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Veröffentlicht am 02.10.2022

Meuterei auf der Flotten Berta

Der kleine Drache Kokosnuss und die wilden Piraten
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Schlecht gelaunt blickt Kokosnuss, der kleine Feuerdrache, den Ferien entgegen! Alle Freunde verreisen, nur er und Matilda müssen auf der Dracheninsel bleiben. Wie langweilig, denkt Kokosnuss, nicht ahnend, ...

Schlecht gelaunt blickt Kokosnuss, der kleine Feuerdrache, den Ferien entgegen! Alle Freunde verreisen, nur er und Matilda müssen auf der Dracheninsel bleiben. Wie langweilig, denkt Kokosnuss, nicht ahnend, dass er sehr bald schon die aufregendsten Ferien seines jungen Drachenlebens verbringen wird! Mutter Mette nämlich schlägt ihrem Sohn vor, doch mit dem Floß zur Schildkröteninsel hinüberzufahren und dort ein paar Tage zu zelten. Leider kommen er und seine Stachelschweinfreundin auf dem Inselchen nie an, denn unterwegs treffen sie unerwartet auf das Piratenschiff, die „Flotte Berta“, deren Kapitän der allseits gefürchtete Schlimme Jim ist, über den man sich gar grausige Geschichten erzählt. Nun, Kokosnuss ist ganz gewiss kein Feigling! Er nimmt zum Entsetzen Matildas die Einladung des berüchtigten Piraten an, sich doch mal auf einem echten Piratenschiff umzusehen – und landet flugs in einer Falle! Und er und die grummelnde Matilda würden wohl immer noch Schiffsplanken schrubben, wenn die unzufriedene Mannschaft unter Führung des nicht allzu hellen Haifisch-Erik nicht beschlossen hätte, eine Meuterei anzuzetteln und den Schlimmen Jim mitsamt Kokosnuss und Matilda im wahrsten Sinne des Wortes auszubooten.
Da treiben die drei nun auf einem manövrierunfähigen Floß dahin, der Schlimme Jim schmollt, während der stets findige Kokosnuss auf Abhilfe sinnt. Doch zuerst muss der Durst gelöscht werden, was sehr bald gelingt, denn da ragt doch mitten aus dem weiten Ozean eine winzige Insel hervor, auf der zwei Kokospalmen stehen! Zudem entdecken sie eine der Kisten, die ihr alter Freund Pieter Backbord vergraben hat, um immer irgendwo eine Notreserve zu haben. Mit dem Inhalt der gefundenen Kiste können sie ihr Floß wieder instand setzen und sich auf die Suche nach der Flotten Berta machen, denn Jim möchte sein Schiff unbedingt wiederhaben.
Und tatsächlich – die Besatzung, die ohne ihren Chef ziemlich hilflos ist, ist nicht weit gekommen und lässt sich obendrein noch von den Mannen der Morschen Mildred unter ihrem Kapitän Narbennasen-Norbert überfallen und vom Schiff werfen. Da Kokosnuss, wie seine vielen jungen Fans wissen, nie um gute Einfälle verlegen ist, denkt er sich rasch einen Plan aus, mit Hilfe dessen er Norbert und seinen Piraten die Flotte Berta wieder abjagen kann. Der Dank des gefürchteten Schlimmen Jim wird ihm gewiss sein...
Es versteht sich von selbst, dass auch Kokosnuss Abenteuer bei den wilden Piraten wieder äußerst vergnüglich ist! Es lebt, genau wie seine Vorgänger und Nachfolger, von dem unerschöpflichen Wortwitz des Autors, von seinen kuriosen Einfällen, der flapsig-originellen Sprache, den lustigen Namen, die er sich für die ganze Piratenbande einfallen lässt und die man sich regelrecht auf der Zunge zergehen lassen kann. Da tauchen außer den bereits Genannten Makrelen-Moni auf, Sardinen-Susi, Krätze-Luigi, Kabeljau-Kurt, Rochen-Jochen oder Entenhaken-Ede – und wenn die sich dann noch die aberwitzigsten Schimpfnamen wie Schnullibulli, Pipi-Piraten, Plattfische, Suppenschildkröten oder Seegurken an den Kopf werfen, ist das für die jungen Leser natürlich ein Riesenspaß! Klar, man weiß ja, welchen Ruf die Piraten haben, zum Fürchten sind sie – aber Ingo Siegner stattet sie darüber hinaus mit so netten, treudoofen Charakterzügen aus, dass man sie einfach gern haben muss!
Ihr Übriges tragen die gewohnt farbenfrohen Illustrationen zu einem nicht geringen Teil zu dem Lesevergnügen bei, das man unweigerlich mit der Kokosnuss-Reihe hat. Man wird nie müde, die vom Autor selbst gezeichneten fröhlichen Bildchen anzuschauen, um immer wieder neue Details zu entdecken. Fürwahr – genau so sollten Kinderbücher beschaffen sein! Und das, genau das ist das Geheimnis der auch noch nach Jahren stetig anwachsenden großen Schar der Freunde des kleinen Drachen auf der sagenhaften Dracheninsel, irgendwo in den Weltmeeren. Ingo Siegner versteht es einfach, junge Leser glücklich zu machen!

