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Veröffentlicht am 10.12.2020

Eine beachtliche Frau, ein bemerkenswertes Leben...

Annette, ein Heldinnenepos
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Wie schön, dass einer bemerkenswerten Person schon zu ihren Lebzeiten und nicht erst nach ihrem Tod ein Denkmal gesetzt wird.
In diesem Fall geht es um die französische Ärztin und Widerstandskämpferin ...

Wie schön, dass einer bemerkenswerten Person schon zu ihren Lebzeiten und nicht erst nach ihrem Tod ein Denkmal gesetzt wird.
In diesem Fall geht es um die französische Ärztin und Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir, genannt Annette, die am 30. Oktober 1923 in der Bretagne geboren wurde.

Was des Weiteren bemerkenswert ist, ist die Art des Denkmals, das die Schriftstellerin Anne Weber ihr setzt. Es ist kein Roman, sondern ein Prosagedicht bzw. eine Mischung aus Prosa und Lyrik.

Aber keine Sorge!
Der Lesefluss wird nicht gestört und die Lektüre nicht erschwert.
Im Gegenteil. Wenn man sich ein bisschen eingelesen und daran gewöhnt hat, wird durch diese nicht alltägliche und etwas altertümliche Form eines Narrativs das Besondere und Heldenhafte dieser Frau, die sich noch heute gegen Nationalismus, Rassismus und religiösen Fanatismus engagiert, sogar hervorgehoben und unterstrichen.

In dem absolut lesenswerten Werk erfahren wir von einem Leben voller Engagement und Gefahren. Schon als Jugendliche setzte sich Annette für die Résistance ein, half Menschen und rettete Menschenleben.

Nach dem Krieg ließ ihr Eifer nicht nach. Sie studierte Medizin, spezialisierte sich in den Fachrichtungen Neurologie und Neurophysiologie und engagierte sich lange Zeit für ein freies Algerien.
Ihre Unterstützung der algerischen Befreiungsfront FLN hatte 10 Jahre Haft zur Folge und nach ihrer Flucht half sie, das algerische Gesundheitssystem aufzubauen.
Der Militärputsch von 1965 machte eine erneute Flucht notwendig.
Auf Umwegen über die Schweiz und Amnestie gelangte sie schließlich nach Südfrankreich, wo sie noch heute lebt.

Welch’ bewegtes und anstrengendes Leben!

Wortgewaltig, überwältigend, lebendig und leichtfüßig zeichnet Anne Weber das Porträt einer bewundernswerten Frau.

Das Werk, in dem es um Ungehorsam, Widerstand, Rebellion, Humanismus, Gerechtigkeit, Mut, Einsatz und Kampf für Freiheit geht, wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Ich empfehle dieses interessante und besondere Epos sehr gerne weiter.

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Veröffentlicht am 07.12.2020

Das Werk: brillant. Der Inhalt: gleichermaßen abwegig wie real möglich.

Insel der verlorenen Erinnerung
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Die Dystopie „Insel der verlorenen Erinnerung“ ist im Japanischen bereits 1994 erschienen.
Erst jetzt, 26 Jahre später, wurde sie, wie viele ihrer anderen Werke zuvor, vom Liebeskind Verlag herausgegeben. ...

Die Dystopie „Insel der verlorenen Erinnerung“ ist im Japanischen bereits 1994 erschienen.
Erst jetzt, 26 Jahre später, wurde sie, wie viele ihrer anderen Werke zuvor, vom Liebeskind Verlag herausgegeben.
Dass Yoko Ogawa bereits vor so vielen Jahren eine dystopische Welt von solcher Wucht und mit solchem symbolischen Realitätsbezug geschrieben hat, fasziniert mich.
Vieles ist durchaus vorstellbar und erscheint gar nicht so abwegig, sondern real möglich.

Auf einer namenlosen Insel herrscht ein totalitäres Regime, das nur indirekt über seine unerbittliche Polizei in Erscheinung tritt.
Nach und nach verschwinden auf dieser Insel willkürlich ausgesuchte Dinge, z. B. Hüte, Fotos, Früchte, Vögel, Haarbänder, Rosen, Romane und schließlich auch die Erinnerungen an diese Dinge.
Die Vorstellung dieses Szenarios an sich ist erschreckend und löst schon vor und während der Lektüre dieses beeindruckenden Werkes verschiedenste Assoziationen aus.

