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Veröffentlicht am 09.06.2019

Alte Schuld

Unbarmherzig (Ein Gina-Angelucci-Krimi 2)
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In Inge Löhnigs „Unbarmherzig“ bearbeitet Gina Angelucci ihren zweiten Fall als Spezialistin für ungelöste Fälle bei der Münchener Kripo. Dieser 384-seitige Kriminalroman ist im Mai 2019 bei Ullstein erschienen.
Nach ...

In Inge Löhnigs „Unbarmherzig“ bearbeitet Gina Angelucci ihren zweiten Fall als Spezialistin für ungelöste Fälle bei der Münchener Kripo. Dieser 384-seitige Kriminalroman ist im Mai 2019 bei Ullstein erschienen.
Nach zweijähriger Elternzeit nimmt Gina Angelucci gerade wieder ihren Dienst bei der Münchener Kripo auf, als im nahegelegenen Altbruck auf einem Kiesabladeplatz Knochen einer männlichen und einer weiblichen Leiche entdeckt werden, die dort vor 70 bis 80 Jahren verscharrt worden sind. Trotz erheblicher Widerstände nimmt sich Gina dieses Falles an, der sie tief in die nationalsozialistische Vergangenheit dieses Örtchens führt – und an der Fehde zweier Familien teilhaben lässt, die schon Jahrzehnte währt.
Krimis und Romane, die sich mit der Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit beschäftigen, gibt es zuhauf, und gerade in den letzten Jahren hat man – nicht zuletzt aufgrund der erneut erstarkenden Rechten – das Gefühl, ihre Zahl nähme wieder zu. Und Stoff, den es aufzuarbeiten gibt, bietet die Geschichte genug; in diesem Roman geht es um das Schicksal von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in einem kleinen bayrischen Dorf.
Nach einem Prolog aus der Vergangenheit, in dem der Mord geschildert wird, geht es unmittelbar in der Gegenwart mit dem Auffinden der Knochenreste weiter. Obwohl der Kommissarin immer wieder Steine in den Weg gelegt werden, schafft sie es, die Identität der Leichname aufzudecken und nach und nach ihre Geschichte zu enthüllen. Interessant ist, dass am Ende der Fall für die Leserinnen und Leser logisch und nachvollziehbar aufgeklärt wird, für die Protagonistin und andere Romancharaktere am Ende jedoch einige Fragen offen bleiben. Dabei schafft es die Autorin, ein kontinuierliches Spannungslevel, freilich ohne besondere Höhen und Tiefen, aufrechtzuerhalten und somit die Leserschaft bis zum Ende miträtseln und spekulieren zu lassen.
Der Roman ist auf zwei Zeitebenen geschrieben: Neben den aktuellen Ereignissen gibt es von Zeit zu Zeit kursiv gedruckte Einschübe aus der Vergangenheit, die das Geschehen immer wieder in einem neuen Licht erscheinen lassen. Somit ist man als Leser/in immer wieder eingeladen, sich die Zusammenhänge selbst zusammenzureimen.
Das Thema Nationalsozialismus und Rechte durchzieht den gesamten Roman: Sei es die Geschichte an sich, unser Umgang mit der Vergangenheit, die Frage nach der Akzeptanz von Migrant/innen oder unsere Akzeptanz von Behinderten (Gina selbst hat ein Kind mit Down-Syndrom). Leider erschien mir an manchen Stellen hier der aktuelle Bezug ein wenig zu viel des Guten, z.B. als sich auch noch ein anderer Kripo-Mitarbeiter als Rechter entpuppt. Insgesamt hatte ich beim Lesen den Eindruck, dass einige Themen eher oberflächlich angegangen wurden, z.B. wenn es auch um das Schicksal der baltischen Republiken geht.
Da es sich um eine Romanreihe handelt, kommt natürlich auch Ginas Geschichte und die ihrer Familie nicht zu kurz, aber auch als Neueinsteiger/in in diese Reihe kann man diesem Geschehen problemlos folgen. Allerdings hat die Autorin auch hier Dinge aufs Tapet gebracht, die meiner Meinung nach überflüssig sind.
Löhnigs Sprache ist schnörkellos und flott zu lesen, es fehlt auch nicht an sprachlichem Lokalkolorit, sodass man beim Lesen schnell voranschreitet. Jedoch fehlt es mir an der einen oder anderen Stelle an Tiefe, besonders bei der Schilderung vom Schicksal der Zwangsarbeiter/innen. Selbiges gilt für die Charaktere, die zwar durchweg lebensnah gezeichnet sind, aber dennoch etwas blass wirken.
Insgesamt handelt es sich bei „Unbarmherzig“ um einen solide konstruierten Kriminalroman. Von mir gibt es mit drei von fünf Sternen eine Leseempfehlung, doch restlos überzeugen konnte mich der Roman nicht. Dazu fehlt es an Tiefgründigkeit und Spannung.