Veröffentlicht am 02.10.2022

Beziehungen

Gott schütze dieses Haus
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Verlassen haben mich die so durch und durch britisch anmutenden Kriminalromane um die beiden Protagonisten Thomas Lynley und Barbara Havers, geschrieben von der waschechten, in Ohio geborenen und im so ...

Verlassen haben mich die so durch und durch britisch anmutenden Kriminalromane um die beiden Protagonisten Thomas Lynley und Barbara Havers, geschrieben von der waschechten, in Ohio geborenen und im so unbritischen Kalifornien aufgewachsenen Amerikanerin Elizabeth George in den vergangenen 33 Jahren nie. Von Zeit zu Zeit brachte sie einen weiteren Lynley/Havers-Band auf den Markt, in den ersten Jahren voller Spannung erwartet – aber irgendwann wurde George eher eine mir selbst auferlegte Pflichtlektüre, gelesen mehr aus Treue zu den beiden Protagonisten und als Tribut an die ungewöhnlichen, tiefschürfenden, immer spannenden, oft erschütternden, hervorragend aufgebauten und gekonnt erzählten Geschichten, mit denen mich die ersten acht Bände immer wieder aufs Neue zu begeistern wussten. Nun, die Krimis wurden mit der Zeit schwächer, leider auch wesentlich umfangreicher, dadurch geschwätziger, auf jeden Fall langatmig bis schließlich regelrecht langweilig. Das freilich geschieht nicht selten, wenn man eine erfolgreich begonnene Buchreihe endlos in die Länge zieht, anstatt sie auf dem Höhepunkt auslaufen zu lassen!
Nachdem der bislang letzte, bereits der 21. Band der Serie, für mich eine einzige ärgerliche Enttäuschung war, ist es nun an der Zeit, Lynley und Havers in Frieden ziehen zu lassen, was immer auch die Autorin ihnen noch zugedacht hat – und stattdessen, schon um der langjährigen Freundschaft willen, die mich mit dem ungleichen Detektivgespann verbindet, die frühen Kriminalromane der Elizabeth George wiederzulesen, unbedingt aber diejenigen, die mich noch über die Maßen fesselten, beginnend mit dem allerersten (wiewohl man mit Band 4 feststellen wird, dass er eigentlich der zweite Band ist), nunmehr hier zu besprechenden Buch, „A Great Deliverance“ (deutscher Titel „Gott schütze dieses Haus“), der mich beim erneuten Lesen nicht weniger gefangennahm, nicht weniger beeindruckte, als damals, 1989.
Ja, den einen oder anderen Kritikpunkt gibt es wohl, ein antiquiertes Setting selbstredend, ein Hintergrund, den man heute so nicht mehr in Romane einbauen würde - was aber nicht ins Gewicht fällt, denn in sein Erscheinungsjahr passt dies allemal! Aber auch gewisse Längen waren nicht zu übersehen, unnötige Detailverliebtheit, die freilich in den späteren Bänden viel prononcierter sind, und mir wahrscheinlich nur deshalb auch hier in diesem so starken Roman aufgefallen sind. Dem Gesamtbild tun sie jedoch noch keinen Abbruch. Genauso wenig wie ad absurdum getriebene Stereotypen, wenn es um zwei unausstehliche und völlig überflüssige, außer einer einzigen Aussage, die auch von anderer Seite hätte kommen können, nichts zur Fortführung der Handlung beitragende amerikanische Nebenfiguren geht, über die ich letztlich hinwegsehen kann, denn die hervorragenden Charakterisierungen der Hauptfiguren wie auch der meisten Nebenpersonen, ihr Verhältnis zueinander, ihre Entwicklung und Verflechtung untereinander und mit dem gar grausigen Mordfallall, der im Mittelpunkt der Handlung steht, lassen alle kleineren Makel in den Hintergrund