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Veröffentlicht am 01.10.2023

Ein sehr beeindruckender, zu Unrecht vergessener Klassiker

Jenny | Der große Frauen- und Emanzipationsroman von Fanny Lewald | Reclams Klassikerinnen
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Jenny ist die einzige Tochter einer wohlhabenden, jüdischen Kaufmannsfamilie. Außergewöhnlich hübsch, gebildet und sehr selbstbewusst ist sie gesellschaftlicher Mittelpunkt und geschätzte Freundin. Ihr ...

Jenny ist die einzige Tochter einer wohlhabenden, jüdischen Kaufmannsfamilie. Außergewöhnlich hübsch, gebildet und sehr selbstbewusst ist sie gesellschaftlicher Mittelpunkt und geschätzte Freundin. Ihr Herz gehört allerdings dem armen Pfarrer Gustav Reinhard. Für ihn ist sie bereit alles aufzugeben, doch der Übertritt zum Christentum und zu einer christlich geprägten Lebenswelt, in der Frauen einen ganz bestimmten Platz einnehmen, wird zu einer großen Prüfung für Jenny.

Ein zu Unrecht vergessener Emanzipationsroman aus dem Jahre 1843, in dem der Leser einen tiefen Einblick in die Welt des 19. Jahrhunderts bekommt. Hauptthema ist natürlich die Rolle der Frau, die an unterschiedlichsten Frauenfiguren durchgespielt wird, von der selbstbewussten Jenny bis zur demütigen Therese, ihre Möglichkeiten und ihre kulturellen Verankerungen sind dabei genauso Thema wie ihre Träume und Hoffnungen. Das zweite große Motiv, das eng mit der Frauenfrage verwebt wurde, ist der gesellschaftliche Antisemitismus. In seiner Absurdität, aber auch in der, trotz aller Aufgeklärtheit, davon bestimmten Realität für alle Menschen, ist ein wesentliches Element, das die Geschichte bestimmt. Da die Autorin selbst als jüdische Frau in dieser Zeit gelebt hat, spürt man in jeder Szene, dass hier aus dem Leben geschrieben wurde und nicht aus antisemitischer Überzeugung. Geschickt führt die Autorin Vorurteile ad absurdum, nicht immer offensichtlich, gerne in Handlungen und Entwicklungen versteckt. Es gibt viele Denkanstöße, auch für heutige Leser. So ist der Autorin nicht nur ein Roman gelungen, der für eine emanzipierte Frauenrolle steht, sondern auch für eine Emanzipation der Juden bzw. des Menschen selbst, der sich von tradierten Vorurteilen ohne Substanz lösen soll, um sich als Mensch im Leben entfalten und Glück finden zu können.

Der Roman überzeugt mit einer wunderbaren gehobenen Sprache, einer starken Bildsprache, die der Geschichte eine weitere Dimension gibt, und einer Handlung, die den Leser mitnimmt, in eine Welt, die uns fremd und vertraut zugleich erscheint.
Ein beeindruckender Klassiker, der dem Vergessen entrissen wurde!

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Veröffentlicht am 01.10.2023

Eine traumhafte Klassikerausgabe

Frankenstein
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Es begann mit einem großen Traum: Frankenstein will Leben erschaffen und das Experiment gelingt. Das Ergebnis ist allerdings ein Albtraum, der ihn fast um den Verstand bringt. Entsetzt flieht er vor dem ...

Es begann mit einem großen Traum: Frankenstein will Leben erschaffen und das Experiment gelingt. Das Ergebnis ist allerdings ein Albtraum, der ihn fast um den Verstand bringt. Entsetzt flieht er vor dem Wesen, das er erschaffen hat und es dauert lange bis er es wagt zu hoffen, diesen Abschnitt seines Lebens hinter sich lassen zu können. Doch das Wesen, das er erschaffen hat lebt und holt seinen Schöpfer ein.

Frankenstein ist einer der Klassiker, die man zu kennen glaubt ohne ihn gelesen zu haben, und wenn man ihn dann liest, stellt man fest, dass man ihn nicht kennt. Und man stellt fest, dass eine Lektüre lange nicht genügt, um alle Facetten und Tiefen dieser Geschichte auszuloten. In einer Zeit, in der sich die Wissenschaft und Forschung schon lange kaum noch mit Fragen aufhält, ob sie auch wirklich alles tun sollte, was sie tun kann, ist dieser Roman wieder sehr aktuell. Ethische Fragen zur Wissenschaft, die Forderung Verantwortung für sein Tun zu übernehmen, die an jeden der Charaktere gestellt, einige stellvertretend für die Menschheit/ Gesellschaft selbst, und viele weitere Aspekte geben der vordergründigen Schauergeschichte eine Tiefe und Komplexität, die sie zu recht zu einem Klassiker der Weltliteratur macht.

