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Veröffentlicht am 03.04.2020

Ein Gerücht und seine unabsehbaren Folgen

Das Gerücht
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Und dabei beginnt alles so harmlos. In einer kleinen idyllischen Stadt am Meer bringen morgens die Mütter ihre Kinder in die Schule, tauschen noch ein paar Worte aus, jede Mutter geht dann ihrer Wege. ...

Und dabei beginnt alles so harmlos. In einer kleinen idyllischen Stadt am Meer bringen morgens die Mütter ihre Kinder in die Schule, tauschen noch ein paar Worte aus, jede Mutter geht dann ihrer Wege. Ganz normaler Alltag. Wenn da nicht eine der Mütter von einer Kindermörderin erzählen würde, die vielleicht sogar in dieser kleinen idyllischen Stadt leben könnte. Von jetzt an nimmt das tragische Geschehen seinen Lauf. Einmal etwas Gesagtes kann nicht mehr zurückgenommen werden. Joanna bekommt die Mörderin nicht mehr aus dem Kopf, vermutet sogar in allen Frauen, die etwa im Alter der Mörderin sind und deren Anfangsbuchstaben S und M sind, also mit der Sally McGowan übereinstimmen, die Täterin zu identifizieren. Ob es eine Laden- oder Hausbesitzerin ist, Joanna vermutet, stellt Theorien auf, verwirft sie wieder, hadert mit sich selbst, warum sie von diesem Gerücht nicht loskommt. Und sie steckt auch andere damit an. Bis sich der Verdacht erhärtet und Joanna plötzlich selbst bedroht wird und ihr Sohn Alfie auch. Bis das letzte Puzzlestück an seinen Platz fällt und Joanna erkennt, dass sie im Auge des Sturms ist und dass Sally McGowan ihr viel Näher ist, als sie sich jemals hätte träumen lassen. Es kommt zu einem filmreifen Showdown, im Laufe dessen Sally McGowan die Bluttat von vor über 50 Jahren vor unseren Augen wieder auferstehen lässt. Sally war damals selbst ein Kind, 10 Jahre alt, von den Eltern geschlagen und misshandelt, vom Vater noch zusätzlich sexuell missbraucht, war sie ein Kind ohne Kindheit. Der fünfjährige Junge starb mit dem Messer in der Brust, ein Messer das Sally vorher noch in der Hand gehabt hatte. Sally wurde verurteilt lebte lange Zeit in einer besonderen Anstalt für straffällige gewalttätige Kinder, wurde nach langen Jahren entlassen, bekam eine falsche Identität und lebte unentdeckt und fern der Öffentlichkeit, immer bemüht keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch die Familie des getöteten Kindes fand keine Ruhe. Immer wieder tauchten Journalisten auf, rissen alte Wunden auf, hielten in der Mutter und in der Schwester des getöteten Kindes den abgrundtiefen Wunsch nach Rache wach. Da sie kein Zeugenschutzprogramm genossen, so wie Sally McGowan, waren sie der Öffentlichkeit preisgegeben, praktisch Freiwild.
Ich kann beide Parteien gut verstehen: sowohl die Mutter und Schwester des kleinen Robbie Harris, die von Rachegedanken zerfressen keine Ruhe finden können, als auch die Erwachsene Sally McGowan, die ihr Leben dafür hergeben würde, den einen schrecklichen Moment ihrer Kindheit ungeschehen zu machen. Ihr Leben ist zerfressen von Selbstvorwürfen und Reue, Gedanken, die sie aber niemandem zeigen kann, weder den liebsten Menschen, die sie umgeben, noch irgendjemand anderem. Nur eine einzige Frau weiß Bescheid, die kann ihr aber auch nur heimlich helfen und sie unterstützen, denn es darf ja niemand von dem schrecklichen Geheimnis erfahren.
Die Sprache ist perfekt an die Handlung angepasst: zuerst heiter, angenehm, so wie das Leben in Flinstead selber, ändert sie sich im Laufe des Romans, wird düsterer, dunkler, voller kataphorischer Textverweise, die zuerst den Gedanken an eine Paranoia Joannas denken lassen, weil sie plötzlich überall Gefahren und Bedrohungen zu erkennen glaubt und dann auf die drohende Gefahr anspielen, in der Joanna und Alfie schweben.
Nach dem Coup de Théâtre löst sich die Handlung auf, alle Fäden werden zu Ende gesponnen, Sally McGowan hat wieder eine neue Identität bekommen und lebt irgendwo an einem anderen Meer in Sicherheit und unerkannt, Joanna, ihr Freund Michael und ihr gemeinsamer Sohn Alfie leben weiter in der kleinen Stadt am Meer, alles ist gut.
Na ja, fast gut. Denn die letzte Szene im buch rüttelt alles wieder auf und lässt die Ereignisse damals, in dem zerfallenden Haus in den sechziger Jahren in ein anderes Licht erscheinen. Und wir, die Leser kommen wieder ins Grübeln.

