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Veröffentlicht am 23.04.2022

Wer genießen kann, trinkt keinen Wein mehr, sondern kostet Geheimnisse. (Salvador Dalí)

Gretas Erbe
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70er Jahre in der Pfalz. Schon ihre Mutter Marie hat als Helferin bei der Familie Hellert gearbeitet. Als diese bei ihrer Geburt gestorben starb, wuchs Greta Piontek als Ziehkind auf dem Gut der Winzerfamilie ...

70er Jahre in der Pfalz. Schon ihre Mutter Marie hat als Helferin bei der Familie Hellert gearbeitet. Als diese bei ihrer Geburt gestorben starb, wuchs Greta Piontek als Ziehkind auf dem Gut der Winzerfamilie Hellert auf, denn ihr Vater ist unbekannt. Die 17-jährige Greta geht noch zur Schule, hilft den Hellerts aber nicht nur im Haushalt, sondern auch bei der Arbeit in den Weinbergen, sie hat ein gutes Gespür für die Pflanzen und deren Geschmack. Ihr größter Wunsch wäre allerdings, dass Gymnasium zu besuchen, um dann Lehrerin zu werden. Doch die Hellerts, allen voran Vater Harald haben andere Pläne mit Greta: sie soll nach dem Schulabschluss ganz in der Winzerei mithelfen. Greta fühlt sich oft einsam, vor allem, da die Familie sie oft genug spüren lässt, dass sie eigentlich nicht zu ihnen gehört. Als der älteste Sohn Robert aus Berlin auf das Gut zurückkehrt, ist Greta froh, ihren alten Jugendfreund endlich wieder zu haben. Schon bald verlieben sich die beiden und halten ihre Gefühle geheim, bis die Familie dahinterkommt, und Robert im Streit das Gut verlässt, um sich in der Nachbarstadt niederzulassen. Greta wird dagegen noch mehr zur Arbeit eingespannt. Als der wohlhabende Nachbarwinzer, mit dem die Hellerts seit Jahrzehnten im Streit liegen, bei einem Unfall stirbt, bekommt Greta unverhofft eine Einladung zur Testamentseröffnung…
Das Autorenduo Nora Engel hat mit „Gretas Erbe“ den Auftaktband ihrer Winzerreihe vorgelegt, der nicht nur die vergangenen 70er Jahre wieder aufleben lässt, sondern auch das harte Schicksal der Halbwaise Greta widerspiegelt. Der flüssige, farbenfrohe und gefühlvolle Erzählstil lässt den Leser schnell an Gretas Seite gleiten, um ihr bei ihrem täglichen Leben über die Schulter zu schauen. Als Ziehkind darf