Die Schmuckausgabe von Coppenrath präsentiert diesen Roman in einem einzigartigen Gewand, das ihn zu einem ganz besonderen Erlebnis macht. Ein aufwendig gestaltetes Cover, ein metallicblauer Farbschnitt und zahlreiche, großartige Illustrationen erwecken die Geschichte auf weiteren Ebenen zum Leben. Weitere Extras wie ein Brief, Filmplakate und Zeitungsausschnitte an exponierten Szenen des Buches verwöhnen den Leser mit einem geradezu dreidimensionalen Leseerlebnis.

Ein Anmerkungsteil, der für mich etwas umfangreicher hätte sein können, und ein Nachwort runden diese Klassikerausgabe ab.

Dieses Buch bietet mit seiner aufwendigen Gestaltung und den gut durchdachten Extras ein einmaliges Leseerlebnis. Ein würdiges neues Gewand für einen sehr beeindruckenden Klassiker. Die Coppenrath-Schmuckausgabe ist ihr Geld wert und nimmt nicht nur einen besonderen Platz im Bücherregal, sondern auch in jedem Leserherzen ein. In dieser Gestaltung bleibt der Klassiker noch einmal so unvergesslich.

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Veröffentlicht am 27.08.2023

Eine fesselnde queere Liebesgeschichte und viel mehr

Stolen Kisses
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Es sollte ein One-Night-Stand sein, doch weder Jannis noch Kai können diese Nacht vergessen – umso entsetzter sind sie als sie sich plötzlich als geschäftliche Rivalen wiederfinden, in einem Wettkampf ...

Es sollte ein One-Night-Stand sein, doch weder Jannis noch Kai können diese Nacht vergessen – umso entsetzter sind sie als sie sich plötzlich als geschäftliche Rivalen wiederfinden, in einem Wettkampf bei dem sowohl die private und berufliche Zukunft ihrer beider Familien auf dem Spiel stehen. Schon ihre persönliche Situation könnte nicht unterschiedlicher sein: Jannis, der mit seiner toleranten Hippiemutter und sehr guten Freunden fest in der queeren Gemeinschaft des bunten Berlins verankert ist und dann Kai, der von seinem Vater ständig beruflich und privat unter Druck gesetzt wird, seine homosexuellen Neigungen vor allen, sogar sich selbst immer wieder versteckt und unterdrückt bis ihm Panikattacken die Luft zum Atmen nehmen, ständig in der Angst alles zu verlieren, was ihm etwas bedeutet. Der Wettkampf fordert von allen Beteiligten den höchsten Einsatz, doch nicht jeder spielt fair.

Andreas Suchanek schafft es eine warmherzige queere Liebesgeschichte zu erzählen, die einen so warm und sicher umfängt, dass man fast überrascht ist, dass er auch die problematischen Seiten, von persönlichen Ängsten bis zu gesellschaftlicher Intoleranz, Homophobie und Gewalt nicht ausspart. Die Charaktere sind vielfältig und jeder einzigartig gezeichnet. Man kann mit jeder Figur mitfühlen und besonders natürlich Kai und Jannis, in ihrer ganzen Gegensätzlichkeit und ihren überwältigenden Gefühlen zueinander. Besonders gefiel mir, dass auf ausführliche Bettszenen verzichtet und dafür viel Wert auf die Entwicklung von Charakteren und Story gelegt wurde.

Ich liebe die Art wie Andreas Suchanek Geschichten erzählt, gewandt, humorvoll, spannend und immer für eine Überraschung gut – und das findet sich auch alles in diesem Buch. Mit leichter Hand lässt er den dramatischen Höhepunkt der Geschichte in einem Feuerwerk, das Gänsehaut garantiert, münden und der Leser bleibt mit klopfendem Herzen und Tränen in den Augen zurück, von tiefstem Bedauern erfüllt, dass das Buch zu Ende ist. Eine Wohlfühllektüre, die ich nur empfehlen kann!

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Veröffentlicht am 27.08.2023

Brillante und unterhaltsame Aufarbeitung Karl-May-Debatte

Karl May im Kreuzfeuer
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Im Sommer 2022 war es mal wieder soweit: Bis dahin bereits auf eine Fan-Gemeinde und Forschungsprojekte beschränkt, wurde Karl May wieder ins Licht der Öffentlichkeit geholt, nach so vielen Jahren des ...

