Das Leben ist immer riskant, wie ein reißender Strom
Als das Leben vor uns lagDer Roman „Als das Leben vor uns lag“ von Care Santos erzählt die Geschichte von fünf jungen Mädchen, die im Sommer 1950 in einem spanischen, von Ordensfrauen geführtem Internat leben. Ein nächtliches ...
Der Roman „Als das Leben vor uns lag“ von Care Santos erzählt die Geschichte von fünf jungen Mädchen, die im Sommer 1950 in einem spanischen, von Ordensfrauen geführtem Internat leben. Ein nächtliches Pfänderspiel verändert vor allem das Leben des Waisenmädchens Julia grundlegend. Olga ist die Anführerin der Mädchengruppe und stellt ihren „Freundinnen“ am letzten Abend vor den Sommerferien eine schwierige und vor allem gefährliche Aufgabe. Nur wenn diese erfüllt wird, bekommen die Mädchen ihre Pfänder zurück.
An einem Abend im Jahr 1981 wollen sich die fünf ehemaligen Internatsschülerinnen wieder treffen. Olga, deren Zwillingsschwester Marta, Lolita, Nina und Julia haben ganz unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen. Zunächst treffen nur vier der Frauen in Martas neu eröffnetem Restaurant ein. Die Stimmung ist verhalten und es folgen Rückblenden in das Leben der Frauen. Alle Frauen scheinen die Umstände, die zu Julias Rauswurf aus dem Internat geführt haben, zu verdrängen. Nach ein paar Gläsern Rotwein verfallen sie auf die Idee, erneut ein Pfänderspiel zu veranstalten. Die Stimmung droht zu kippen und alle fragen sich, wo Julia bleibt.
Care Santos‘ mal einfühlsamer, mal direkter, wenig beschönigender Schreibstil hat mich in die Geschichte hineingenommen und berührt. Wie sie die Leben der fünf Frauen miteinander verwoben und dabei trotzdem Raum für die Fantasie des Lesers gelassen hat, beeindruckt mich und macht diesen Roman zu einem besonderen Lesegenuss. Daher überrascht es mich nicht, dass ihre Bücher mehrfach ausgezeichnet wurden.
Der Leser erfährt lange Zeit nur Bruchstücke aus der verhängnisvollen Nacht im Sommer 1950 und das hält die Spannung stets aufrecht. Die Neugier lässt einen nicht mehr los. Schließlich hat diese Nacht das Leben einer Person gravierend geprägt: Julia. Zudem bekommt der Leser einen guten Einblick in das Leben der Frauen in der 50er Jahren – natürlich in Spanien, doch so viele Unterschiede zu anderen Teilen Europas lassen sich gar nicht erkennen. Die politischen Verhältnisse in Spanien nach dem Krieg hat die Autorin ganz gut und häppchenweise in den Roman eingeflochten. So ist das Thema zwar präsent, aber überfrachtet die Geschichte nicht. Denn das Augenmerk liegt auf zwei Abende im Leben der fünf Mädchen bzw. Frauen. Dadurch dass die Geschichte nur ein paar wenige Stunden aufgreift, finde ich sie besonders interessant. Die Lebensentwürfe der Frauen reichen von der verwöhnten, reichen Gattin mit fünf Kindern und einem Dasein als Hausfrau bis über eine immer jung gebliebene Frau, die sich mit jüngeren Männern ihr Leben versüßt bis hin zu einer Karrierefrau, die ihre Freiheit genießt. Gerade die Charakterzeichnungen der Frauen sind der Autorin unglaublich gut gelungen. Welcher Leser würde denn nicht Sympathie für Julia und Abscheu für Olga empfinden. Doch es sind die leisen Zwischentöne, die den Frauen ein unverwechselbares Wesen geben und realistisch erscheinen lassen. Zwei zentrale Themen ziehen sich vor allem durch den Abend im Restaurant: Schuld und Vergebung. Dabei erhebt die Autorin nie den Finger, um zu urteilen, sondern lässt die Frauen ihren Anteil an der Geschichte reflektieren und schließlich einen Abschluss finden.