sie zwar in einer Familie aufwachsen, doch wirkt sie oft wie ein Fremdkörper, denn richtige Liebe und Zuneigung wird ihr von ihren Ersatzeltern nicht zuteil. Diese erhält sie nur von dem jüngsten Sohn Mathias, der mit seiner feinsinnigen Art selbst wie ein Außenseiter wirkt, und von Robert, der als schwarzes Schaf der Familie gilt. Greta wird als billige Arbeitskraft von den Hellerts regelrecht ausgenutzt, muss von morgens bis abends schuften und hat keine Wünsche zu äußern, sondern muss tun, was Harald und seine Frau Elfriede ihr vorschreiben. Die scheuen auch nicht davor zurück, Greta von der Schule abzumelden und wie eine Gefangene im Haus einzuschließen, um die Beziehung zu Sohn Robert zu unterbinden. Es dauert eine Weile, bis Greta durch ein gut gehütetes Geheimnis erkennt, dass nur sie selbst sich von der Abhängigkeit der Hellerts befreien kann. Während die Autoren die Landschaft mit bildhafter Sprache vor dem Auge des Leser erscheinen lassen, malen sie auch ein recht trauriges Bild von Gretas Leben bei der Familie Hellert, so dass man sich die ganze Zeit wünscht, Greta möge endlich ausbrechen und das Weite suchen.
Die Charaktere sind realistisch ausgestaltet und lebendig in Szene gesetzt worden, ihre glaubwürdigen Ecken und Kanten sind überzeugend und lassen den Leser sich ihnen anschließen. Greta ist eine liebenswerte, fleißige und intelligente junge Frau, die gerne lernt, die Arbeit in den Weinbergen liebt und Träume für die Zukunft hat. Gleichzeitig ist sie einsam und hat bis auf einen Schulfreund keine engere Bezugsperson. Harald und Elfriede sind hart arbeitende Leute, doch Gefühle hegen sie nur für die eigenen vier Kinder. Tochter Renate ist eingebildete und altklug, während Bruder Johannes eher dümmlich wirkt. Robert liebt Musik, seine Gedanken kreisen nur um seine Band, aber auch technisch ist er versiert. Mathias liebt Mode, näht gern, ist feinsinnig und schlägt mit seinem Wesen völlig aus der Art.
„Gretas Erbe“ ist ein unterhaltsamer Roman, der nicht nur die 70er Jahre gesellschaftlich und historisch wunderbar widerspiegelt, sondern auch Gretas hartes Leben bei den Hellerts dem Leser sehr nahe bringt. Verdiente Leseempfehlung mit Vorfreude auf die Fortsetzung!

