in den Geschichten, die man ihr erzählte beschönigt, was war real?
Was konnte die Autorin aufgrund der Sprachbarriere vielleicht nicht richtig interpretieren oder nachvollziehen?


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Veröffentlicht am 22.11.2020

Spannender Thriller, v. a. für Eltern...

Wenn ich dich hole
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Der neunjährige Lewe und seine Mama Insa sind zu Besuch bei der Oma in Niebüll / Nordfriesland.
Als die beiden Frauen zum Einkaufen gehen, bleibt Lewe daheim.
Und dann wird‘s brenzlig, denn der Schneesturm ...

Der neunjährige Lewe und seine Mama Insa sind zu Besuch bei der Oma in Niebüll / Nordfriesland.
Als die beiden Frauen zum Einkaufen gehen, bleibt Lewe daheim.
Und dann wird‘s brenzlig, denn der Schneesturm wird immer heftiger und Mutter und Großmutter kommen nicht zurück.

Lewe wird es mulmig ums Herz und er ruft seinen Papa Bendix Steensen an, der sich auf dem Rückweg von einer Geschäftsreise befindet und wegen einer Unwetterwarnung in London auf dem Flughafen feststeckt.
Sein Flug nach Hamburg wurde gestrichen!

Bendix versucht vergeblich, seine Frau zu erreichen und als sein Sohn immer öfter anruft und immer ängstlicher und verzweifelter klingt, verständigt er die Polizei in Niebüll, die zunächst nicht glaubt, dass es sich um eine ernst zu nehmende Situation handelt, sich dann aber doch kümmert.

Der Rückruf der Polizei mit der Information, dass es Lewe gut gehe und sich eine weibliche Verwandte um ihn kümmere zieht Bendix den Boden unter den Füßen weg.

Was geht da vor sich?
Wer ist diese mysteriöse weibliche Verwandte?
Er wittert Gefahr. Große Gefahr.

Die Atmosphäre ist dicht, angstvoll, knisternd und der Inhalt, der aus verschiedenen Perspektiven vermittelt wird, ist fesselnd.
Die Vielseitigkeit und Komplexität der Charaktere hat die Autorin gut vermittelt, die Schauplätze und Handlungen gut beschrieben.

Dieser spannende und unterhaltsame Debütroman, der die tiefsten Ängste aller Eltern zu Tage fördert, hat mir nicht zuletzt deshalb so gut gefallen, weil er ohne blutrünstige, ekelhafte und brutale Szenen auskommt!
Die Spannung erschafft Anja Goertz rein mit atmosphärischen und emotionalen Mitteln. Psychologischer Nervenkitzel pur.

Einzige Kritik: die Darstellung des Dorfpolizisten Bruno ist der Autorin nicht gelungen. Sie hat hier das kitschige Klischee vom trotteligen und dusseligen Büttel bedient und das gefiel mir nicht.

Ansonsten ist dieser erste Thriller von Anja Goertz ein empfehlenswerter Pageturner, der einen schrecklichen Tag mit einem alptraumhaften Szenario im Leben der Familie Steensen schildert und v. a. Eltern Gänsehaut verursacht.


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