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Veröffentlicht am 21.02.2023

Toxische Frauendynastie, deren Darstellung mich fasziniert

Männer sterben bei uns nicht
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Vorweg sei bemerkt, dieses Buch habe ich zweimal gelesen, bevor ich es einschätzen kann. Angetrieben durch eine magische Fesselung an die bedrückende Stimmung, welche der Roman bei mir zurück ließ, blätterte ...

Vorweg sei bemerkt, dieses Buch habe ich zweimal gelesen, bevor ich es einschätzen kann. Angetrieben durch eine magische Fesselung an die bedrückende Stimmung, welche der Roman bei mir zurück ließ, blätterte ich sofort von Seite 204 zurück zum Anfang und begann erneut suchend zu lesen. Ich wollte besser verstehen, aufklären oder erfassen, konnte dies jedoch nur begrenzt. Nun blicke ich mit einem Kloß im Bauch auf eine latent paternalistische Beziehungskultur, toxische Weiblichkeit und verborgene Misandrie, die Annika Reich in ihrem Buch „Männer sterben bei uns nicht“ konstruiert.

Luise ist in den Dreißigern, als ihre Großmutter stirbt. Anlässlich der Beerdigung treffen sich die Frauen wieder, die man gemeinhin als Verwandtschaft bezeichnen würde, die Großmutter geringschätzte und gar aussortierte. In Rückblenden, die jeweils einen Ankerpunkt im angrenzenden Kapitel haben, schildert Luise Bruchstücke ihrer Erinnerungen und Beziehungen. Dazu gehört immer wieder die Erwähnung, Luise habe als Kind zweimal eine tote Frau im angrenzenden See gefunden. Ebenso wird immer wieder deutlich, dass Luise in der großmütterlichen Dynastie bevorteilt und das Anwesen erben wird. Dieses Anwesen prägt Großmutters Wesen, ihr Handeln und Steuern. Sie wird zusammen mit dem Anwesen zum Kern der Familie, eher einer Dynastie von Frauen. Eine „Großmutter“, für die „das Wahren der Form immer die Lösung für alles gewesen ist - Beziehungen, Stil, Gartengestaltung, Vergangenheitsbewältigung.“ Das führt dazu, dass in dieser Familie Gefühle vermieden werden, sie einsam machen, besiegt oder verkleidet oder betäubt werden müssen. Jede hat ihre Strategie, mit Großmutters Geringschätzung umzugehen. Männer werden frühzeitig entfernt, ignoriert oder sie fliehen, finden nur - wenn überhaupt - in Erinnerungen Platz, werden aber zum Schein von Großmutter immer mitgedacht. Zum Sterben und damit zu einem wirklich wichtigen Beitrag zur Welt, kommt es nur bei Frauen.

Das Buch ist in einem kunstvollen Stil geschrieben, der poetisch und zum Teil malerisch durch einen eher schwachen Plot führt. Es wird ein Schmetterling verscheucht wie eine schlechte Idee, Häuser schweigen und die Familie muss getrimmt werden wie ein Japanischer Garten. Solch anmutige stilistische Mittel, Allegorien und Metaphern nehmen mich mit der latent bedrückenden Stimmung in einen Bann.

Ich gebe eine Leseempfehlung für Freundinnen und Freunde poetischer Sprache, die sich gern in Stimmungen hingeben und auch mit offenen Fragen zurückbleiben können.

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Veröffentlicht am 11.01.2023

Brandaktuelle Familiengeschichte

Rote Sirenen
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Victoria lebt in Amerika, stammt aber aus der Ukraine, wohin es sie auf der Suche nach einem in den 1930er Jahren verschwundenen Urgroßonkel zieht. Dessen Verschwinden wird in der Familie tabuisiert, aber ...