Veröffentlicht am 08.06.2019

Xanthippe – auch so könnte sie gewesen sein.

Xanthippe
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Zweifelsohne zählt Xanthippe zu den berühmten Frauen der Antike. Als „zänkisches Weib“ des Sokrates ist ihr Name sprichwörtliche geworden. Doch wer steckt hinter diesem Bild? Über die historische Person ...

Zweifelsohne zählt Xanthippe zu den berühmten Frauen der Antike. Als „zänkisches Weib“ des Sokrates ist ihr Name sprichwörtliche geworden. Doch wer steckt hinter diesem Bild? Über die historische Person wissen wir nur wenig. In ihrem Roman „Xanthippe. Schöne Braut des Sokrates“ zeichnet Maria Regina Kaiser ein erfrischend anderes Bild dieser Frau, fernab aller Anekdoten. Das 192-seitige Buch ist im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen.
Jenseits aller Konventionen präsentiert Kaiser hier eine Xanthippe, die für ihre Zeit erstaunlich emanzipiert, selbstbewusst und gebildet war. Den historischen Fakten entsprechen ihre Ehe mit dem Philosophen Sokrates, dessen drei Söhne sowie ihre groben Lebensdaten. Da die Quellenlage darüber hinaus mehr als dürftig ist, bot sich der Autorin, selbst Historikerin und Archäologin, viel Freiraum bei der Gestaltung ihrer „eigenen“ Xanthippe, ohne dabei jedoch historisch Stichhaltiges außer Acht zu lassen – und gerade dieses macht den Reiz dieses historischen Romans aus.
Xanthippe stammt aus einer angesehen, mittlerweile doch eher heruntergekommenen Athener Familie. In ihrem Wunsch, sich von dem damals vorherrschenden Frauenbild zu distanzieren, unterhält sie ein sehr inniges Band zu ihrem Zwillingsbruder Philippos. Als dieser in den Krieg gegen Syrakus zieht, sucht sie eine immer engere Beziehung zu dessen Freund Sokrates. Der Roman umfasst zum großen Teil die Jahre vor ihrer Heirat mit diesem großen Philosophen.
Wie schon erwähnt, ereignet sich das Romangeschehen vor dem Hintergrund des Krieges gegen Syrakus, der auch gleichzeitig das Ende des klassischen Athens kennzeichnet. Dieses nimmt Maria Regina Kaiser als Anlass, diese Epoche wieder lebendig werden zu lassen. So tauchen Leserinnen und Leser tief in diese Welt ein, erfahren viel über die Athenische Gesellschaft und deren Untergang, das Rollenbild der Frau oder kultische Bräuche – eine Welt, die mir bis dato eher fernlag, mit der ich mich aber bestimmt weiter beschäftigen werde. Doch bietet der Krieg als Hintergrund auch zahlreiche aktuelle Bezüge: Warum übte (und übt) er eine so große Faszination nicht nur auf junge Männer aus? Wie gehen Menschen mit dem daraus resultierenden, oft schmerzhaften Schicksal um? Welche Erklärungen suchen oder bieten sie? All dies sind Fragen zeitloser Aktualität, auf die in diesem Roman ebenfalls eingegangen wird.
Auch wenn Xanthippe in diesem Roman die Hauptfigur ist, erfährt man viel Wissenswertes über Sokrates und seine Herkunft. Weshalb er –abgesehen von seinem Denken – eine so große Anziehung auf die junge Athenerin ausübte, blieb mir persönlich zwar verschlossen, nichtsdestotrotz war es ein Vergnügen, über die allmähliche Annäherung und die Gespräche der beiden zu lesen, da nicht nur die Charaktere selbst, sondern auch der Prozess selbst sehr lebendig geschildert ist und viel Stoff zum Nachdenken sowie Reflektieren bietet.
Wie immer hat es die Verfasserin auch aufgrund ihrer Sprache geschafft, die antike Welt trotz der großen zeitlichen Distanz anschaulich darzustellen: Der Roman ist durchgehend flüssig zu lesen und beschreibende, fast schon poetisch anmutende Abschnitte erleichtern das Eintauchen in die Antike.
In einem Nachwort erläutert die Autorin die Quellenlage sowie das Entstehen dieses Romans, dem sechs Jahre Recherche vorangingen – für mich ein Muss bei historischen Romanen, von denen ich mir neben Unterhaltung auch Wissenszuwachs erhoffe.
Ein wenig gefehlt hat mir beim Lesen eine Zeittafel, um die Daten und geschichtlichen Hintergründe besser einordnen zu können.
Insgesamt legt Maria Regina Kaiser hier einen sehr gut lesbaren historischen Roman vor, aus dem man reichlich Wissen schöpfen kann, der unterhält, das Altertum wieder aufleben lässt und dennoch aktuelle Bezüge beinhaltet – von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 02.06.2019