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Veröffentlicht am 29.03.2020

Familiengeschichten zum Hirschgulasch

Das eiserne Herz des Charlie Berg
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Um es vorweg zu sagen: Dies ist kein Kochbuch, obwohl ich das Rezept von diesem Hirschgulasch gerne hätte.
Der Hirschgulasch spielt eine zentrale Rolle in der Familie Berg – Del Monte. Aber dieses Buch ...

Um es vorweg zu sagen: Dies ist kein Kochbuch, obwohl ich das Rezept von diesem Hirschgulasch gerne hätte.
Der Hirschgulasch spielt eine zentrale Rolle in der Familie Berg – Del Monte. Aber dieses Buch ist auch kein Familienroman allein, obwohl sämtliche Familienmitglieder darin vorkommen: Die vier Großeltern, die beiden Eltern, Charlie und Fritzi, die beiden Kinder. Auf den ersten Blick scheint dies eine dysfunktionale Familie zu sein, der Vater ein kiffender Musiker, die Mutter Theaterregisseurin mit einem massiven Alkoholproblem, Fritzi ein Savant, die mit vier Jahren schon die städtische Bücherei durchgelesen hat. Und schließlich Charlie Berg der die Familie zusammenhält. Er kocht für die Familie, hält das Haus in Schuss, übernimmt die kleine Fritzi als die Mutter in ganz Europa Regieaufträge annimmt und der Vater sich tagelang in sein Studio für Musikaufnahmen einschließt. Er zieht mit Fritzi um ins Haus der Großeltern als die Großmutter einen Schlaganfall erleidet und übernimmt ihre Pflege. Dysfunktional doch irgendwie halten die Mitglieder doch zusammen, sind füreinander da im entscheidenden Augenblick, unterstützen sich bedingungslos. Und nicht nur strikt die mit verwandtschaftlichen Graden untereinander sondern auch die Freunde die fest zu dieser Familie dazugehören: Stucki, Ditos Freund und das andere Mitglied der Band Toytonic Swing Ensemble; Stuckis Stieftochter Malinche – Mayra; David, Charlies sexbesessener Schulfreund, Laura, die Bibliothekarin die Fritzi bei sich in der Bibliothek aufnimmt und sie alles lesen lässt.
Also gut. Kein Kochbuch aber ein Familienroman. Was noch? Entwicklungsroman? Auf jeden Fall. Zwar kein Tumber Tor der sich zum Gralssuchenden Parzival entwickelt, aber vom schulischen Außenseiter in der Kindheit, der nur im Hause seiner Großeltern und mit Malinche zusammen unbeschwerte Kindheit erleben darf, entwickelt sich Charlie Berg zu einem Mann der die Fäden der Familie fest zusammen hält, Verantwortung übernimmt, über Leben oder Tod von geliebten Menschen aber auch von fremden oder verhassten Menschen fraglos übernimmt.
Also gut: Kein Kochbuch aber ein Familien- und Entwicklungsroman. Ist es ein Roman über eine außergewöhnliche Gabe und Begabung? Charlie Berg hat eine Leidenschaft für Gerüche und Parfüms. Er hat ein außergewöhnliches Riechorgan, besser als die eines Spürhundes. Er kann die Düfte und Gerüche, die ihn umgeben zerlegen, aussortieren, sich auf einige wenige konzentrieren und sie akkurat wahrnehmen. Charlies Nase spielt im Roman eine Hauptrolle.