Victoria lebt in Amerika, stammt aber aus der Ukraine, wohin es sie auf der Suche nach einem in den 1930er Jahren verschwundenen Urgroßonkel zieht. Dessen Verschwinden wird in der Familie tabuisiert, aber Victoria wollte „einen Verwandten würdigen, von dem nicht mehr geblieben war als ein durchgestrichener Name“. Auf Spurensuche in der Ukraine gräbt Victoria tief in der sowjetischen Kultur, ukrainischer Vergangenheit, in der Geschichte der Familie und in den ukrainischen Orten wie Kiew und dem Dorf Bereh, das mitten in der Ukraine liegt.
Beim Lesen des flüssigen Textes, der mich emotional mitnehmen konnte, beschäftigt mich immer wieder der Bezug zur aktuellen Situation und die Wiederholung der Geschichte in der heutigen Zeit. Wie auch Victorias Familie damals und heute sind viele Familien sowohl russisch- als auch ukrainisch-stämmig. Beide Nationen sind verwoben, untrennbar und das war lange Zeit gut so. Und dann sind da die beschriebenen Ereignisse, die nicht nur betroffen sondern fassungslos machen ob der menschlichen Abgründe. Jüngst wurde es von Oleksandra Matwijtschuk (ukrainische Nobelpreisträgerin für die Organisation "Zentrum für bürgerliche Freiheiten") präzise auf den Punkt gebracht: „Grausamkeit ist Teil der russischen Kultur“. Auch die von Victoria Belim geschriebene autobiographische Familiengeschichte legt dazu Zeugnis ab. Die Leserinnen und Leser erleben beim Lesen, dass die „Abwesenheit von Wahrheit noch gefährlicher als die Anwesenheit von Lügen“ ist. Schon für die damalige Zeit schreibt Victoria Belim: „Das von der sowjetischen Propaganda abgesteckte Universum bestand aus krummen Spiegeln, die die Wirklichkeit verzerrten.“
Dieses Buch ist vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine 2022 geschrieben worden, beschreibt exemplarisch eine wichtige und berührende russisch-ukrainische Familienvergangenheit und ist nun wieder hoch aktuell. Ich gebe eine klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 19.11.2022

Bewegender Blick in die Kinderseele der Schauspielerin

Brunnenstraße
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Man kennt Andrea Sawatzki als Schauspielerin und kann mit diesem Buch auch ihr schriftstellerisches Talent kennenlernen und zugleich eine große schonungslose Selbstoffenbarung dieser großartigen Frau erfahren. ...

Man kennt Andrea Sawatzki als Schauspielerin und kann mit diesem Buch auch ihr schriftstellerisches Talent kennenlernen und zugleich eine große schonungslose Selbstoffenbarung dieser großartigen Frau erfahren. Beschrieben wird die Kindheit von Andrea Sawatzki, aus deren Sicht in der Ich-Perspektive erzählt, in kurzweiligen Kapiteln dargeboten und nicht chronologisch aber bestens nachvollziehbar geordnet. Durch ihren schnörkellosen Schreibstil und die emotionale Brisanz der Schilderungen gelingt der Autorin ein bewegendes biographisches Werk. Mich hat das Mitgefühl gepackt, wenn Andrea Sawatzki beschreibt, wie sie als Kind nicht nur Care-Tätigkeiten zu übernehmen hatte, sondern auch von ihrer Mutter so parentifiziert wurde, dass eine gesunde kindliche Entwicklung behindert wurde. Der demenzkranke Vater wird von Mutter und Tochter gepflegt, dass das Bedürfnis der Mutter ihn nicht in ein Heim zu geben zu Lasten von Andrea und deren Liebe zum Vater geht. Geschildert werden herzzerreißende Szenen wie körperliche Auseinandersetzungen oder hygienische Fehltritte eines kranken Mannes, denen die Autorin hilflos ausgesetzt war. Andrea wünscht sich das Ende dieser Belastung herbei, was sich im Wunsch äußert, der Vater möge endlich sterben. Mit der Brille der heutigen Zeit lesend frage ich mich, wo das Jugendamt war, wie niemand sehen konnte, wie es diesem Kind geht. Es bleibt eine tiefe Bewunderung für die Leistung von Andrea Sawatzki, eine Empathie für diesen schwierigen Start ins Leben und das Gefühl, ein gutes Buch gelesen zu haben.

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Veröffentlicht am 06.11.2022

Ein Buch, das in den Bann zieht

Die Überlebenden
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Alex Schulmann ist ein faszinierendes Werk gelungen, das in jeder Seite besticht und erst am Ende seinen vollen Sinnsog entfaltet. Es beginnt am Ende eines Tages mit dem Treffen dreier Brüder im weit abgelegenen ...