treten. Vielschichtig sind sie, alles andere als eindimensional – und auch wenn der adlige Scotland Yard-Inspector Thomas Lynley ein so tadelloser wie typischer britischer Gentleman ist, so ist er, von seinen inneren Dämonen geplagt, die sich dem Leser langsam offenbaren, alles andere als der vom Leben verwöhnte, der strahlende und siegreiche Held, als den ihn die ihm zur Seite gestellte ruppige und verbitterte, wegen ihrer Unfähigkeit und ihres Unwillens zur Zusammenarbeit mit ihren Kollegen zum Streifendienst degradierte Barbara Havers gerne sehen und gerade deshalb verachten möchte.
Die sperrige Kollegin mit dem massiven Minderwertigkeitskomplex und einem Bündel familiärer Sorgen, das sie um jeden Preis unter Verschluss halten möchte, wird im Laufe der schwierigen Ermittlungen, die sie mit dem 8. Earl of Asherton, alias Thomas – Tommy – Lynley, im ländlichen Yorkshire anzustellen gezwungen ist, eines Besseren belehrt werden, zu ihrer größten Verwirrung den unbändigen Hass auf ihn und alles, was er verkörpert, nicht aufrechterhalten können, je näher sie den sehr menschlichen, mitfühlenden und verständnisvollen Inspektor kennenlernt. Und was sie selbst betrifft, so wird auch der Blick des Lesers auf sie am Ende nicht mehr der sein, den er vielleicht am Anfang gehabt hatte!
Ja, um Beziehungen vor allem geht es in „A Great Deliverance“, mehr als in jedem anderen der Folgebände, um die Beziehung zwischen den beiden Polizisten, privaten, von leidenschaftlichen wie schmerzvollen Gefühlen geprägten Beziehungen des Inspektors zu seinen Freunden Simon St. James, dessen Frau Deborah und der bezaubernden Lady Helen, mit denen ihn eine tiefe, durchaus schuldbehaftete und spannungsreiche Freundschaft verbindet und die auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen werden in dem von Elizabeth George ersonnenen Universum. Von den nur langsam sichtbar werdenden Beziehungen der Bewohner des kleinen Ortes Keldale in den Yorkshire Moors, in dem sich das zunächst so eindeutig erscheinende, aber je tiefer Lynley und Havers bohren, immer mehr Fragen aufwerfende Verbrechen ereignet hat, erfährt der Leser, Beziehungen, deren Bande Lügen, Geheimnisse und Versagen sind. Schließlich aber geht es, auf schreckliche Weise, um die Beziehung zwischen dem enthaupteten Opfer William Teys und seiner Tochter, der unförmigen, von allen bemitleideten, aber schmählich, schamvoll und feige von allen im Stich und mit ihren Nöten völlig allein gelassenen Roberta, die sich zu dem Mord an ihrem allseits geachteten Vater bekennt und danach in undurchdringliches Schweigen verfällt, bis gegen Ende der Geschichte und dann in einer unvergesslichen, intensiven, den Leser bis ins Mark erschütternden Szene die Mauern einstürzen und nur Ruinen und verbrannte Erde zurücklassen. Sich allmählich enthüllende düstere, gar finstere und unbedingt erschröckliche Familiengeheimnisse decken weitere unerwartete Beziehungen auf, die den Leser entsetzt innehalten lassen und bei dem einen oder anderen die Frage aufkommen lassen mögen, ob gewisse Morde oder Tötungen wirklich strafrechtlich geahndet werden sollten...
Doch genug an dieser Stelle! Wer einen wirklich guten, klug und anspruchsvoll geschriebenen Kriminalroman, dem ich unbedingt das Attribut „literarisch“ zueignen möchte, zu schätzen weiß, wird mit Elizabeth Georges preisgekröntem Erstlingswerk auf seine Kosten kommen. Garantiert!