Was Selbstvertrauen ausmacht.

Sich selbst vertrauen
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Selbstvertrauen – der eine hat es, dem anderen fehlt es fast gänzlich. Doch was macht Selbstvertrauen eigentlich aus? Dieser Frage spürt Charles Pépin in seinem kleinen, 224 Seiten umfassenden Sachbuch ...

Selbstvertrauen – der eine hat es, dem anderen fehlt es fast gänzlich. Doch was macht Selbstvertrauen eigentlich aus? Dieser Frage spürt Charles Pépin in seinem kleinen, 224 Seiten umfassenden Sachbuch „Sich selbst vertrauen. Kleine Philosophie der Zuversicht“, das im Mai 2019 im Verlag Carl Hanser erschienen ist, nach.
Wer ein Buch erwartet, das die Antwort auf die Frage gibt, wie man ein gesundes Selbstvertrauen aufbauen kann, wird von diesem Werk wohl eher enttäuscht sein. Nichtsdestotrotz gibt es Antworten auf die Frage, was ein Vertrauen in sich selbst und seine Fähigkeiten prägt – und somit auch indirekt darauf, was ich ändern muss und kann.
Am Anfang steht, wie sollte es anders sein, das Vertrauen in mich selbst durch andere, aber auch das Loslassen und das Animieren zum eigenen Tun sind wichtige Grundlagen. In insgesamt zehn Kapiteln erörtert Pépin, was darüber hinaus dazu gehört, sich selbst vertrauen zu können. Untermauert werden seine Thesen durch zahlreiche Beispiele aus seinem eigenen Leben, aber auch dem mehr oder weniger berühmter Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart. Selbstverständlich kommen auch, wie beim Untertitel nicht anders zu erwarten, Philosophen verschiedener Epochen zu Wort.
Wichtige Aspekte sind, dass man nicht nur in sich selbst, sondern auch in die Welt und das Leben, trotz aller Unwägbarkeiten, vertrauen muss. Ein weiterer, wichtiger Punkt ist, selbst aktiv zu werden und zu üben, üben, üben …
Dem Geschriebenen kann man auch entnehmen, was in unserer heutigen Gesellschaft dem Ausbau des Selbstvertrauens im Wege steht, sei es in den Medien, sei es in unserer Gesellschaft an sich. Hier geht es zum einen darum, dass es uns oftmals als echten Vorbildern fehlt, dass wir aber auch wieder lernen müssen, die Welt so anzunehmen, wie sie ist. Es liegt eben nicht alles in unserer Hand; dieses kann aber auch befreiend wirken und somit dem Selbstvertrauen zuträglich sein kann.
Ein wenig Respekt habe ich ja immer, wenn Philosophen etwas zu sagen haben, da es sprachlich nicht immer ganz klar und einfach zu verstehen ist. Doch dieses stellt beim Lesen dieses Buches keine Hürde dar: Die Sprache ist leicht und flüssig zu lesen, zahlreiche Beispiele illustrieren das Geschriebene und „Ausflüge“ in benachbarte Wissenschaften wie Psychologie, Pädagogik und Literatur machen das Buch zu einem Wissensschatz. Mir selbst hat das Lesen jedenfalls großes Vergnügen bereitet, und Pépins Argumentationslinie ist gut und logisch nachvollziehbar.
Wie es sich für ein Sachbuch gehört, gibt es im Anhang kommentierte Literaturangaben, bei französischen Quellen sind auch, soweit existent, deutsche Übersetzungen angegeben. Interessierte Leser*innen können sich also bei Bedarf selbstständig weiter informieren.
Wenngleich ich im Vorfeld von dem Buch etwas anderes erwartet hatte, wurde ich in keiner Hinsicht enttäuscht: „Sich selbst vertrauen“ gibt reichlich Stoff zum Innehalten, Nach- und Weiterdenken sowie zum Reflektieren eigener Gewohnheiten und Verhaltensmuster, bringt es doch Aspekte ans Licht, über die man im Alltag wohl weniger nachdenkt. Ein mutmachendes Buch, dem man entnehmen kann: Zum Aufbau eines gesundes Selbstvertrauens ist es nie zu spät. Man muss es nur wagen.

Veröffentlicht am 31.05.2019

Der Koran – eine lebendige Offenbarung

Der Koran und die Frauen
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Was für das Christentum heute eine Selbstverständlichkeit ist, unternimmt Benjamin Idriz in seinem Buch „Der Koran und die Frauen. Ein Imam erklärt vergessene Seiten des Islam“: eine historisch-kritische ...