Auf dieser Insel lebt eine junge Schriftstellerin, die diesen Prozess des Verschwindens höchst besorgt beobachtet und interessiert verfolgt, während viele andere Inselbewohner sich mit dieser Entwicklung recht gelassen oder sogar gleichgültig abfinden.

Die Schriftstellerin wurde schon vor langer Zeit hellhörig.
Damals wurde ihre Mutter, eine Bildhauerin, vom Regime verhaftet und abgeholt ... und als Leiche zurückgebracht.
Erlitt sie tatsächlich einen Herzinfarkt oder wurde sie vom Regime beseitigt, weil sie verbotenerweise einige dieser verschwundenen Dinge aufbewahrt hat?

Die erbarmungslose Inselpolizei „Erinnerungspolizei“ genannt, die ihre Augen und Ohren überall hat, will verhindern, dass sich die Menschen erinnern und sorgt dafür, dass alles auch wirklich verschwindet.
Sie führt brutale Razzien durch und verfolgt diejenigen Menschen, die sich erinnern und nicht vergessen können.

Eines Tages wird diese Polizei auf den Lektor der Schriftstellerin aufmerksam, der auch einer der wenigen Menschen zu sein scheint, der nicht vergessen kann und will.
Die Schriftstellerin beschließt, ihn in einem geheimen unterirdischen Raum in ihrem Haus zu verstecken.

Nun geht es darum, nicht entdeckt zu werden und den aktuellen Roman der Schriftstellerin zu Ende zu bringen. Es ist ein Roman, in dem die Erinnerungen konserviert, aufrechterhalten und festgehalten werden sollen.
Auch in diesem Roman im Roman verschwindet etwas: die Stimme der Protagonistin und letztlich sogar die Fähigkeit, zu schreiben.

In Yoko Ogawas Werk geht es nicht nur um die Bedeutung von Erinnerung und Vergangenheit, sondern auch um das emotionale Abstumpfen durch den Verlust der Erinnerung, um die Allmachtsphantasien der Menschen und um den Umgang mit Unterdrückung:
Anpassung, Unterordnung, blinder Gehorsam bishin zu Identifikation mit dem Unterdrücker oder eigenständiges, unabhängiges Denken und Rebellion?
Passives und konformes Mitlaufen oder aktives Handeln?
...hoch aktuelle und die Zeit überdauernde, brisante Fragestellungen!

Die japanische Autorin Yoko Ogawa schreibt auf den ersten Blick leidenschaftslos und nüchtern.
Trotzdem empfinde ich ihre Sprache als poetisch, eindringlich und bildhaft.
Diese Gleichzeitigkeit von Emotionslosigkeit und Poesie zog mich sofort in ihren Bann.
Durch ihre wunderschönen, anschaulichen und detailreichen Beschreibungen entsteht ein wahres Kopfkino.
Die Beschreibung des Verschwindens der Rosenblätter und ihr Dahintreiben auf einem Fluss löste bei mir beispielsweise gleichermaßen Faszination wie Gänsehaut aus.
Von Anfang an ist eine rätselhafte, beunruhigende und düstere Atmosphäre spürbar, die neugierig macht und ein subtiles Kribbeln verursacht.

Ich möchte den Roman mit dem ergreifenden Ende als brillanten, fesselnden und erschütternden Pageturner bezeichnen, der zum Nachdenken animiert und nachhallt.

Nach der Lektüre dieses verstörenden und eindrucksvollen Werkes kann ich gut nachvollziehen, dass es für den National Book Award und für den International Booker Prize nominiert wurde.

Ich empfehle diese großartige Dystopie sehr gerne weiter!


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Veröffentlicht am 02.12.2020

Brillant und verstörend!

Der Mann, der alles sah
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Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, die auf zwei Zeitebenen spielen. Beide sind in der Nähe von bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen angesiedelt.
Der erste Teil spielt im Jahr 1988, ...

Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, die auf zwei Zeitebenen spielen. Beide sind in der Nähe von bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen angesiedelt.
Der erste Teil spielt im Jahr 1988, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer und der zweite Teil ist 2016, im Jahr des Brexitvotums, angesiedelt.

Mit Aufklappen des Buches begeben wir uns in den Herbst 1988 nach London.
Gleich zu Beginn werden wir Zeugen eines Unfalls auf der Abbey Road, also dort, wo die Beatles ihr berühmtes Albumcover aufgenommen haben.

Der 28-jährige Ich-Erzähler Saul Adler, ein Historiker, der das kommunistische Osteuropa beforscht, betritt einen Zebrastreifen und muss auf den Gehweg zurückspringen, als ein Jaguar ungebremst auf ihn zufährt.
Saul stürzt, der Fahrer, ein Mittsechziger mit silbernen Haaren, bremst und steigt aus.
Er ist besorgt, aber Saul scheint nicht allzu sehr verletzt zu sein.
Der größte Schaden ist wohl der zersplitterte Außenspiegel des Fahrzeugs.

Warum sich Saul hier in der Abbey Road am Zebrastreifen aufhält?
...um von seiner 23-jährigen Freundin Jennifer Moreau, einer Kunststudentin, ein Foto von sich machen zu lassen, auf dem er in dieser legendären Straße den berühmten Zebrastreifen nach dem Vorbild der Beatles auf dem Cover ihres Albums „Abbey Road“ überquert.
... um dieses Foto der beatlesbegeisterten Luna Müller zu schenken, bei der er übergangsweise wohnen wird, wenn er in drei Tagen zu Forschungszwecken nach Ostdeutschland fahren wird.

Als wäre der Schock des Unfalls nicht schon genug, lässt der zweite Schlag nicht auf sich warten:
Trotz ihrer Leidenschaft für den hochattraktiven Saul lehnt Jennifer unberührt und kaltherzig seinen Heiratsantrag ab, weil dieser sich nicht ehrlich und ausreichend für sie und ihre Kunst interessieren würde... und weil sie ohnehin vorhabe, nach ihrem Examen in eine Künstlerresidenz nach Massachusetts zu ziehen.

Vor dem Hintergrund des Todes seines kommunistischen Vaters vor drei Wochen, hat Saul, der mit 12 Jahren schon den Verlust seiner Mutter verkraften musste, fürs Erste wirklich genug Erschütterungen zu verdauen.
„Ehrlich gesagt fühlte ich mich angesichts des Autounfalls und der Ablehnung meines allerersten Heiratsantrags, als hätte man mich verprügelt.“ (S. 40)

Als Saul in Ostberlin ankommt, wird er von dem ca. 30-jährigen zuvorkommenden Walter Müller empfangen, der ihm als Dolmetscher zugeteilt worden ist und bei dessen Mutter Ursula und Schwester Luna er übernachten soll.
Das Foto, auf dem er genauso wie Jahre zuvor John, Paul, Ringo und George die Abbey-Road überquert, hat Saul dabei.
Die Dose Ananas, um die ihn Walter gebeten hat, hat er allerdings vergessen.

Im Verlauf der Lektüre lernen wir Saul aufgrund von eingestreuten Erinnerungen und Rückblicken immer besser kennen.

Er vermisst seine verstorbene Mutter, deren Perlenkette er trägt und er hat(te) ambivalente und konfliktreiche Beziehungen zu seinem autoritären, abwertenden und strafenden Vater und zu seinem Bruder, der ihn als Kind verprügelte.

Es ist äußerst interessant, in den Alltag der ehemaligen DDR einzutauchen und vom Heizen mit Braunkohle und Schlange stehen wegen einer der sehr seltenen Bananenlieferungen zu lesen.
Außerdem erfahren wir von den Gartenzwergen der Datschenbesitzer, vom Risiko, auf der Straße grundlos einen unbekannten Ausländer zu grüßen, vom allgegenwärtigen Interesse der Stasi und davon, dass Homosexuelle anscheinend das Regime destabilisieren.