Im Sommer 2022 war es mal wieder soweit: Bis dahin bereits auf eine Fan-Gemeinde und Forschungsprojekte beschränkt, wurde Karl May wieder ins Licht der Öffentlichkeit geholt, nach so vielen Jahren des Vergessens, hatte plötzlich jeder eine Meinung zu ihm – und selten eine gute. Fachleute kamen zu Wort, die die Vorwürfe von Rassismus und Antisemitismus untermauern sollten. Vorwürfe, die so alt sind wie der Streit um Karl May selbst, der mit den Prozessen gegen ihn begann.

Thomas Kramer legt mit diesem Buch eine fundierte Auseinandersetzung mit der hitzigen Debatte vor und geht einem Vorwurf nach dem anderen detailliert und erfreulich unaufgeregt nach. Das Ergebnis ist eine sachliche, informative und dabei äußerst unterhaltsame Lektüre, die Fans und Gegnern des Autors einen tiefen Einblick in Werk, Text-, Forschungs- und nicht zuletzt Zeitgeschichte gibt.

Dieses Buch ist die perfekte Antwort, auf den gellenden Aufschrei, der 2022 die Medien durchzitterte. Besonders gefiel mir, dass Thomas Kramer den aggressiven Ton aus der Debatte nimmt, sachlich bleibt und jedes Argument ernsthaft auf Stichhaltigkeit untersucht. Man merkt mit jeder Zeile, dass er weiß, wovon er spricht und dass er sich mit Textforschung auskennt – so stützt er sich als seriöser Forscher zum Beispiel auf die historisch-kritische Ausgabe von Karl Mays Werk, wenn es um Belege aus dem Primärtext geht und nicht auf die die gängigen Populär-Publikationen, die unterschiedliche Stadien der Bearbeitung aufweisen (können).

Bei seiner Analyse beschränkt sich Thomas Kramer nicht nur darauf, im Primärtext die Vorwürfe im Einzelnen zu belegen oder zu widerlegen, sondern er zieht den gesamten zeitlichen Kontext heran - von Karl May bis zum 3. Reich. Zeitgenossen, Politik und Kultur werden genau beleuchtet und die Ergebnisse lassen den Leser in vielerlei Hinsicht staunen. Sehr detailliert setzt sich Thomas Kramer mit dem Interview Jürgen Zimmerers auseinander und kommt dabei zu bemerkenswerten Schlüssen.

Nicht zuletzt der humorvolle Ton, der die perfekte Antwort auf die aggressive Pauschalität der Debatte ist, macht dieses Buch zu einem köstlichen Leseerlebnis, das dazu anregt wieder mal zu einem Original-Werk Karl Mays zu greifen und auch einen Blick auf weitere Fachliteratur zu Autor und Werk zu werfen.

Dieses Buch ist für Fans und Gegner des Autors gleichermaßen informativ und unterhaltsam. Wer wissen will, was an den erhobenen Vorwürfen wirklich dran ist, sollte unbedingt zu diesem Buch greifen.

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Veröffentlicht am 05.08.2023

Nicht immer ganz nachvollziehbar

Villette
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Als Lucy Snowe allein und mittellos dasteht, nimmt sie all ihren Mut zusammen und versucht ihr Glück in Frankreich, da ihr in England kaum berufliche Chancen gegeben sind. Eher durch Zufall als durch Verdienst ...

Als Lucy Snowe allein und mittellos dasteht, nimmt sie all ihren Mut zusammen und versucht ihr Glück in Frankreich, da ihr in England kaum berufliche Chancen gegeben sind. Eher durch Zufall als durch Verdienst findet sie eine Anstellung im Pensionat der Madame Beck, wo sie von der Kinderfrau schnell zur Lehrerin aufsteigt. Dabei spielt Bildung kaum eine Rolle. Die Hauptsache ist, es sich nicht mit den Familien der höheren Töchter zu verderben. Trotz der bedrückenden Atmosphäre der Schule, in der jeder jedem misstraut und nachspioniert, richtet sich Lucy, die vom Leben gar nicht erwartet begünstigt zu werden, gut ein und findet Zufriedenheit und ein berufliches Auskommen. Da begegnet sie den Bekannten aus Kindheitstagen wieder und sie beginnt zu hoffen, dass das Leben für sie vielleicht doch mehr als Arbeit bereithält. Doch hat dieses bescheidene Quäntchen Glück wirklich eine Chance gegen Neid, Missgunst und naive Herzlosigkeit der Umwelt?