Was für das Christentum heute eine Selbstverständlichkeit ist, unternimmt Benjamin Idriz in seinem Buch „Der Koran und die Frauen. Ein Imam erklärt vergessene Seiten des Islam“: eine historisch-kritische Exegese. Dieses Sachbuch ist im April 2019 im Gütersloher Verlagshaus erschienen und umfasst 192 Seiten.
Unterdrückung der Frau, Polygamie, Zwangsehen, Gewalt – Praktiken gelebten Islams, die in der westlichen Welt, und das zu Recht, auf Ablehnung stoßen. Dass man jedoch unterscheiden muss zwischen dem, was der Koran (und mit ihm der Prophet) sagt, und dem, wie dieses gelebt wird, versucht Idriz in seinem Buch darzustellen.
Dabei geht er zuerst auf die vorislamische Zeit der arabischen Welt ein, beleuchtet das damalige Frauenbild, um dann anhand der Schlagwörter „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit“, die der Koran für alle Menschen fordert, die Verbesserungen auch für Frauen darzustellen. Streng unterscheidet er dabei zwischen dem Frauenbild in mohammedanischer und nachmohammedanischer Ära: Die Gesellschaft an sich war (und ist) nach wie vor patriarchalisch geprägt, was sich auch auf den Glauben auswirkte. Anhand diverser Beispiele zeigt er auf, wie Suren des Koran und Empfehlungen Mohammeds sich teils frappierend von dem unterschieden, wie sie heute praktiziert werden. Hierzu zählen unter anderem Gewalt in der Ehe, Scheidungs- und Erbrecht, das Gebot, verhüllt zu gehen, oder das Gebet der Frau in der Moschee.
Seine Argumentation folgt im Großen und Ganzen dem, was man aus der Bibelexegese des Christentums schon seit Jahren kennt: Die Heilige Schrift ist zwar eine Offenbarung Gottes, aber eben in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Voraussetzungen entstanden. Vieles, was heute als konservativ und unmenschlich verschrien ist, muss vor dem historischen Hintergrund betrachtet werden. Dass sich neu etablierende Religionen auch althergebrachte Traditionen übernehmen, ist in der Religionsgeschichte allbekannt. Als Exempel diene hier die Polygamie: In einer Zeit, in der eine Frau allein nicht überleben konnte, in der aber gleichzeitig aufgrund von Kriegen ein Frauenüberschuss herrschte, war diese eine angemessene Möglichkeit, das Überleben der Frau zu sichern und diente somit ihrem Schutz. Was – neben patriarchalisch geprägten Konventionen – hier dem Islam heute noch in weiten Bereichen fehlt, ist eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit der Schrift, wie sie sich mit der Aufklärung in der westlichen Gesellschaft nach und nach etabliert hat. Eine vergleichbare Epoche jedoch fehlt dem Islam bis heute.