Veröffentlicht am 23.04.2022

Man braucht nichts im Leben zu fürchten, man muss nur alles verstehen. (Marie Curie)

Die Schokoladenfabrik – Das Geheimnis der Erfinderin
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1862 Köln. Anna Sophia und Franz Stollwerck sind mit ihrer Schokoladenfabrik inzwischen recht erfolgreich und ihre gemeinsamen Söhne im heiratsfähigen Alter. Die Tochter der Nachbarn, Apollonia Krusius ...

1862 Köln. Anna Sophia und Franz Stollwerck sind mit ihrer Schokoladenfabrik inzwischen recht erfolgreich und ihre gemeinsamen Söhne im heiratsfähigen Alter. Die Tochter der Nachbarn, Apollonia Krusius wäre eine geeignete Ehekandidatin, aber diese möchte viel lieber studieren und sich ihrem Erfindergeist widmen. Als ihr Vater stirbt und ihr Onkel sie mit dem ältesten Stollwerck-Sohn Nikolaus verheiraten will, versucht sie sich zur Wehr zu setzen, doch dann kommt ihr die Liebe dazwischen, denn der jüngere Bruder Heinrich Stollwerck erobert ihr Herz im Sturm. Bei Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges steht die junge Liebe, vor allem aber Apollonia vor großen Herausforderungen…
Rebekka Eder hat mit „Das Geheimnis der Erfinderin“ den zweiten Band ihrer historischen Stollwerck-Saga vorgelegt, der nicht nur sehr gekonnt Fiktion mit realen Fakten verbindet, sondern dem Vorgängerband in Spannung und Unterhaltung in nichts nachsteht. Der flüssige, bildhafte und gefühlvolle Erzählstil lädt den Leser ins vergangene 19. Jahrhundert ein, wo er nicht nur erneut auf Anna Sophia, Franz und deren Familie trifft, sondern vor allem die junge Apollonia Kruse kennenlernt, die sich mit ihrem Wissensdurst, technischem Erfindergeist und ihrer rebellischen Art schnell ins Herz des Lesers schleicht. Über wechselnde und abwechslungsreiche Perspektiven bringt die Autorin ihre Geschichte dem Leser näher. So reist man zwischendurch Schiff nach Afrika und Amerika, um dort neben der Sklavenarbeit auch die Kakaobohnengewinnung mitzuerleben. Oder man treibt sich in der Schokoladenfabrik herum und erfährt einiges über die Entstehung der unterschiedlichsten Erzeugnisse sowie die Gestaltung der Verpackungen. Gleichzeitig spinnt die Autorin ihre Fäden innerhalb der Familie und deren zwischenmenschlichen Beziehungen weiter, baut unerwartete Wendungen mit ein und lässt so den Spannungslevel immer wieder in die Höhe schnellen. Auch der Krieg und die damit einhergehenden Veränderungen finden Einzug in die Handlung, ebenso interessant eingewebt ist die Rollenverteilung innerhalb der Gesellschaft, wobei einmal mehr deutlich wird, dass man Frauen damals außer Ehefrau und Mutter nur wenig zutraute.
Die Charaktere sind lebendig und realistisch in Szene gesetzt, so dass der Leser sich schnell unter ihnen wiederfindet, mit ihnen hofft, bangt und fiebert. Apollonia ist eine sympathische, junge Frau, die sich durch eine gesunde Neugier sowie Intelligenz auszeichnet. Sie ist klug, dabei manchmal etwas störrisch, doch durchweg liebenswert. Anna Sophia und Franz Stollwerck haben gemeinsam mit Liebe, Fleiß und Ideenreichtum viel erreicht. Während Anna Weitblick besitzt, besticht Franz durch seine Warmherzigkeit, die er auch an seinen Sohn Heinrich vererbt hat. Heinrich ist technisch versiert und hält mit seinem Wissen die Herzstücke der Fabrik am Laufen. Aber auch andere Protagonisten wie z.B. Kaspar Rockstroh bringen Spannung und Farbe in die Handlung.
„Das Geheimnis der Erfinderin“ unterhält mit einer gelungenen Mischung aus Historie, Familiengeschichte, Liebe, Geheimnissen, Reisen und viel Hintergrundwissen rund um die Herstellung von Schokolade, wobei der Leser während der kurzweiligen Lektüre ein farbenfrohes Kopfkino erleben darf. Verdiente Leseempfehlung für diesen abwechslungsreichen Schmöker!