Veröffentlicht am 01.09.2022

Rajas steiniger Weg zurück ins Leben

Der Weg aus der Finsternis
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Bereits im Klappentext des Einführungsbandes der inzwischen vollendeten siebenbändigen Kashmir-Saga, „Das Haus des Friedens“ für den Simone Dorra verantwortlich zeichnet, erfährt man, dass es hier um die ...

Bereits im Klappentext des Einführungsbandes der inzwischen vollendeten siebenbändigen Kashmir-Saga, „Das Haus des Friedens“ für den Simone Dorra verantwortlich zeichnet, erfährt man, dass es hier um die Geschichte zweier Familien in Kashmir und Indien geht, die einander über einen Zeitraum von vierzig Jahren „in Freundschaft eng verbunden“ sind. Spielt der erste Band nahezu vollständig in dem landschaftlich grandiosen, jedoch von politischen Unruhen stark beeinträchtigten Tal im Norden des indischen Subkontinents, in dem man die dort beheimateten Protagonisten, Vikram Sandeep, seine spätere Frau Sameera und das von Vikram gegründete Waisenhaus mit seinen jungen Bewohnern, kennenlernt, so werden nun, im zweiten Band, die indischen Handlungsträger, Raja Sharma und seine zunehmend wachsende Familie eingeführt.
Die „zweite Hälfte“ des Autorinnengespanns, Ingrid Zellner, bezeichnet ihr Buch, „Der Weg aus der Finsternis“, gar als „Ausreißerband“ - und in gewisser Weise ist es das auch, gab es die Geschichte Rajas doch bereits, bevor sich die beiden Autorinnen zusammentaten, um eben jenes Epos zu schreiben, das mich, die ich es inzwischen zur Gänze kenne, so vollkommen wie unerwartet in seinen Bann gezogen hat, von Band zu Band mehr, und das für mich so perfekt und berührend, in den buntesten Farben schillernd, voller wunderbarer, zu Herzen gehender Szenen und grandioser Vorstellungskraft ist, dass es Seinesgleichen sucht!
Der „Ausreißerband“ steht seinem Vorgänger in nichts nach; er ist nicht nur ebenso gut und souverän erzählt, sondern er hat darüber hinaus all das, was letzteren auszeichnet; er erzählt eine mitreißende Geschichte, ist voller Zauber und Romantik, gleichzeitig voller Dramatik und Spannung – und er ermöglicht es dem Leser, den „anderen“ Helden, eben jenen Raja aus Pune im indischen Bundesstaat Maharashtra, genauso gut kennenzulernen, wie einst Vikram im so wunderschönen wie gefahrvollen Kashmir. Er bringt die beiden kraftvollen, unvergesslichen Protagonisten zusammen – und genau jenes Zusammentreffen bildet die Rahmenhandlung der hier zu besprechenden Geschichte, die immer wieder eingeblendet und mit der Haupthandlung verflochten wird.
Rajas Geschichte! Ja, aber gleichzeitig lesen wir hier die Geschichte seiner Familie, die er nach 25 Jahren Gefängnisaufenthalt wieder trifft. Davon und von noch Vielem mehr erzählt Raja Vikram im Schein des Lagerfeuers im Garten des Dar-as-Salam, des Waisenhauses, in der Nähe von Srinagar, nachdem beide durch Zufall die Bekanntschaft des jeweils anderen gemacht haben, eines Zufalls, der, man wird das in den weiteren Bänden lesen, zum Schicksal der Familien Sandeep und Sharma und noch einer ganzen Anzahl weiterer Mitwirkender werden wird!
Ein Fremder bietet dem nach einer Reifenpanne ein wenig ratlosen, recht ungehaltenen Ex-Agenten Sandeep Hilfe an – und die Kinder, die er gerade von der Schule abgeholt hatte, sind sofort begeistert und bestehen darauf, den Fremden in ihr Heim, das Haus des Friedens, einzuladen. Ungewöhnlich ist das insofern, als es sich bei Vikrams und Sameeras Ziehkindern ausnahmslos um schwer traumatisierte Waisen oder Halbwaisen handelt, die sich somit eher scheu und abwartend verhalten. Nicht so Raja gegenüber, denn um diesen handelt es sich bei dem hilfreichen Fremden natürlich, Raja, der einen Freund nach Kashmir begleitet hatte und bereits am nächsten Tag wieder abreisen würde! Trotz großer Skepsis gibt der äußerst misstrauische ehemalige Agent der indischen Abwehr dem Drängen seiner Zöglinge nach – und erfährt in einer denkwürdigen, weichenstellenden Nacht die Geschichte des freundlichen Mannes mit dem sanften Gemüt, der er zunächst vorsichtig und eher abwehrend, dann aber mit wachsendem Interesse, Betroffenheit und größter Faszination lauscht. Dass am Ende dieser langen Nacht aus den beiden Fremden Freunde geworden sind, Freunde für ein ganzes Leben, verwundert den Leser kaum, denn so unterschiedlich die Männer auch zu sein scheinen, in ihren wesentlichen Charaktereigenschaften stimmen sie überein, wie man im Laufe der Geschichte bereits mehr als nur erahnen kann und in jedem einzelnen Band, der folgen wird, bestätigt findet.