Also gut: Kein Kochbuch aber ein Familien- und Entwicklungsroman und ein Roman über eine außergewöhnliche Begabung. Ist es ein Roman über den Literaturbetrieb an sich, wie kleine Selbstverlage funktionieren, wie Preise im Literaturzirkus manchmal vergeben werden (Bitte, lasst wenigstens den Nobel-Preis korrekt vergeben werden!) Die ganze Stadt fiebert dem Literaturfestival und -preis Text.Eval entgegen, die Lesungen werden mit großem Interesse allerseits verfolgt, sie sind ungemein wichtig sowohl für den jungen Literaten, der den Preis gewinnt als auch für den „Literaturpaten“ der das Werk des Debütanten fördert und unterstützt.
Also gut: Kein Kochbuch aber ein Familien- und Entwicklungsroman, ein Roman über eine außergewöhnliche Begabung und ein Roman über den Literaturbetrieb der über die Grenzen einer Kleinstadt hinausgeht. Krimi? Oder Thriller? Ja! Beides: Wer ist der Wilderer im Wald? Wieso verschwindet Großvaters Leiche vom Tatort? Wie schafft es der schwerkranke Charlie Berg in einer atemberaubenden Aktion Ramón beim Sterben ein wenig nachzuhelfen? (Von meiner Seite aus: !Hasta nunca! Ramón!). Sehen wir uns mal den Thriller an: das Baumhaus ist fertig, der elfjährige Charlie und die 14jährige Malinche wollen im Wald im Baumhaus übernachten, werden aber von den ärgsten Schulhofschlägern überfallen, das Baumhaus wird in Brand gesteckt, das Mädchen wird fast vergewaltigt, Charlie überlebt nur knapp den Tod. Das Ganze wird so spannend geschildert, dass man mit den Kindern mitfiebert und mitleidet. Oder kurz vor dem Ende des Romans, als Charlie der Polizistin Carla die Hintergründe der Morde, des Plagiatsvorwurf, kurz alles aufdeckt und zur Verhaftung der schuldigen Person führt. Die Szene (wie übrigens alle Buchszenen) ist filmreif und ein Raymond Chandler oder skandinavischer Krimiautor hätten das nicht besser gestalten können.
Sebastian Stuertz ist mit seinem Debüt gleich in die Meisterklasse aufgestiegen. Die ganze Handlungsführung von der ersten zur letzten Seite, die Actionszenen, die Dialoge, die agierenden Personen, alles wirkt natürlich und logisch. Der Spannungsbogen erschlafft an keiner Stelle, noch wird er überzogen. Einige Gestalten finden wir von Anfang an liebenswürdig, wie Malinche – Mayra, wie Charlies Oma, wie die geradlinige Fritzi die nur in Zitaten redet. Andere brauchen etwas, bis sie uns ans Herz wachsen: wie Charlie Berg, der Ich-Erzähler. Zuerst war ich ein wenig abgestoßen, mit welcher Kaltblütigkeit er den erschossenen Opa im Wald beim Hirsch zurücklässt, aber im Nachhinein betrachtet verstehen wir seine Beweggründe, akzeptieren sie und stehen voll hinter Charlie. Oder seine Eltern: Rita del Monte, deren Karriere als Regisseurin vor Familie und vor allem vor den Kindern steht. Nur während der Schwangerschaften verzichtet sie auf weite Reisen, Alkohol und Zigaretten. Aber durch Charlies Trick mit der Kassette aus dem Anrufbeantworter kommt sie zur Besinnung und geht auf Entzug. Der Vater, Dito Berg ist Musiker, ein kiffender Alt Achtundsechziger, der seinem Vater