Veröffentlicht am 03.04.2022

Träume und Gedanken kennen keine Schranken. (Dt. Sprichwort)

Die Dame mit dem roten Hut
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1946 Charleston/South Carolina. Aufgewachsen als Tochter einer Afroamerikanerin und eines Italieners sah sich Millie Middleton immer schrägen Blicken und Ausgrenzungen gegenüber. Als der Vater stirbt, ...

1946 Charleston/South Carolina. Aufgewachsen als Tochter einer Afroamerikanerin und eines Italieners sah sich Millie Middleton immer schrägen Blicken und Ausgrenzungen gegenüber. Als der Vater stirbt, sieht Millies Mutter die Chance für ihre Tochter, ein unbelastetes Leben als Weiße führen zu können und schickt sie mit ihrem Traum von einem Bekleidungsgeschäft und zwei Knöpfen im Gepäck per Zug nach Fairhope. Während der Fahrt trifft Millie auf Franklin, ihren zukünftigen Mann…
Gegenwart Alabama. Harper hat bei Millie das Nähen gelernt und von einem Laden mit eigenen Modellen geträumt. Doch die Wirklichkeit hat sie schnell eingeholt und nach Fairhope zurückkehren lassen. Gemeinsam mit Millie reist sie in deren alte Heimat Charleston, wo sie schon bald einen Laden anmieten, um endlich den Traum wahr werden zu lassen…
Ashley Clark hat mit „Die Dame mit dem roten Hut“ einen unterhaltsamen historischen Roman vorgelegt, der kunstvoll die Vergangenheit mit der Gegenwart sowie das Schicksal zweier Frauen miteinander verbindet. Der flüssige, bildhafte und gefühlvolle Erzählstil lässt den Leser über wechselnde Kapitel und Zeitebenen zum einen Millies Leben in der Vergangenheit kennenlernen, zum anderen in der Gegenwart auf die junge Harper und die inzwischen betagte Millie treffen. Vor allem Millies Vergangenheit wird von der Autorin sehr berührend und gekonnt an den Leser gebracht und bildet die Haupthandlung. Dagegen wirkt die Geschichte der Gegenwart regelrecht langweilig und farblos. Millies Leben ist voller Höhen und Tiefen. Als Mischlingskind eines Weißen und einer Farbigen gilt sie nach amerikanischem Recht als Farbige. Rassismus war in den späten 40er Jahren allgegenwärtig und so war es mehr als verständlich, dass Millies Mutter sie in eine Stadt schickte, wo sie niemand kannte und sie somit als Weißhäutige ein normales Leben führen konnte. Die Begegnung mit dem weißen Franklin sowie die Ehe mit ihm war Millies Glück, wurden jedoch überschattet von Heimlichkeiten über ihre Herkunft und Schicksalsschlägen, die Millie bis ins hohe Alter verfolgen. Die Autorin hat Millies Zerrissenheit sehr emotional und berührend eingefangen und dem Leser damit eine Achterbahn der Gefühle beschert, die ihn das Buch kaum aus der Hand legen ließen und gleichzeitig zum Nachdenken anregten. Der christliche Aspekt ist schön in die Handlung eingewebt, wobei es nicht nur um Vergeben geht, sondern auch darum, in Gott zu vertrauen, dass dieser einen bei seinem Lebensweg leitet.
Die Charaktere sind liebevoll gestaltet und in Szene gesetzt. Mit glaubwürdigen menschlichen Eigenschaften ausgestattet können sie den Leser schnell von sich überzeugen, der ihnen gerne auf ihren Wegen folgt. Millie ist eine ausgesprochen sympathische Frau, die aufgrund ihrer Herkunft so manche Schwierigkeiten überstehen musste. Sie ist stark, mutig und optimistisch, auch wenn das Leben nicht immer leicht für sie war. Franklin ist ein liebenswerter und humorvoller Mann, der seine Frau sehr liebt. Gegen Millie und Franklin wirken Harper und Peter zwar ganz nett, bleiben aber glanzlos und wirken eher wie Statisten in dieser Geschichte.
„Die Dame mit dem roten Hut“ ist ein unterhaltsamer historischer Roman über ein berührendes Frauenschicksal, das unter die Haut geht. Familiengeheimnisse und Liebe, gespickt mit einigen überraschenden Wendungen machen die Lektüre durchweg kurzweilig und lassen den Leser miträtseln. Verdiente Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 03.04.2022

Lass dich nicht unterkriegen, sei frech und wild und wunderbar! (Astrid Lindgren)

Fräuleinwunder
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1953 Hamburg. Die 19-jährige Elisabeth „Elly“ Bothsen ist mit ihren Geschwistern wohlbehütet in einer gutbetuchten Kaufmannsfamilie aufgewachsen und soll dem Wunsch ihrer Eltern entsprechend mit einer ...