Als großer Fan der Brontë-Schwestern habe ich mich begeistert auf dieses Buch gestürzt und bleibe nun etwas verwirrt und ratlos zurück. Eigentlich fand ich es streckenweise grauenhaft. Diese bedrückende Atmosphäre der Missgunst, des Neides, der Perspektivlosigkeit hat mich fertig gemacht. Alle spionieren einander nach. Private Habseligkeiten werden völlig ungeniert durchstöbert, entwendet, „bereinigt“ von selbsternannten Sittenwächtern, die ausschließlich auf ihr eigenes Wohlergehen fixiert sind. Lucy wird auf jedem Gang verfolgt, jedes Wort eifrig geprüft, jedes Schriftstück gewendet und jede noch so kleine Veränderung niedergemacht. Mit Madame Beck arrangiert man sich, genau wie Lucy, irgendwann, aber dieser widerliche kleine Professor, der Lucy noch die kleinste Freude missgönnt, ihr jede Schleife, von denen sie nun wahrlich kaum welche trägt, als eitle, protzige Spielerei herunterreißt, und sie wegen jeder Kleinigkeit, die nichts mit dem Fegen von Staub zu tun hat, geradezu fertig macht, hat mich krank gemacht! Sehr viel später wird geradezu halbherzig versucht diesen Charakter etwas zu rehabilitieren, aber für mich ist das nicht gelungen. Die gesamte Charakterentwicklung und die Entwicklung der Geschichte konnte ich nicht nachvollziehen.

Auch die Protagonistin Lucy selbst hat mich etwas zwiespältig zurückgelassen. Von Anfang an wirkt sie sehr statisch. Vieles lässt sie mit einem geradezu unverständlichen Phlegma über sich ergehen. Sie stellt sich absichtlich in den Schatten des Lebens, um zu sagen, dass das Leben nichts anderes für sie vorsieht. Dabei ist sie bei weitem weder depressiv, noch untätig oder resigniert. Im Gegenteil. Mit einer geradezu heiteren Gelassenheit durchschaut sie viel, nimmt das Leben wie es kommt und wird mit allen Herausforderungen fertig. Eine trotz aller Statik sehr starke Frauenfigur, deren Lebensziel niemals in der standesgemäßen Heirat liegt, sondern immer im Berufsleben.

Was mich wirklich durch das Buch getragen hat, ist das unvergleichliche Flair und der tolle Stil Charlotte Brontës. Ein schöner Einblick in die Welt des 18. Jahrhunderts. Neben aller düsteren, bedrückenden Atmosphäre, ist auch immer noch der Witz zu sehen, der gerade dadurch, dass sich Lucy durch nichts beirren lässt, deutlich wird. Lucy und der Leser haben den größten Teil des Romans dieselbe Position: Sie stehen außerhalb der Geschichte, nehmen sie distanziert und objektiv war- wenn man Lucy auch manchmal schütteln möchte, damit sie endlich Teil des Geschehens wird.

Ein ganz besonderer Reiz liegt in dem Mystery-Element, das dem Roman einen eigenen Reiz gibt.
Mein größter Kritikpunkt ist, dass ich den Schluss des Romans nicht nachvollziehen konnte. Selbst im Vergleich mit den anderen Geschichten der Brontë-Schwestern kann ich mir überhaupt nicht erklären was dieser Schluss aussagen soll. Ich konnte nur den Kopf schütteln.

Die Insel-Ausgabe bietet neben dem ungekürzten Text auch einen Anmerkungsteil, der vor allem, die zahlreichen französischen Passagen übersetzt und das Textverständnis fördert. Leider gibt es kein Nachwort, das in irgendeiner Form Hintergrundinformationen oder Interpretationsansätze liefern könnte.

Im Großen und Ganzen ein gutes Buch, mit dem fesselnden Stil der Brontës, das in seinen kritisierten Aspekten sicherlich eines näheren interpretatorischen Blicks wert ist. 4 Sterne bleiben es trotzdem, weil hier viel mehr erzählt wird als das trübseliger Leben einer vom Leben stiefmütterlich sitzen gelassenen. Man sieht mehrere Lebensentwürfe vorüberziehen, mit denen die vom Glück begünstigt wurden, ihr Glück erkämpft oder auch erzwungen haben. Gerade darin findet sich wieder die ruhige Heiterkeit und Faszination, die für mich von den Werken der Brontë-Schwestern ausgeht.

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