seine NSDAP Vergangenheit nie verziehen hat. Er hat eine „Band“ bestehend aus ihm und seinem Freund Stucki, sie haben sogar Erfolge damit, bringen Platten heraus, sind in Insiderkreisen bekannt. Er zieht sich tage- und wochenlang zurück in sein Studio im Keller, kümmert sich weder um die Kinder noch um das Haus, obwohl er weiß, dass seine Frau abwesend ist. Charlie erledigt praktisch alles: kümmert sich um das Baby und spätere Kleinkind, kocht, putzt, schmeißt den ganzen Haushalt und das neben der Schule.
Die Großeltern sind absolute Gegensätze: Oma ist freundlich, lieb, resolut, tröstet Malinche und hilft ihr als sie zum ersten Mal ihre Regel kriegt. Sie baut mit Charlie und Malinche das Baumhaus und reagiert vernünftig als sie Murat, Mozart und Claudio im Wald erwischt. Hätte sie die Polizei gerufen, wäre aus diesen dreien Kleinkriminelle geworden, ohne Halt im Leben. So werden sie ihren Familien ausgehändigt, die von den Umtrieben der Bande bis dahin nichts wussten und nun ihrerseits Maßnahmen ergreifen können. Opa ein eigenbrötlerischer Mann, trinkt und hat praktisch keinen Kontakt zur eigenen Frau oder zu den Enkelkindern. Das ändert sich radikal als Oma den Schlaganfall erleidet. Als späte Wiedergutmachung hört er mit dem Trinken auf, bringt Charlie sein Jägerhandwerk bei, wird zu dem Opa, der er früher nie war. Wer weiß, vielleicht hätte er es sogar noch geschafft, sich mit seinem Sohn auszusöhnen.
Dann wären da die ermittelnden Polizisten, Carla Bentzin und Dittfurt. Effizient, in einer heimlichen Sexaffäre miteinander verwickelt, kommen sie zu den gleichen Schlussfolgerungen wie Charlie Berg und sind der Lösung der Krimifälle auf der Spur.
Dann wäre da noch die schräge Dr. Helsinki. Kompetent aber schräg. Sie redet in einer verniedlichenden Babysprache mit den erwachsenen Patienten, dass man sich fragen muss, wie fachkundig sie eigentlich ist und ob sie ihr Diplom in der Kita erworben hat.
Eine meiner Lieblingsszenen spielt im Krankenhaus, nachdem Charlie seinen Herztransplant bekommen hat. Er schwebt zwischen Leben und Tod, er kriegt nur olfaktorisch mit, wer ihn besucht, zwischen den Besuchen entschwebt sein Geist aus dem Raum, spricht mit Cernunnos, dem keltischen Gott des Waldes und der Natur. Erst als ihm der gehörnte Gott die Absolution erteilt kann Charlie mit Mayras Hilfe zurück ins irdische Dasein kommen.
Die Schlussszene, als die gesamte Familie samt Freunden beim Hirschgulaschessen zusammen findet, und die letzten losen Enden in diesen wunderschönen Wirkteppich zusammen gefügt werden lässt die Leser aus dem Buch auftauchen, sich umsehen und zurück ins Buch eilen: war das wirklich alles? 714 Seiten sind nicht genug. Bei weitem nicht. Wird Ramon nie aus der Versenkung auftauchen? (Achtung Wortspiel). Wird die adoptierte Gräfin noch Ränke und Intrigen schmieden? Wird Mayra je die volle Wahrheit über Ramon erfahren und wie wird sie darauf reagieren? Und vor allem wird Charlie seine wunderbare Gabe auch nach der Herz-OP behalten?