Die Geschichte, die Raja erzählt, die er Vikram, der Zufallsbekanntschaft anvertraut, lässt niemanden kalt, nicht den mit allen Wassern gewaschenen, mit der dunklen Seite des Lebens nur allzu vertrauten ehemaligen Elite-Soldaten, der so viel gutzumachen hat, und schon gar nicht den Leser. Wir erleben mit, wie ein nach 25 Jahren Haft in die Freiheit entlassener, verzagter und hoffnungsloser Raja die ersten zögerlichen Schritte zurück ins Leben macht, und wir leiden mit ihm unter der Ablehnung, gar des Hasses, der ihm von seiner Familie entgegengebracht wird, als er sich den Seinen zu nähern versucht. Nicht viel ist von dem ehemaligen Heißsporn, dem lebenslustigen und sorglosen jungen Mann übriggeblieben, der er war, bevor er in die Fänge einer Justiz geriet, die einen das Schaudern lehren kann, und bestraft wurde für eine Tat, an die er sich zwar nicht erinnern kann, die er aber angesichts vermeintlich drückender Beweise eingestanden hat, von der er aber sehr bald, durch einen der vielen Zufälle, glückliche wie unglückliche, die Rajas Geschichte durchziehen, entdeckt, dass er sie nie begangen hatte. Sich zu rehabilitieren – vor der Familie und der Welt – scheint recht aussichtslos. Doch Raja gibt nicht auf. Gegen alle Widerstände und sämtliche üblen Machenschaften seitens seiner rachsüchtigen, vor rein gar nichts zurückschreckenden Antagonisten und dank seiner ihm innewohnenden Kraft und der Willensstärke, die eine seiner vielen außergewöhnlichen Charaktereigenschaften ist, und mit Unterstützung vor allem seines ihm ergebenen Freundes Vishal gewinnt er Stück für Stück zurück, was ihm genommen wurde. Doch die vielen Jahre, die man ihm gestohlen hat, verlorene Jahre, wie man geneigt ist zu sagen, kann niemand ungeschehen machen.
Doch halt! Verloren waren diese Jahre, von deren Schrecken man während der Lektüre eine ziemlich genaue Vorstellung bekommt, ohne dass die Autorin allzu sehr ins Detail geht, nicht! Erlittener Schmerz, tiefes Leid, ausweglose Verzweiflung haben Raja verwundet an Leib und Seele, haben ihm Narben zugefügt, die ein Leben lang bleiben. Doch sie haben ihn weder gebrochen noch verrohen lassen. Vielmehr haben sie ihn zu dem Menschen gemacht, der uns in der Kashmir-Saga begegnet: voller Güte und Freundlichkeit, Sanftmut, Mitgefühl und großem Einfühlungsvermögen. Und so passt das Zitat von Khalil Gibran, das Ingrid Zellner ihrem Roman voranstellt, geradezu perfekt, scheint es doch genau unseren Helden zu meinen: „Das größte Leid bringt die stärksten Seelen hervor; die stärksten Charaktere sind mit Narben übersät“.
Bliebe noch anzumerken, dass Ingrid Zellner nicht nur eine zu Herzen gehende Geschichte geschrieben hat, in der sie mit Bravour alle gefährlichen Klippen umschifft, die bei einer solchen Erzählung unweigerlich auftauchen müssen, denn wenn Liebe und viel Gefühl im Spiel sind, kann man leicht Gefahr laufen, ins Sentimentale und damit unerträglich Unglaubwürdige abzurutschen. Nicht unsere Autorin freilich (und genauso wenig ihre Co-Autorin!). Ja, ihr Roman ist voller Gefühl, aber gleichzeitig eben auch voller Zartheit, Echtheit, Authentizität. Das schließt jegliche Seichtheit aus! Sie erzählt gleichzeitig auch eine Geschichte, die zu ihrem Hintergrund passt, dem gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund, um genau zu sein, vor dem sie sich entfaltet und dessen Kenntnis wichtig ist für Verständnis und Würdigung der Handlung. Ingrid Zellner versäumt es nicht, immer wieder diesbezügliche Informationen einzustreuen, fast unauffällig, also genau so, wie es für einen Roman wünschenswert ist. Man erfährt auf diese Weise eine Menge über das Land, seine Sitten und Gepflogenheiten, viel Fremdartiges, Erschreckendes, Archaisches, sehr Gegensätzliches, vieles, das einem nicht gefallen kann, das zwiespältige Gefühle aufkommen lässt. Doch wo Licht ist, ist natürlich auch Schatten – und manchmal sogar, wundersamerweise, überstrahlt ein einziges Licht auch die allertiefsten, allerdunkelsten Schatten. Raja ist so ein Licht, ist ganz gewiss das hellste Licht der gesamten Kashmir-Saga, die an Lichtern, an Leuchtpunkten, an strahlenden Charakteren nicht arm ist....

