Eine surreale Heldenreise mit Alice und Hatcher – Ich hätte nie gedacht, dass ich verstörend und magisch in einem Atemzug sagen würde
Die Chroniken von Alice - Finsternis im WunderlandAllgemein:
Die amerikanische Autorin Christina Henry sorgte mit ihren fantastisch-gruseligen Märchenadaptionen bereits im Englischen für Aufsehen. Random House Imprint Penhaligon veröffentlichte im Frühjahr ...
Allgemein:
Die amerikanische Autorin Christina Henry sorgte mit ihren fantastisch-gruseligen Märchenadaptionen bereits im Englischen für Aufsehen. Random House Imprint Penhaligon veröffentlichte im Frühjahr 2020 nun den 1. Band der „Dunklen Chroniken“ in Deutschland. Es beginnt mit den „Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland“: 10 Jahre sind vergangen seit Alice in einer psychiatrischen Anstalt gelandet ist. 10 Jahre, in denen sie von Alpträumen geplagt wird Sie erinnert sich nicht an die Geschehnisse, die sie dorthin brachten. Außer an den Mann mit den blaugrünen Augen und pelzigen langen Ohren. Doch was hat das zu bedeuten? Ihr einziger Vertrauter Hatcher kämpft selbst mit den dunklen Geistern, die ihm zum Axtmörder machten. Doch als ein Feuer ausbricht, fliehen Beide gemeinsam und erkennen, dass nicht nur sie entkommen sind, sondern auch eine dunkle, tödliche Macht, die aufgehalten werden muss.
Mein Bild:
Ich habe lange auf die deutsche Erscheinung dieser Bücher gewartet, hatte aber genauso Angst davor, sie zu beginnen. Die Rezensionen vieler BloggerInnen beinhalten Wörter wie brutal, blutig, grausam, ebenso wie nervenzerreißend und einmalige. Ich bestätige das hier und kritisiere stark, dass es keine Triggerwarnung seitens des Verlages gibt. Es reicht nicht, dass der Klappentext verspricht, dass es nichts für schwache Nerven ist. Daher gebe ich folgende persönliche Triggerwarnung vor Mord, geistigen und körperlichen Missbrauch, Verstümmelung, Körperverletzung und Prostitution. Es sind nicht die einzigen Dinge, die angesprochen werden, aber darauf möchte ich auf jeden Fall aufmerksam machen.
Denn wenn ich mir das verschnirkelte Hasenportrait - Hardcover mit diesem Hasenpfoten – verschönerten Buchschnitt anschaue, könnte man kurz davon abkommen, dass die knapp 350 Seiten weit mehr enthalten als eine neue, märchenhafte Nacherzählung von Alice im Wunderland.
Schon auf den ersten Seiten bekam ich schreckliche Bilder in den Kopf gesetzt. Christina Henry nutzt eine Bildsprache, die nicht bis ins kleinste Detail geht, aber bis kurz davor. Sprich, jegliche Situation oder Gedanke war gut genug geschrieben, um mich darin eintauchen zu lassen. Das mochte ich sehr, obwohl die Autorin vor gefühlt keiner Grausamkeit Halt macht. Ich muss sagen, ich habe mir das dazugehörige Kopfkino ähnlich wie bei dem Film „Sucker Punch“ vorgestellt. Nur Alice träumt sich hier nicht in eine Parallelwelt, sondern der Sprung durchs Kaninchenloch ist durch die Flucht aus einem brennende Hospital ersetzt wurden. Das Setting zeigt so viele reale wie auch surreale Möglichkeiten, mischt Märchen, Magie und lebensnahe Zustände, dass ich froh war, dass ich die Welt wie auf einer Heldenreise Stück für Stück kennenlernte. Die „alte“ Stadt, früher von Magie beherrscht ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Armut und Bandenkriminalität stehen an der Tagesordnung. Die Bosse der einzelnen Banden erinnern stark an Protagonisten der Ursprungsgeschichte, absolut Hammer. Am liebsten mochte ich tatsächlich die „Grinsekatze“, so gerissen, vorausschauend und mit jeder Faser interessant gestaltet.
