„Warum?“
Mit diesen Worten begannen, seit seiner Ankunft in Auschwitz, fast alle Fragen von Wilhelm Brasse.
„Warum werden Menschen hier so gedemütigt?“
„Warum werden sie geschlagen?“
„Warum greift niemand ein?“
„Warum macht man uns zu Opfern?“
(S.17)
Wilhelm Brasse, geboren am 3. Dezember 1917 in Żywiec, überlebte das Konzentrationslager Auschwitz aufgrund seines Berufes. Der aus Polen stammende junge Mann war gelernter Fotograf und hatte umfassende Deutschkenntnisse. Und so arbeitete er vier Jahre lang im Erkennungsdienstes des Lagers.
Dabei sah Brasse nicht nur in die Gesichter der abgemagerten und meist auch völlig hoffnungslosen Lagerinsassen, sondern er kam auch in Kontakt mit hochrangigen SS-Größen. Zu registrieren, dass diese Menschen Leute systematisch dem Tode übergeben, und dennoch lächelnd und ungezwungen plaudernd durch die Gegend laufen konnten, war für Brasse unbegreiflich.
Immer wieder bekam der junge Mann Dinge zu sehen, die ihn verzweifeln ließen. Doch er hatte gar nicht großartig die Zeit, um zu verzweifeln, denn der Hungernde denkt nur ans Essen. Und Hunger den hatte Wilhelm oft genug.
Oft sah er den Satz, mit dem Auschwitz ihn 1940 begrüßte, bestätigt: „Die einzige Möglichkeit, dem Konzentrationslager zu entkommen, ist die durch den Schornstein!“ (S.29)
Doch schlimmer als die hungernden Gesichter, die er fotografieren musste, waren die Bilder, die die Mediziner von ihm verlangten.
Mengele, Wirths und Entress verlangten von Brasse, dass er ihre grausamen Experimente dokumentierte. Hunger-Experimente, Sterilisationen und Operationen musste Wilhelm Brasse mit seiner Kamera festhalten.
Da war es kein Wunder, dass er später, als das Grauen beendet war, die Bilder dennoch nicht aus seinem Kopf verbannen konnte, und den Beruf des Fotografen aufgab. Wilhelm Brasse fasste nie wieder eine Kamera an.
„Mit meinem Beitrag möchte ich aufzeigen, was passiert ist, damit sich so etwas Schreckliches nicht noch einmal wiederholt.“
(S.161)
Wilhelm Brasse starb am 23.Oktober 2012 in seiner Heimatstadt Żywiec, kaum 50 Kilometer von Auschwitz entfernt.
Bis zu seinem Tod hielt er immer wieder Vorträge in Auschwitz für deutsche Personengruppen. Dann begann er von dem Glück zu reden. Dem Glück Freunde getroffen bzw. gefunden zu haben. Dem Glück Aufseher gehabt zu haben, die ihn nicht permanent geschlagen haben. All das sah Wilhelm Brasse als eine Anhäufung von glücklichen Zufällen an.
Und bis zu seinem Tod hat er immer wieder betont, er würde die Deutschen nicht hassen. „Schon gar nicht die in der heutigen Zeit, nur weil sich damals ein Führer zu einem Verführer der Massen entpuppt hat.“ (S.161)
Reiner Engelmann hat aus Gesprächen mit Wilhelm Brasse dessen Leben nach erzählt. Die Geschichte des Häftlings Nr. 3444 zeigt deutlich die zwei Gesichter der treuen Nazis. Als KZ-Insasse musste man vor jedem Aufseher Angst haben und war sich der Gefahr nur allzu bewusst. Gerade deshalb ist es noch bewundernswerter, dass Brasse 1945 die Anordnung, die Fotos zu verbrennen, um Beweismaterial zu vernichten, missachtete. Durch Wilhelm Brasse lernt der Leser die verschiedenen Persönlichkeiten des Lageralltags kennen. Von hochrangigen SS-Männern bis hin zu Kapos und sogar zu Widerstandskämpfern, die sich einschleusten und denen später die Flucht gelang. Umso trauriger ist es zu erfahren, dass deren Bemühungen nichts gebracht haben.
Das Buch ist ergänzt durch Kurzbiographien der betreffenden SS-Männer wie Boger, Aumeier und Höß. Sowie mit meinem Glossar zu wichtigen Begriffen, die man zwar oft schon mal gehört hat, aber oft nicht genau zu ordnen kann.
Oft hat man Punkte bei Tätern, an denen man denkt, sie wären doch noch menschlich, aber kann man das nach solchen Taten noch glauben:
„Einmal kam ein Transport mit vielen Kindern aus Litauen in Birkenau an. Dr. Mengele hatte einen Rahmen in der Höhe von 1,40m anfertigen lassen und ihn an der Rampe aufgestellt. Die Kinder wies er an, hindurchzugehen. Alle diejenigen, die ohne anzustoßen den Rahmen passieren konnten, waren für die Gaskammer bestimmt und wurden noch am selben Tag ermordet.“