Veröffentlicht am 29.08.2022

Hoffnung, Mut und Zuversicht, was auch immer kommen mag

Der Strom des Lebens
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Seit ein paar Jahren begleitet mich die Kashmir-Saga nun bereits. Der erste Band, „Das Haus des Friedens“, hat mich seinerzeit bewegt, wie nur wirklich gute und mitreißende Bücher es vermögen. Die so sympathischen, ...

Seit ein paar Jahren begleitet mich die Kashmir-Saga nun bereits. Der erste Band, „Das Haus des Friedens“, hat mich seinerzeit bewegt, wie nur wirklich gute und mitreißende Bücher es vermögen. Die so sympathischen, wie auch facettenreichen Protagonisten ins Herz zu schließen, war leicht, ihrem Werdegang und ihren Schicksalen zu folgen immer wieder ein emotionales Abenteuer. Nie war es einfach, sich nach Beendigung der sechs Vorgängerbänden von ihnen und dem wunderschönen, vom Unheil verfolgten Kashmir-Tal an den Ausläufern des Himalaya, seit Jahrzehnten Spielball politischer Interessen unterschiedlicher Staaten, in dem die Saga, nehmen wir einmal den zweiten Band aus, zum Großteil angesiedelt ist, zu trennen. Doch der nächste Band würde ja folgen...
„Der Strom des Lebens“ nun bedeutet den endgültigen Abschied, bedeutet das Ende einer so bunten wie gefahrvollen und oft genug aufwühlenden, den Atem stocken lassenden, immer tief berührenden Geschichte, in der man sich verlieren, die einen alles um sich herum vergessen machen kann, denn zu ihr in Distanz zu treten ist kaum möglich. Die beiden Autorinnen, Simone Dorra und Ingrid Zellner, erzählen ihre Saga unglaublich gut, lebendig, schlüssig, stets nachvollziehbar, voller berauschender Phantasie - und ganz offensichtlich mit großer Lust am Fabulieren. Und dies durchgängig! Eine Buchreihe, die keine Schwächen aufweist und genau aus dem Stoff gemacht ist, aus dem die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht oder das unvergessliche Epos „Palast der Winde“ oder sogar, um auf einen anderen Kontinent überzuwechseln, „Vom Winde verweht“ und die „Louisiana-Trilogie“ gewebt sind – exotisch, abenteuerlich, gefährlich, tragisch-traurig, dabei heiter, romantisch und zum Weinen schön!
Im Abschlussband der Kashmir-Saga, der bereits in der Zukunft spielt, über die man freilich nur spekulieren kann, die aber meines Erachtens und in Kenntnis der eigentlich seit Jahren unverändert angespannten bis geradezu dramatischen Situation in dem Land zwischen den Mächten – die übrigens immer wieder auch in den sieben Bänden der Saga thematisiert wird - durchaus realistisch erscheint, begegnen die Hauptfiguren, Vikram und Sameera Sandeep und Raja Sharma, dem Leser in nunmehr fortgeschrittenem Alter, doch unverändert idealistisch, tatkräftig und trotz der Prüfungen, die sie die Autorinnen haben erleiden und, mit unübersehbaren Blessuren an Körper und Seele, bestehen lassen, keinesfalls gebrochen, nicht wirklich müde geworden und nach wie vor voller Hoffnung, was ihr Herzensprojekt, das Waisenhaus Dar-as-Salam, dem seine schwersten Zeiten noch bevorstehen sollen, zum einen und die Zukunft ihrer so gefährdeten Heimat, immer wieder bedroht von Anschlägen fanatischer Fundamentalisten oder schlichtweg Terroristen, anbelangt.