1953 Hamburg. Die 19-jährige Elisabeth „Elly“ Bothsen ist mit ihren Geschwistern wohlbehütet in einer gutbetuchten Kaufmannsfamilie aufgewachsen und soll dem Wunsch ihrer Eltern entsprechend mit einer Heirat dem Familienunternehmen zusätzlichen Glanz verleihen. Doch Elly ist zwar mit dem ausgesuchten Ehemann Thies gut befreundet, liebt ihn jedoch nicht. Als sie von ihren Eltern vor vollendete Tatsachen gestellt wird, weigert sie sich zu heiraten, weshalb ihr Vater sie des Hauses verweist. Mit gepackten Taschen und ihrer Freundin Ingrid im Gepäck, die ebenfalls von ihren Eltern verstoßen wurde, mietet sie sich in einem Hotel auf dem Hamburger Kiez ein. Peter, den sie durch Ingrid kennengelernt hat und der eine Stelle beim neuen Fernsehsender NWDR hat, nimmt sie dorthin mit, wo sie schnell ein Arbeitsangebot bekommt. Elly arbeitet erst als Tippse und Mädchen für alles, um schon bald als Redaktionsassistentin Karriere zu machen, was ihr auch viel Neid in den eigenen Reihen beschert. Doch mit ihren innovativen Ideen kann sie schnell bei ihrem Programmchef punkten und steigt die Karriereleiter bald nach oben. Und auch die Liebe schneit unverhofft in Ellys Leben, während ihre eigene Familie langsam auseinander bricht…
Stephanie von Wolff hat mit „Fräuleinwunder“ einen unterhaltsamen historischen Roman vorgelegt, dessen Handlung den Leser in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts entführt, um dort nicht nur die Anfänge des Fernsehens, sondern auch eine mit Familiengeschichte, Liebe und Freundschaft gespickte Geschichte mitzuerleben. Der flüssige, bildhafte und gefühlvolle Erzählstil lässt den Leser schnell in der Zeit zurückreisen, um dort Elly, ihre Familie und ihr Umfeld kennenzulernen, die sich in den betuchten Hamburger Kreisen bewegen. So wird auch von Elly, ihrer jüngeren Schwester Kari und dem älteren Bruder York erwartet, sich an die gesellschaftlichen Regeln zu halten, wo vor allem für Frauen eher die Rolle der Hausfrau und Mutter vorgesehen war als eine berufliche Karriere. Die Autorin hat die 50er Jahre sehr schön in ihre Handlung integriert und lässt den Leser die Anfänge des Fernsehens gut miterleben. Da werden sowohl Koch- als auch Tiersendungen mit Hagenbeck entwickelt, aber auch die Übertragung der Krönungsfeierlichkeiten von Elisabeth II. gekonnt in Szene gesetzt, so dass der Leser das Gefühl hat, hautnah dabei zu sein. Ebenso werden aber auch ernstere Themen aufs Tablett gebracht, so geht es um Intrigen und Neid unter Kollegen, illegale Schwangerschaftsabbrüche, aber auch um sexuelle Belästigung. Der Spannungsbogen liegt zwar nicht sehr hoch, doch die Lektüre ist durchaus kurzweilig und lässt ein Stück deutsche Geschichte am Leser vorbeiziehen.
Die Charaktere sind sympathisch und lebendig gestrickt, ihre menschlichen Ecken und Kanten durchaus authentisch, was dem Leser die Möglichkeit gibt, sich als Teil von ihnen zu fühlen und mit ihnen zu fiebern. Elly ist ein kluger Kopf mit vielen innovativen Ideen. Recht selbstbewusst, ehrlich und optimistisch geht sie durchs Leben und ist sich für nichts zu schade, um ein selbstbestimmtes Leben nach ihren Vorstellungen zu haben. Peter ist ein liebenswürdiger und offener Mann, der Ehrgefühl besitzt. Thies ist ein farbloser Kerl, der recht fies werden kann. Ellys Vater sowie Bruder York sind wahre Kotzbrocken. Aber auch Ellys Mutter, Schwester Kari, Ingrid und weitere Protagonisten spielen wichtige Rollen in dieser Geschichte.
„Fräuleinwunder“ beschert dem Leser mit einer guten Mischung aus Familiengeschichte, Historie, Liebe und Intrigen einige interessante und unterhaltsame Lesestunden sowie eine Reise in die alten 50er Jahre. Ein schöner Schmöker mit verdienter Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 25.03.2022

Ein guter Diplomat muss mit den Ohren sehen und mit den Augen schweigen können. (Lawrence Durrell)

Die Diplomatin
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Die 50-jährige Friederike Andermann, genannt Fred, ist alleinstehend und seit fast 20 Jahren als im diplomatischen Dienst tätig, wo sie sich Schritt für Schritt die Karriereleiter hinausgearbeitet hat. ...