Alex Schulmann ist ein faszinierendes Werk gelungen, das in jeder Seite besticht und erst am Ende seinen vollen Sinnsog entfaltet. Es beginnt am Ende eines Tages mit dem Treffen dreier Brüder im weit abgelegenen Sommerhaus am schwedischen See, mit einer scheinbar wesentlichen Rolle der Urne mit der Asche der gemeinsamen Mutter und einem Polizeiaufgebot. Anschließend wird die Entwicklung des Tages rückwärts erzählt, während alternierend Geschichten aus der familiären Vergangenheit beigeboten werden. Es spannt sich eine Handlung auf, die erst auf den letzten Seiten ihren wahren Kern offenbart und mich als Leserin betroffen, fast geklatscht zurücklässt. Uff, was für ein fulminantes Ende.
Der Roman überzeugt auch durch klare Sprache, nichts Überpoetisches nervt oder setzt Schnörkel. Und doch gelingt es, eine reale Imagination der Geschehnisse aufzubauen und Emotionen herauszustellen, die mich immer weiter haben lesen lassen.
Ich gebe eine deutliche Leseempfehlung für dieses skandinavische Highlight.

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Veröffentlicht am 06.11.2022

Dem Schicksal unter uns eine Stimme verliehen

Das letzte Versprechen
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Hera Lind gibt Anna Eckhardt mit diesem Buch eine Stimme, einer Frau, die ein unfassbares Schicksal erlitten hat. Als Fünfjährige, 1944 im Banat lebend, wird die deutschstämmige Anna durch Partisanen ihrer ...

Hera Lind gibt Anna Eckhardt mit diesem Buch eine Stimme, einer Frau, die ein unfassbares Schicksal erlitten hat. Als Fünfjährige, 1944 im Banat lebend, wird die deutschstämmige Anna durch Partisanen ihrer Mutter entrissen, welche in ein Arbeitslager in Sibirien verschleppt wird, während Anna in einem jugoslawischen Kinderheim vegetiert. Ihre Oma weicht nicht von Annas Seite und wird zur zentralen Bezugsperson. Herzzerreißend schildert Hera Lind diese Zeit, schmerzhaft lesen sich die Ereignisse der kommenden Jahre, beißend greift das Schicksal immer wieder in Annas Leben ein, das bis zum Jahr 2012 mit all seinen Härten in diesem Buch verarbeitet wird. Die Autorin orientiert sich dabei an den liebevoll gestalteten und ausführlichen Tagebuchaufzeichnungen der Protagonistin, die dem Roman eine authentische Vorlage sind.
Für mich waren zudem die historischen und geographischen Kontexte neu. Bei der Ankunft von Annas Mutter Amalie in Deutschland im Jahr 1949 sagt jemand zu ihr „Sie haben in den Nachrichten gesagt, dass ihr im Banat geboren seid, wir wussten gar nicht, dass es so etwas gab, das haben wir erst mal im Atlas nachgeschlagen.“ Und so ging es mir auch.
Hera Lind nutzt ihr schriftstellerisches Können, um der Tragik von Annas Schicksal noch eine besondere Brisanz zu verschaffen. Geschickt wird in den ersten Jahren mal aus der Sicht von Annas Mutter aus dem sibirischen Lager und mal aus Annas Sicht im jugoslawischen Lager erzählt. Später lässt die Autorin diese Schichtung des Romans und wird quasi in der Erzählstimme parteiisch für Anna. Die beschriebenen Ereignisse reihen eine Herausforderung an die Protagonistin an die nächste, die immer wieder erlitten und gemeistert werden, mit Härte gegen sich selbst, Aufopferung und zum großen Teil Selbstaufgabe. Geschildert wird das Leben einer Frau, nach deren Gefühlen und Bedürfnissen nie jemand fragte und die immer leisten musste, weil es eben so war. Die eigene Mutter rechtfertigt ihre Härte gegen ihr Kind mit „Was glaubt ihr denn, wie WIR uns gefühlt haben in Sibirien.“ So bliebt wie an dieser Stelle oft beim Lesen des Buches ein Kloß im Hals und eine Träne im Auge. Jedoch die langweiligen, weil normalen und ereignislosen Phasen in Annas Leben ebenso wie ihre Schatten werden geschickt ausgespart, um Anna Eckardt die Aufmerksamkeit zu geben, die sie durch ihre Lebensleistung sicher verdient hat. In der Summe wirkt der Roman dadurch aber für mich zu theatralisch, fast überdramatisiert, einseitig in Annas Leid, weshalb ich keine ganze Leseempfehlung geben kann.
Dieses Buch ist aus meiner Sicht aber geeignet für Menschen, die sich für Dramen des Lebens interessieren, sich an den Geschichten starker Frauen orientieren und sich auch auf die grausamen Seiten, die ein Leben ab 1944 mit sich brachte, einlassen wollen. Wem dazu auch eine einfache Biographie reicht, die eher sachorientiert erzählt, wer womöglich alte Traumata nicht triggern möchte oder zart besaitet ist, sollte dieses Buch besser denen schenken, die dafür offen sind.

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