Was sich am Ende des direkten Vorgängerbandes, „Flug mit dem Wind“, bereits abzeichnete, die Übergabe des Waisenhauses in jüngere Hände, ist im hier zu besprechenden letzten Band bereits vollzogen: Eines der von Vikram ins Dar-as-Salam geholten und von ihm und seiner Frau Sameera voller Liebe, Verständnis und Toleranz aufgezogenen Waisenkinder erweist sich als der beste Nachfolger, den Vikram sich nur wünschen konnte. Sein Lebenswerk ist in guten Händen – und eigentlich könnte er sich nun zurücklehnen und, gemeinsam mit Ehefrau und Freund, die Früchte seines Schaffens genießen! Oder etwa doch nicht?
Wer, wozu ich nur raten kann, die sechs Vorgängerbände gelesen hat, hat mehr als nur eine Ahnung von dem, was Vikram und die Seinen erwartet, weiß gar schon zu Beginn der Lektüre, an dem sich bereits dunkle, regelrecht rabenschwarze Wolken am Horizont abzeichnen, dass das, was da kommt, das Leben aller im Dar-as-Salam verändern könnte! Natürlich werden Vikrams immer noch zahlreiche Feinde keine Ruhe geben, selbstverständlich werden sie sich Perfides einfallen lassen, um dem Helden, dem nunmehr alt und grau gewordenen Löwen, der bereits so viele Gefahren gemeistert hat, das Leben schwerzumachen oder ihm sogar das Lebenslicht auszublasen.
Das Verhängnis, so fürchtet man, wird wohl unaufhaltsam seinen Lauf nehmen, obwohl die Autorinnen ihre Leser durch immer wieder eingestreute längere oder kürzere Passagen unbeschwerter Freude und des Friedens, oft gewürzt mit dem liebenswürdigsten Humor, ablenken von dem Bösen, das sich da im Hintergrund zusammenbraut – und das dann unvermittelt, scheinbar ohne Vorwarnung, hereinbricht auf die Protagonisten und ihre Familien. Gerade letzteren, vor allem den längst erwachsenen Ziehkindern der Sandeeps, kommt in „Der Strom des Lebens“ eine gewichtige Rolle zu, quasi eine Fortführung dessen, was in Band Sechs seinen Anfang genommen hatte. Wir lernen sie immer besser kennen, die so unterschiedlichen Ziehgeschwister, verfolgen ihren Lebensweg mit großer Anteilnahme, teilen den Stolz ihrer Eltern auf das, was sie aus sich gemacht haben, genauso wie deren Verzweiflung, wenn sich ihr Schicksal auf eine nicht erwartete, tragische Weise erfüllt.
„Der Strom des Lebens“! Der Titel, den das Autorenduo seinem Schwanengesang zugewiesen hat und der nicht besser hätte gewählt sein können, durchzieht den Roman genauso, wie es diejenigen seiner jeweiligen Vorgänger getan haben. Der Strom des Lebens ist unaufhaltsam, er steht nicht still, fließt immer weiter, bringt Veränderungen, bringt Glück, ebenso wie Leid; er reißt die Menschen, die sich in seinen Strömungen verfangen und aufgeben, mit – und trägt doch die Hoffnung auf Zukunft in sich, wenn man sich seinen Untiefen nicht ergibt, wenn man sich trotz aller tiefer und tiefster Täler, durch die man sich gerungen hat, nicht zerstören lässt, wenn man, wie die Protagonisten in Simone Dorras und Ingrid Zellners Kashmir-Saga, seinen mannigfaltigen Feinden ein „dennoch“ entgegensetzt, ihnen signalisiert, dass sie sich nicht beugen werden, was immer sie auch versuchen mögen, und dass weder Gewalt, noch Mord, noch Terror die Oberhand behalten werden!
Eine gewaltige Botschaft! Eine, die den würdigen Abschluss der Kashmir-Saga bildet, dieses Liedes der Hoffnung, dessen Melodie aus Freundschaft, Solidarität, Liebe und Treue gewoben ist und die noch lange in den Lesern nachklingt. Unvergesslich und ihresgleichen suchend!