Die 50-jährige Friederike Andermann, genannt Fred, ist alleinstehend und seit fast 20 Jahren als im diplomatischen Dienst tätig, wo sie sich Schritt für Schritt die Karriereleiter hinausgearbeitet hat. Bisher war Bagdad ihre Wirkungsstätte, doch nun beginnt sie ihre neue Aufgabe als Botschafterin in Montevideo/Uruguay. Mitten in den Vorbereitungen zur Feier des 3. Oktobers, dem Tag der deutschen Wiedervereinigung, erhält sie über einen Anruf Kenntnis davon, dass eine junge deutsche Reisebloggerin vermisst wird, die sich in Uruguay aufhielt. Fred spendet dem Fall nicht genügend Aufmerksamkeit, so dass sie ins türkische Istanbul „strafversetzt“ wird. Dort setzt sie sich für gefährdete Kurden ein und hilft ihnen bei der Flucht nach Griechenland, bis die Krankheit ihrer Mutter sie wieder in ihre Heimatstadt Hamburg bringt…
Lucy Fricke hat mit „Die Diplomatin“ einen unterhaltsamen Roman vorgelegt, der das Leben einer Frau im Auswärtigen Dienst unter die Lupe nimmt und den Leser dabei an deren persönlicher Entwicklung teilhaben lässt. Der flüssige, lakonische und sehr pointierte Erzählstil lässt den Leser Fred kennenlernen, die sich mit viel Fleiß und großem Ehrgeiz die Karriereleiter im diplomatischen Dienst hinaufgearbeitet hat und nun in Uruguay die Landesvertretung Deutschlands leitet. Ihr Dienstpersonal lässt sie gleich zu Beginn im Stich, der Fall einer vermissten Bloggerin und Tochter prominenter Eltern bringt Freds Laufbahn gefährlich ins Wanken, so dass sie sich als Konsulin in Istanbul wiederfindet. Hat sie vorher streng nach Protokoll gearbeitet, so findet anhand der politisch brisanten Fälle, die nun auf ihrer Tagesordnung stehen, ein Umdenken bei ihr statt. Fred fängt an, eigene Entscheidungen zu fällen, die sie in eine brisante Lage bringen, doch sie merkt, dass sie sich damit wesentlich wohler fühlt, als sich hinter ihren Vorgesetzten oder dem Protokoll zu verstecken, was sie aber auch an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit bringt. Die Autorin hat gut recherchiert und ihre Geschichte mit einigen aktuellen Tatsachen garniert wie Verhaftungen aufgrund von nebulösen Anschuldigungen, Menschen, die von jetzt auf gleich verschwunden sind sowie die doch recht harten Repressalien und Verfolgungen, die so mancher in der Türkei aufgrund seiner Abstammung oder seiner Einstellung erleiden muss. Gerade die Aktualität macht diesen Roman so interessant und spannend, gewährt er doch einen Einblick in die diplomatischen Verwicklungen und den Balanceakt auf dem Drahtseil, der hier für zusätzlichen Druck auf alle Beteiligten sorgt.
Die Charaktere sind liebevoll und realitätsnah in ausgestaltet und in Szene gesetzt, ihre glaubwürdigen menschlichen Eigenschaften können den Leser von Beginn an überzeugen, der er ihnen nur zu gerne folgt. Fred ist eine selbstsichere, ehrgeizige Frau, die sich aus einfachsten Verhältnissen im diplomatischen Dienst hochgearbeitet hat. Hat sie bisher streng nach Protokoll gearbeitet, lässt ein Vorfall sowie die Versetzung nach Istanbul sie plötzlich alles in Frage stellen, woran sie vorher vorbehaltlos selbst geglaubt hat. Gerade diese Gradwanderung und die Zweifel Freds lassen sie dem Leser sehr ans Herz wachsen. Aber auch Protagonisten wie Philipp, David, Christoph, Baris oder Meral spielen eine wichtige Rolle innerhalb dieser Geschichte.
„Die Diplomatin“ ist ein gelungener Einblick in die komplizierte Welt diplomatischer Beziehungen, der vor allem jetzt nicht aktueller sein könnte. Verdiente Leseempfehlung für eine tolle Geschichte, die haarscharf die Realität im Blick hat!