Fast 30 Jahre später wird Saul, inzwischen 56 Jahre alt, erneut auf der Abbey-Road angefahren.

Wieder will er über den Zebrastreifen gehen, den die Beatles im August 1969 im Gänsemarsch überquert haben.
Wieder kommt ein Jaguar auf ihn zu.
Wieder hält er nicht an.

Ein Déja vue...
Aber Saul wird dieses Mal schwer verletzt. Er muss im Krankenhaus operiert werden. Der geringste Schaden ist der zersplitterte Außenspiegel des Fahrzeugs.

Sauls Kopfverletzung und das Morphium gegen die postoperativen Schmerzen führen zu geistiger Verwirrung.
Die Zeit gerät durcheinander, Erinnerungen verrutschen und Inhalte verschieben sich.
Sie liegen jetzt lose nebeneinander wie Puzzleteile, die darauf warten, zu einem Bild zusammengefügt zu werden. Sie liegen herum wie die Splitter des Außenspiegels der Unfallfahrzeuge... zusammenhanglos und unsortiert.

Deborah Levy hat eine schöne, bildhafte Sprache und erzählt lebendig und flott.
Sie hält überraschende Entwicklungen und unvorhergesehene Wendungen bereit, was mich immer wieder staunen ließ und meine Neugierde auf das Kommende steigerte.

Ein Beispiel für eine wunderschöne bildhafte Formulierung möchte ich anführen:
„... dass ich als Kind der Arbeiterklasse unter den feinen Pinkeln für Aufregung sorgte wie die Katze im Taubenschlag.“ (S. 30)

Es ist brillant, wie sie den Leser überrascht, verblüfft, verunsichert, verwirrt und auf falsche bzw. unklare Fährten lockt.
Was ist wahr, was ist fiktiv?
Was ist Psychose, postoperatives Delir mit Wahnvorstellungen oder Halluzinationen, was ist Traum, Erinnerung, Fantasie oder gegenwärtige Realität?
Was war früher, was ist heute?

Deborah Levy spielt mit den Wörtern, mit den Zeiten, mit dem Inhalt und letztlich mit dem Leser, der sich auf dieses Spiel einlassen muss, um ein überzeugendes Lesevergnügen zu erleben.

Der beeindruckende Roman der in Südafrika geborenen britischen Schriftstellerin Deborah Levy wurde für den Booker Preis nominiert und jetzt, nach der Lektüre, kann ich das sehr gut nachvollziehen.

Er ist auf faszinierende Weise packend, mitreißend und berührend und übt einen regelrechten Sog aus.
Einmal begonnen, ist es schwer, die Lektüre zu unterbrechen.

Beim Zuklappen des Romans hatte ich das Gefühl, mich schütteln zu müssen wie ein Hund, der gerade triefend nass den See verlässt, in dem er gebadet hat.
Warum?
Um aus dieser Traumwelt aufzutauchen.
Um wieder in der Realität anzukommen.




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Veröffentlicht am 01.12.2020

Unkonventionell und originell!

Tiger
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„Tiger“ ist ein besonderer Roman mit einem außergewöhnlichen und einzigartigen Plot:
Im Zentrum steht, wie der Titel schon sagt, diese anmutige und Respekt einflößende Raubkatze mit dem charakteristischen ...

„Tiger“ ist ein besonderer Roman mit einem außergewöhnlichen und einzigartigen Plot:
Im Zentrum steht, wie der Titel schon sagt, diese anmutige und Respekt einflößende Raubkatze mit dem charakteristischen dunklen Streifenmuster auf goldgelbem bis rotbraunem Grund und darum herum siedeln sich die Geschichten dreier Personen an, die sich letztlich verknüpfen.

Drei Erzählstränge, die teilweise zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten spielen vereinen sich in dem Buch in der Gegenwart.