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Veröffentlicht am 22.03.2020

Wie viele Diktaturen kann ein Mensch ertragen?

Goodbye, Bukarest
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Der Luftwaffenpilot Bruno Seeberger, der lange als verschollen geglaubte Onkel der Autorin Astrid Seeberger hat gleich drei Diktaturen überlebt: zuerst Hitlerdeutschland, dann Kriegsgefangenschaft in einem ...

Der Luftwaffenpilot Bruno Seeberger, der lange als verschollen geglaubte Onkel der Autorin Astrid Seeberger hat gleich drei Diktaturen überlebt: zuerst Hitlerdeutschland, dann Kriegsgefangenschaft in einem der vielen Lager Stalins und zuletzt Ceausescus Diktatur in Rumänien. Die Autorin erfährt erst spät, dass Bruno nicht über Stalingrad abgeschossen wurde, sondern in einem Gulag und anschließend in Bukarest gelebt hat. Er hat geheiratet, hat einen Sohn großgezogen, hat den Freitod seiner geliebten Frau Naja nur schwer überwunden.
In einer Diktatur, egal welcher Couleur, kann man nicht still und versteckt vor sich hinleben. Die Diktatur umfasst jeden einzelnen wie ein Krake, saugt ihn aus, bestimmt sein Leben bis ins kleinste Detail. Man überlebt nur durch das Errichten von Schutzräumen, die man mit geliebten Menschen und Schicksalsgenossen teilt. Dieser Schutzraum kann ein Wort sein, wie Kaolin, oder ein Stück Brot das einem unverhofft zugesteckt wird, oder das Melken einer Kuh, oder Musik aus einem Lautsprecher, ein Bild, dass seine Aura auch dann noch ausstrahlt, als die Schergen des Regimes das Bild längst abgeholt haben, oder einfach nur die Zwei- oder Dreisamkeit in Zeiten der größten sozialen Oppression. Diese Schutzräume bieten kurze Momente des Glücks, das von keiner Behörde zerstört werden kann, denn sie sind tief in unserem Innersten verankert. Und sind gleichzeitig auch unser eigener Anker im Leben. Dank dieser Schutzräume konnte Bruno Seeberger überhaupt überleben.
Ihm selbst begegnen wir im Roman „Goodbye Bukarest“ nur in den Rückblicken der Menschen, die ihn gekannt haben. Zuerst der junge Dmitri Fjodorow alias Hannes Grünhoff, ein junger Strafgefangener im Lager in Kasachstan, dann der Sänger Wolfgang Müller, der zwar Bruno nicht gekannt hat, aber seinen langjährigen Partner und Schwager Dinu Adamescu. Zum Schluss kommt Jakob Seeberger, Brunos Sohn zu Wort, der die Geschichte über Brunos Leben abrundet. Dinu Adamescu selbst nimmt seine und Brunos Geschichte auf einer CD auf, er erzählt von der Flucht aus Sowjetrussland, die abenteuerliche Fahrt nach Bukarest, das Leben in einer einst so wundervollen und lebenshungrigen Stadt die unter Ceausescu immer mehr erlischt, an Lebensfreude und Esprit verliert. Ceausescu lässt ganze Straßenzüge und Wohnviertel niederwalzen, weil er einen monströsen Prunkpalast mit Potemkinschen Boulevards bauen will. Die Securitate bespitzelt immer offener und brutaler alle Menschen, ein Entkommen gibt es nicht. Die Prunkbauten verschlingen Unmengen an Geld, Geld das das Land nicht hat und von den Wehrlosen genommen wird. Das ganze Land leidet an Hunger, Kälte, schlechter Versorgung. Ceausescus Imponiergehabe färbt ab, Demokratie ist ein leeres Wort im Land des Titanen der Titanen, des „meist geliebten Sohnes seines Volkes“, des „größten Steuermanns und Denkers“.
Bruno Dinu und Jakob erleben das Ende der Diktatur nicht mehr in Rumänien. Dinu ist schon früher geflohen, Bruno und Jakob nach Najas Tod, zehn Jahre vor dem Ende der Willkürherrschaft. Die drei verfolgen das unrühmliche Ende der Diktatur wie wir alle anderen, im Fernsehen. Es war die erste gefilmte Revolution. Im Buch beschwert sich Bruno, der Prozess der beiden Diktatoren, Elena und Nicolae Ceausescu sei viel zu kurz gewesen, er hat nicht einmal eine Stunde gedauert vom Verlesen der Anklageschrift bis zum Urteil, das auch sogleich vollstreckt wurde. Ich aber sage, es war richtig so. Nachdem die Bilder ausgestrahlt wurden, fiel im ganzen Land kein Schuss mehr, ein blutiger Bürgerkrieg wurde durch unwiderrufliche Bekanntgabe von Ceausescus Tod im Keim erstickt, Ceausescus Schergen tauchten ab, der Tod durch Heckenschützen war gebannt.
Astrid Seeberger ist eine großartige Erzählerin. Ihre Sprache ist schlicht und direkt, um dann wie en passant sehr bildhafte und bezaubernde Vergleiche zu verwenden. So beschreibt Bruno die Dämmerung als eine leuchtende blaue Weite in der sich die Konturen der Erde auflösen. (S. 75). Oder wie Naja erklärt, warum sie am liebsten am Vormittag malt: da findet der Pinsel die Bilder. „Dann braucht man ihn nur malen lassen, und nicht mit eigenen Ideen zu kommen“ (S. 202). Es sind nicht außergewöhnliche Worte, die Seeberger hier verwendet. Die Worte kommen mitten aus dem Wortschatz, doch durch diese Anordnung in Sätzen ergeben sich Bilder von ungeahnter Stärke und Schönheit.