Ebenso mochte ich das seltsame Gespann Alice und Hatcher, das ich die ganze Zeit begleitete, obgleich es nur aus Alice personaler Perspektive beschrieben wurde. Bei Beiden überkam mich schnell das Gefühl, sie zu kennen und zu verstehen, obwohl sie mich noch nicht komplett in ihre Seele schauen ließen. Wie auch? Beide haben kaum Erinnerungen an die Ursache für ihren Aufenthalt in dem Hospital. Mir war von Anfang an bewusst, dass ein Ziel der Story sein wird, all das Geschehene gemeinsam mit Alice und Hatcher aufzuarbeiten.
Alice Charakter forderte mich ziemlich heraus, weil sie psychisch arg vorbelastet ist und trotz, dass 10 Jahre vergangen waren, sie den Stand einer 16 Jährigen besitzt. Ihr fehlen 10 Jahre Erfahrungen, Emotionen, ja das komplette Erwachsenwerden wurde ihr genommen. Überlegt euch das bitte einmal! Sie bekam nie die Möglichkeiten eigene Entscheidungen zu fällen und ihr Gedächtnis weist riesige Lücken auf, die sie zu Beginn nur widerwillig füllt. Für sie brauchte ich Geduld und Verständnis, denn wie sie sich von Hatcher abhängig macht und eine sprunghafte Entwicklung (auch gern mal rückwärts) hinlegt, gefiel mir nicht. Nichtsdestotrotz nachvollziehbar mit dem Hintergrundwissen, das sich von Seite zu Seite aufbaut.
Ähnlich ging es mir mit Hatcher. Er machte mir anfänglich echt Angst. Seine „Stimmungswechsel“ kamen abrupt, einem Kurzschluss gleich und endeten verheerend. Ja, mir war ab und zu übel. Andererseits zeigte der Hühne einen lebensnotwendigen Beschützerinstinkt gegenüber Alice und seine Ehrlichkeit ist eine wichtige Eigenschaft, die sogar mit Feingefühl bestückt ist. Interessanterweise empfinde ich es so, dass er gute moralischen Ansichten vertritt, aber sie nicht ausleben kann. Wie sagt man so schön, das Leben hat ihm böse mitgespielt. Bei ihm war meine Geduld trotzdem öfter am Ende und ich dachte nur „Mensch Hatcher, das hätte jetzt nicht sein müssen“.
Geradeaus, ehrlich und vertrauensvoll scheinen optimale Voraussetzungen für eine angehende Liebesgeschichte zu sein. Nur die passt hier nicht so rein, zwischen Erinnerungslücken, Morden und der Suche nach dem „Bösen“, das vernichtet werden muss. Und ich muss sagen: Hatcher schien mir vom Alter her bereits um die 40 Jahre alt zu sein und bei Alice hatte ich immer das 16-Jährige Ich vor der Nase. Das Bild eines Liebespaares passte nicht in meinem Kopf. Zudem artete der Beschützerinstinkt in besitzergreifende Züge aus. Umso mehr genoss ich es, dass Alice seine Taten infrage stellte und anfängt ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Zudem verglich sie ihre Reise durch die Gangsterterritorien sogar mit einer Geschichte (beispielsweise, dass es ja klar ist, dass die Tür, die einmal geschlossen ist, sich nicht mehr öffnen lässt). Ihr seht schon, die Charakter zeigen abwechslungsreiche Facetten.
Die Quest der Storyline ebnete sich bereits früh, sodass mir bewusst war, worauf es hinauflaufen musste. Doch der Weg dahin versetzte mich in Erstaunen, entweder aus Faszination, Grusel oder unvorstellbarer Widerwärtigkeit. Es hat mir den Atem geraubt. Obwohl die Gründe kaltblütiger Natur waren. Gerade der Umgang mit dem weiblichen Geschlecht zeigt, dass man die Story zeitlich dem 19./20. Jahrhundert gleichsetzen kann. Dann gab es wieder diese Momente, in denen Zauberei, Fabelwesen und die so toll umgesetzten Alice-Momente die Eycatcher waren. Das Ende war dagegen unspektakulär und ich habe gelernt, dass Alice und Hatchers Geschichte im 2. Band weiter gehen wird. Denn erst ab band 4 widmet sich Christina Henry einer anderen Figur eines Klassikers.
Fazit:
Definitiv fesselnd und eine gelungene (Grusel-)Adaption von „Alice im Wunderland“. Für LeserInnen mit einem starken Herzen, deren Nervenkonstrukt kaltblütige Machtstrukturen und Blut vertragen. Dafür bekommt man mit ein wenig Geduld tiefgreifende Geheimnisse gelüftet und magische Momente geschenkt.