Im ersten Strang lernen wir die englische Primatenforscherin Frieda Bloom kennen. Sie promoviert gerade, verliert ihre Stelle in ihrem Forschungsprojekt jedoch wegen Morphinmissbrauch.
In einem Privatzoo in Devon findet sie einen neuen Job. Eigentlich soll sie sich um ihre geliebten Bonobos kümmern, aber die Umstände machen es erforderlich, dass sie sich um ein neues Tigerweibchen kümmert, das aufgepäppelt werden muss. Nach und nach entdeckt sie zunächst ihr Interesse, dann ihre Faszination und schließlich ihre Liebe für diese Tierart.
Ihre Reise nach Sibirien wird eine Reise zu sich selbst.

Im zweiten Strang befinden wir uns in der russische Taiga. Tomas, ein einsamer Mann, dessen Geschichte wir kennenlernen, möchte dort mit seinem Vater Ivan ein Tigerreservat aufbauen und auf diese Weise die vom Aussterben bedrohten Tiere schützen.
Die beiden Männer verbindet eine konfliktreiche Beziehung, aufgrund derer Tomas zweifelhafte und suspekte Entscheidungen trifft. Und dann führt eine Begegnung zu einem Wendepunkt in seinem Leben.

Im dritten und letzten Erzählstrang lernen wir Edith und ihre Tochter kennen. Sie flüchten vor dem alkoholkranken Mann und Vater in die Taiga, wo sie ein selbstbestimmtes Leben führen und einige Jahre überleben.
Auch für Edith stellt eine Begegnung ein einschneidendes Ereignis dar.

Die bravouröse Zusammenführung der drei Stränge führt zu einem äußerst gelungenen Ende.

Polly Clark erweckte bei mir eine tiefe Faszination für die Anmut und Eleganz dieser majestätischen Tiere.
Ihre Sprache ist sowohl kraftvoll, klar und bildgewaltig, als auch poetisch und feinfühlig.
Sie stellt Widersprüche dar und lässt Gegensätze aufeinanderprallen:
Einerseits der Zoo in Devon-andererseits die sibirische Wildnis.
Einerseits der Lebensraum der Menschen-andererseits der Lebensraum wilder Tiere.
Einerseits Spannung wie in einem Thriller-andererseits eine ruhige, fast meditative Darstellung der rauhen Natur.
Einerseits die detaillierten Beobachtungen einer Naturforscherin-andererseits die gefühlsbetonten Beschreibungen einer Poetin.

Für mich stellte der Roman mit seinen außergewöhnlichen Protagonisten, beeindruckenden Handlungsorten und herausragenden Naturbeschreibungen ein ganz besonderes Lesevergnügen dar.

„Tiger“ ist eine unkonventionell und lebendig erzählte, fesselnde, berührende, eindrückliche und abenteuerliche Geschichte, die voller Empathie und Poesie geschrieben ist.
Die faszinierende Landschaft und die unendlichen Weiten der sibirischen Taiga, sowie die Rauheit der Natur wird dem Leser wunderbar nahe gebracht und ich meinte sogar, die gnadenlose Kälte Sibiriens zu spüren

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Veröffentlicht am 29.11.2020

Ein bravouröses Porträt der Innenwelt eines einfachen Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg!

Die rote Tapferkeitsmedaille
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„Die rote Tapferkeitsmedaille“ von Stephen Crane erzählt von den Erlebnissen des Rekruten bzw. jungen, unerfahrenen und einfachen Soldaten Henry im amerikanischen Bürgerkrieg und erschien erstmals 1894 ...

„Die rote Tapferkeitsmedaille“ von Stephen Crane erzählt von den Erlebnissen des Rekruten bzw. jungen, unerfahrenen und einfachen Soldaten Henry im amerikanischen Bürgerkrieg und erschien erstmals 1894 in der Philadelphia Press als Fortsetzungsroman.
Das Besondere an dieser Veröffentlichung war, dass der 1871 geborene Schriftsteller Crane hier erstmals einen ganz gewöhnlichen Soldaten zu Wort kommen ließ, während bis dato nur die Befehlshabenden, der Adel, das Bürgertum oder der Klerus über den Krieg schrieben.