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Veröffentlicht am 11.03.2020

Wann kommt endlich der 3D Drucker der menschliche Ersatzorgane drucken kann?

Feuerland
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Der Thriller beginnt langsam, bedächtig, lässt uns Zeit uns einzulesen, zuerst ein Einbruch in einem Juwelierladen, der eigentlich kein Einbruch ist, eine Polizistin muss eine Psychotherapie beginnen, ...

Der Thriller beginnt langsam, bedächtig, lässt uns Zeit uns einzulesen, zuerst ein Einbruch in einem Juwelierladen, der eigentlich kein Einbruch ist, eine Polizistin muss eine Psychotherapie beginnen, weil sie mit Alkohol am Steuer erwischt wurde, ein Tellerwäscher der eigentlich zu schade und zu gut für den Abwasch ist, dies alles in Stockholm. Und dann plötzlich schwenken wir rüber, über den Atlantik, an die Südspitze Chiles und begegnen dem Abgrundtief Bösen. Die Colonia Rhein, in Feuerland, hat nach dem Wegbruch der Pinochet-Diktatur sich um andere Verdienstmöglichkeiten bemüht, nun, da keine Folterknechte mehr von Pinochet benötigt wurden. Und Colonia Rhein ist fündig geworden: Organtransplantationen. Kranke Menschen, die neue Organe benötigen, gibt es immer, und reiche Menschen, die sich privat und diskret neue Organe einsetzen lassen, gibt es auch. Bloß mit den Organspendern will es nicht so recht klappen. Aber Don Carlos hat die Marktlücke entdeckt: Waisen- und Straßenkinder aus Asien und als die Quelle versiegt, Flüchtlingskinder aus Schweden. Sein Pech, dass er sich die falschen Handlanger in Schweden aussucht.
Was als mehrere lose Erzählstränge begann wird schnell zu einem brisanten Geflecht und einer atemlosen Handlung. Nicolas Paredes, der Tellerwäscher entpuppt sich als ein Profi mit eisernen Prinzipien und Familienmensch, hält zu und hilft seinem Freund nur um fest zu stellen, besagter Freund meint es nicht ganz so ehrlich mit ihm. Don Carlos entdeckt den zweiten Frühling, weiß ihn aber nicht zu halten. Vanessa Frank, die Polizistin ermittelt in zwei Fällen von nicht oder nur spät gemeldeten Kidnappings und nebenbei übernimmt sie die Verantwortung für ein Flüchtlingskind, stellt auch fest, dass jemand in den Reihen der Polizei korrupt ist und ein doppeltes Spiel treibt. Aus diesen Verwicklungen heraus entsteht letztendlich eine ungemein spannende und erfolgsgekrönte Zusammenarbeit zweier Kontrahenten, die es so offiziell nicht geben darf, zwischen Polizei und Verbrecher.
Rasanter knapper Stil, ein Page-Turner par Excellence, fiebern wir dem dramatischen Showdown auf Feuerland entgegen.
Die Hauptgestalten, kommen glaubhaft und realistisch dargestellt rüber. Schön finde ich auch die sehr fein gezeichnete Unterscheidung zwischen bösen richtig abgrundtief bösen Verbrechern und den guten Verbrechern, à la Robin Hood. (Wie Nicolas Paredes wohl in Strumpfhosen aussieht?) Vanessa Frank, die Kriminalkommissarin hat ein offensichtliches kleines Alkoholproblem und ein viel größeres mit der Hierarchie bei der Stockholmer Polizei. Wenn sie der Meinung ist, der Polizeichef ist ein inkompetenter Idiot tja, dann ist es wohl so und der Chef muss sehen wie er damit zu Rande kommt.
Ich hoffe, Pascal Engmann wird uns die Wiederbegegnung mit Vanessa und Nicolas auch in zukünftigen Thrillern ermöglichen, sie geben ein tolles Gespann ab.