Sehr dezidiert geht der Imam auch auf die Analyse einzelner Begriffe ein (z.B. „wadribuhunne“, welches oft als Legitimation zum Schlagen verwendet wird, aber auch anders verstanden und übersetzt werden kann), was in der Bibelexegese ebenfalls schon lange üblich ist. Gerade diese Passagen erfordern z.T. einige Konzentration beim Lesen und mögen den Lesefluss ein wenig hemmen, für alle, die sich für Sprachwissenschaften interessieren, sind sie jedoch nachvollziehbar, stößt man doch im Christen- oder Judentum sowie der Literaturwissenschaft auch immer wieder auf ähnliche Vorgehensweisen.
Ein wenig negativ aufgestoßen ist mir, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, an einigen Stellen versuche der Autor den Koran über die jüdisch-christliche und somit auch humanistische Tradition zu stellen. „Manches von dem, was wir im modernen Europa als emanzipatorisch betrachten, wurde im 7. Jahrhundert in Mekka und Medina schon thematisiert.“ (S. 56) Hier vergisst er zu erwähnen, dass auch die Geschichte Europas diesbezüglich eine mit Rück- und Fortschritten ist, mit Wellenbewegungen.
Insgesamt legt Benjamin Idriz hier einen gelungenen Versuch vor, den Koran als dynamische Überlieferung zu betrachten, die in ihrem Kern einen Wunsch hat: Gerechtigkeit und Gleichheit für alle Menschen. Eine starre Lesart und Missbrauch stehen diesem Ansinnen jedoch noch allzu oft im Weg. Hier wären in einem weiteren Schritt Lösungswege zu entwickeln – meiner Meinung nach durch Bildung und Aufklärung. Ein Buch, das ich Interessent*innen an der Islamdebatte wärmstens empfehlen kann.

Veröffentlicht am 19.05.2019

Die Philosophin auf dem Zarenthron

Die Zarin und der Philosoph (Sankt-Petersburg-Roman 2)
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Dieser zweite St. Petersburg-Roman, „Die Zarin und der Philosoph“, von Martina Sahler beinhaltet 496 Seiten und ist im Mai 2019 bei List erschienen.
Friedrich II schickt den jungen Philosophen Stephan ...