Aber nun zum Inhalt:
Eine Armee von Soldaten der Union campiert seit Monaten in bescheidenen Hütten in den Hügeln des US-Bundesstaats Virginia.
Gegenüber, am anderen Ufer des Flusses Rappahannock, befindet sich das feindliche Lager der Südstaatler, das sie einem Gerücht zufolge am nächsten Tag angreifen sollen.
Die Männer reagieren unterschiedlich auf diese Nachricht des Buschfunks:
Wut über die nun vergebliche Verschönerung der ein oder anderen Behausung, Zweifel am Marschbefehl, der sich wie so viele zuvor, wieder nur als Irreführung oder Täuschung entpuppen könnte, Aufregung und Nervosität, weil die „blauen Streitkräfte“, sollte sich das Gerücht bewahrheiten, morgen in den Krieg ziehen würden.

Wir lernen den jungen Rekruten Henry Fleming kennen, der in Friedenszeiten noch auf der elterlichen Farm lebt, der sich voller Überzeugung und Enthusiasmus freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat und der hier, auf seiner Pritsche in der dürftigen Behausung inmitten seiner Kameraden, hin- und hergerissen ist zwischen Ungläubigkeit, Ungeduld, Aufregung, Hoffnung, Faszination, Patriotismus, jugendlichem Eifer, romantischer Verklärung des Kriegs, Unsicherheit sowie Ängsten und Zweifel an seinem Stand- und Durchhaltevermögen.

Plötzlich sieht Henry sich mit der Diskrepanz zwischen der Phantasie vom Heldentum und der Realität des Ernstfalles konfrontiert. Er wird nachdenklich und tiefsinnig.
Er bemerkt, dass er sein Gefühl für sich selbst und seine Fähigkeit zur Selbsteinschätzung teilweise verloren hat und nicht in der Lage ist, im Voraus sein Verhalten in der Ausnahmesituation einer Schlacht einzuschätzen.

Eine Frage treibt ihn ganz besonders um: „Woher weißt du denn, dass du nicht die Beine in die Hand nimmst und türmst, wenn’s erst einmal ernst wird? Es gab schon viele propere Mannsbilder, die vor dem Kampf die großen Helden waren, sich dann aber ruckzuck verkrümelten.“ (S. 37)

Im Versuch, sich selbst auf die Schliche zu kommen und seine Selbstzweifel auszuräumen, beobachtet er seine Kameraden und vergleicht sich mit ihnen.
Er versucht vorsichtig und letztlich vergeblich, mit ihnen in einen freundschaftlichen Erfahrungs- und Gedankenaustausch zu kommen, um herauszufinden, ob sie innerlich ebenso zerrissen sind wie er oder eben einfach nur tapfer und entschlossen.

Henry verliert seinen Kampfgeist noch vor der ersten Schlacht, wird grüblerisch, wehmütig und melancholisch. Er fühlt sich einsam unter seiner Kameraden, vermisst die heimische Farm und meint, für‘s Soldatenleben nicht geschaffen zu sein.
Aber sein Kampfgeist kehrt wieder zurück. Es ist ein Auf und Ab, ein Hin und Her.

Wir begleiten Henry und sein Regiment der blauen Armee auf ihren Fußmärschen durch die Landschaft, über Felder, Wiesen und Flüsse und vorbei an Wäldern und erleben ihren Unmut darüber, dass sie noch nicht kämpfen dürfen. „Ich will aber nicht mehr sinnlos durch die Gegend laufen. Niemand hat einen Vorteil davon, wenn wir mit jedem Tag müder und schwächer werden.“ (S. 50)
„Ich bin nur hier, weil ich kämpfen will. Durch die Gegend latschen kann ich zuhause auch.“ (S. 51)

Es dauert nicht allzu lange, bis die blaue Kompanie von den Rebellen beschossen wird.
„Immer häufiger pfiffen die Kugeln nun durch die Äste und bohrten sich in die Bäume. Äste und Blätter fielen so zahlreich zu Boden, als würden tausend unsichtbare Äxte geschwungen. Einige der Männer waren mehrfach gezwungen, sich zu ducken oder in Deckung zu gehen.“ (S. 56)
„Der nackte Horror saß allen in den Knochen.“ (S. 57)