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Veröffentlicht am 11.03.2020

Wiedersehen in Doggerland

Doggerland. Tiefer Fall (Ein Doggerland-Krimi 2)
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Was ist so faszinierend an Doggerland? Es gibt ja diese Inseln gar nicht. Aber anders als in Auenland oder Liliput, gab es einmal, in grauer Vorzeit Doggerland wirklich. Die Ortsnamen, die Landschaft, ...

Was ist so faszinierend an Doggerland? Es gibt ja diese Inseln gar nicht. Aber anders als in Auenland oder Liliput, gab es einmal, in grauer Vorzeit Doggerland wirklich. Die Ortsnamen, die Landschaft, die Menschen, alles klingt so vertraut als wäre es im Nachbarort. Dabei entspringt alles Maria Adolfssons Fantasie. Das macht den Roman so interessant. Natürlich auch die Handlung, ein gut gemachter Krimi ist immer spannend und abwechslungsreich, und dies ist ein guter Krimi. Ein weiterer Anziehungspunkt ist das Auftreten der Hauptgestalten, die wir aus Adolfssons ersten Krimi schon kennen: Die Ermittler und ihre mehr oder weniger komplizierten Familienverhältnisse.

Karen Eiken Hornby verbringt Weihnachten mit ihrer Mutter, deren Partner, mit dem obdachlosen Leo Friis, der bei ihr eine Bleibe gefunden hat, mit Sigrid Smeed, der Tochter des Polizeichefs von Doggerland, mit Marike, der dänischen Freundin. Karen ist sich dabei nicht sicher, will sie vielleicht lieber allein sein und ihre Ruhe haben oder doch lieber die Freunde und all den Trubel um sich haben? So kommt ihr die Aufforderung ihres Chefs auf die Nachbarinsel Noorö überzusetzen, weil da ein Mord passiert ist nur gelegen. Und so nimmt die Handlung Fahrt auf. Wie bei einem guten Krimi rutschen abwechselnd unterschiedliche Verdächtige in den Fokus nur um dann wieder entlastet und in unseren Augen rehabilitiert in den Hintergrund zu treten oder selber als Leiche zu enden, denn es geschieht ein zweiter Mord auf Noorö.

Zusätzlich lernen wir neue Familienmitglieder von Karen kennen und auch wie Karens Mann und Sohn ums Leben kamen, damals in England. Dies ist alles notwendiger Teil der Handlung, denn nur so können wir Karen Eiken Hornby besser kennen und verstehen lernen. Wenn sich anfangs die Ermittlungen mühsam und fast zäh dahinziehen, so wächst die Handlung allmählich an, die Spannung wächst und die Verschnaufpausen werden immer geringer und seltener. Parallel zur eigentlichen Krimihandlung entwickelt sich noch ein zweiter genauso spannender Erzählstrang um Karens Freundin Aylin und deren Mann Bo Ramnes.

Und wie es sich für einen spannenden Krimi gehört, wird Karen Eiken Hornby unter Einsatz ihres Lebens beide Mordfälle lösen und Aylins Problem eher unkonventionell letztlich endgültig aus der Welt schaffen.

Maria Adolfsson hat mir schon mit dem ersten Doggerland Roman gefallen, mit diesem zweiten ist sie definitiv in meinen persönlichen Autorenpantheon aufgestiegen.

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