Dieser zweite St. Petersburg-Roman, „Die Zarin und der Philosoph“, von Martina Sahler beinhaltet 496 Seiten und ist im Mai 2019 bei List erschienen.
Friedrich II schickt den jungen Philosophen Stephan Mervier an den Hof der russischen Zarin Katharina, um diese auszuspionieren. Doch bald schon zeigt ihm ein Blick hinter die Kulissen die Schattenseiten der Romanow-Dynastie. Als er dann noch in Kontakt zu kritischen Denkern tritt, nimmt sein Leben eine neue Wendung – und nicht nur seins.
Dieser historische Roman umfasst die Jahre 1761 bis 1775, also einen Teil der Regentschaft Katharinas der Großen. Die poetische, detaillierte Beschreibung St. Petersburgs und seiner Umgebung zur Zeit dieser Regentin, der lebendige, nicht anspruchslose Schreibstil der Autorin sowie die Liebesgeschichte und Einzelschicksale vor dem Hintergrund dieser Epoche lassen den Roman anfangs zu einem Pageturner werden. Auch sind sie in der Regel ein Garant für den Erfolg eines Buches.
In der Tat lässt Martina Sahler das zaristische Russland hier wieder aufleben. Die realistische, widersprüchliche Darstellung der Zarin, auf der einen Seite der Aufklärung zugewandt, auf der anderen Seite aber fest in der Autokratie verankert, der greifbar nahe Gegensatz zwischen Reich und Arm, der wohl in keiner europäischen Metropole so allgegenwärtig war wie in St. Petersburg, sowie ausgewählte Szenen aus dem Pugatschow-Aufstand zeugen von einer guten Recherche. Auch andere geschichtliche Ereignisse werden aufgegriffen und geschickt lässt die Autorin fiktive und historische Persönlichkeiten miteinander interagieren, wobei das Fiktive eindeutig dominiert.
So gelungen die historische Darstellung an sich ist, so sehr fehlt es ihr und der Geschichte jedoch an Tiefe. Gedanken über Autokratie (kannte Russland je etwas anderes?) oder der Sinn und Unsinn von blutigen Revolten sowie die Frage nach Alternativen werden zwar angerissen, z.B. wenn Andrej während der Pugatschow-Revolte in einen „Blutrausch“ gerät, jedoch leider nicht zu Ende geführt. Hier hätte etwas mehr Weitsicht gut getan, die die Gedanken auf geschichtliche Entwicklungen allgemein hätte führen können.
Auch die Liebes- und Lebensgeschichten an sich bleiben eher an der Oberfläche, was wohl auch dem Umfang des Buches geschuldet ist: Um so viele Einzelschicksale vor historischer Kulisse umfassend und mitreißend darzustellen, reichen fast 500 Seiten einfach nicht aus. So fiel es mir beim Lesen eher schwer, mich wirklich in die Charaktere hineinzuversetzen, mit ihnen mitzuleiden und mitzufühlen. An einigen Stellen, z.B. Lorenz‘ Annäherungsversuch an Boris, der die Handlung in keiner Weise beeinflusst hat, habe ich das Gefühl, die Autorin wolle einfach nur den Geschmack einer möglichst breiten Leserschaft abdecken. Auch das Ende, das zwar spannend und überraschend, gerade aber auch deswegen wenig glaubhaft ist, weckt in mir diesen Eindruck.
Die Ausstattung des Buches indes lässt kaum Wünsche offen: Die Karten in der Buchklappe, die Personenliste, in der historische und Hauptpersonen extra gekennzeichnet sind, die Zeittafel sowie das Nachwort mit Angaben zur Recherche der Verfasserin helfen bei der Orientierung. Das Cover zeigt ein Gemälde mit Blick auf St. Petersburg zu Beginn des 19. Jahrhunderts und komplettiert den guten äußeren Eindruck.
Insgesamt legt hier Martina Sahler einen soliden, publikumsgerechten historischen Roman vor, den zu lesen sich absolut lohnt, der aber eben doch eher an der Oberfläche kratzt. Von mir gibt es dennoch eine klare Leseempfehlung für alle Liebhaber/innen historischer Romane, da ich nicht verhehlen will und kann, dass ich wohl einfach mit größeren Ansprüchen an das Werk herangegangen bin.