... und dann trifft Henry eine Entscheidung: „Nichts in der Welt, nicht einmal die göttlichen Kräfte da oben im Himmel, würden ihn davon abhalten, seine Beine dafür einzusetzen, wofür sie geschaffen waren. Die Gesichter dieser Männer sprachen eine Sprache, die ihm gar keine andere Wahl ließ. In diesen kalkweißen Gesichtern, in diesen wilden Augen hatte die Panik im Pulverdampf Spuren hinterlassen, die sogar noch entsetzlicher waren als der Kampf selbst.“ (S. 59)

Aber schon kurze Zeit später verwirft er diese Entscheidung wieder. „Er war Teil eines Wesens, das bedroht wurde und seine Hilfe brauchte. Sein individuelles Schicksal verschmolz mit einem kollektiven Ziel. In dieser Situation zu fliehen war undenkbar.“ (S. 62)

Wie es mit Henry und seiner Truppe weitergeht, verrate ich natürlich nicht.

Nur so viel:
Wir schlüpfen in Henrys Innenwelt und erfahren von seinen Gedanken, Gefühlen, Phantasien, Visionen und inneren Konflikten.
Dabei lernen wir ihn in all seiner Zerrissenheit, Vielschichtigkeit und Komplexität immer besser kennen und werden Zeugen von Pendelbewegungen zwischen Pessimismus und Optimismus sowie zwischen Kleinheitsgefühlen und Größenphantasien.
Die rote Tapferkeitsmedaille hat Henry schließlich erhalten, aber nicht ganz so, wie man sich das vorstellt.

Der Roman ist etwas Besonderes!
Stephen Crane fesselt seine Leserschaft mit den nachvollziehbaren und glaubhaften Veränderungen und Ambivalenzen in Henrys Innerem, er besticht mit seinen bildhaften Beschreibungen und er vermittelt Atmosphäre und Stimmungen unter den Soldaten und auf dem Feld bravourös. Man meint, den Lärm der Kanonen und Musketen zu hören, die Gefallenen herumliegen zu sehen und den beißenden Gestank der abgefeuerten Waffen zu riechen.

Hut ab vor der wortgewaltigen, bildreichen und eindringlichen Sprache, den anschaulichen Metaphern, großartigen Beschreibungen, beeindruckenden Formulierungen und psychologisch feinfühligen und stimmigen Betrachtungen Stephen Cranes.

Einige Beispiele möchte ich anführen:

„Er fühlte sich wie ein erschöpftes Tier, das von allen Seiten gejagt wird, wie eine gutmütige Kuh, die sich gegen kläffende Hunde wehren muss.“ (S. 64)

„Er kämpfte verzweifelt um Luft, wie ein Baby, das unter seinen Decken zu ersticken droht.“ (S. 64)

„Und die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass die beschwingten Flügel der Hoffnung an den ehernen Pforten der Realität zerschmettern würden.“ (S. 215)

„Die rote Tapferkeitsmedaille“ ist ein fiktiver historischer Roman und ein Klassiker, der sich unbedingt zu lesen lohnt.
Ich finde es unglaublich beeindruckend, dass ein 22-jähriger junger Mann, der erst Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs geboren wurde, keine Ahnung vom Soldatenleben und auch noch keine großartige Lebenserfahrung hatte, so ein grandioses Werk erschaffen konnte, in dem er die Diskrepanz zwischen dem Erleben der einfachen Soldaten an der Front, dem sogenannten Kanonenfutter, und der bis dato üblichen offiziellen Kriegsberichterstattung aus Sicht „der Oberen“ aufzeigt.

In der von mir gelesenen Ausgabe des Pendragon Verlages endet das Buch nicht mit dem Ende des neu übersetzten Romans.
Es folgen noch die Erzählung „der Veteran“, in der Henry ein älterer verheirateter Mann mit Kindern und Enkeln ist, sowie ein wunderbares Nachwort von Thomas F. Schneider und ein aufschlussreiches Crane-Portrait von Rüdiger Barth.
Diese Ergänzungen waren sehr interessant zu lesen und eine wunderbare und lesenswerte Ergänzung.

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