Veröffentlicht am 27.02.2022

Morden, um Leben zu retten?

Die Schreie am Rande der Stadt
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Als Kriminalroman wird Stefan Barzs hier zu besprechendes Buch bezeichnet. Und auch, wenn man während der Lektüre ins Zweifeln kommt, so ist er doch genau das! Ein Kriminalroman erzählt die Geschichte ...

Als Kriminalroman wird Stefan Barzs hier zu besprechendes Buch bezeichnet. Und auch, wenn man während der Lektüre ins Zweifeln kommt, so ist er doch genau das! Ein Kriminalroman erzählt die Geschichte eines Verbrechens, egal in welcher Zeit und unter welchen Umständen es sich ereignet hat, eines Verbrechens, das all die Faktoren beleuchtet, die einen Krimi ausmachen. Wie und warum konnte die im Zentrum der Geschichte stehende Tat geschehen? Aus welchen Gründen werden Menschen überhaupt zu Verbrechern? Wie ist schließlich ihre Schuld „vor dem Hintergrund von psychologischen und gesellschaftlichen Aspekten zu bewerten“? Ebenso werden, wie das bei einem guten Vertreter seines Genres sein sollte, die Ereignisse streng chronologisch erzählt – sieht man einmal von dem Prolog ab, der natürlich vorgreift, aber nicht zu sehr, als dass man lange nach einer Verbindung zur Handlung suchen müsste -, im Rückblick freilich, denn der Roman spielt sich auf zwei Zeitebenen ab, zwischen denen 60 Jahre liegen. Das Verbrechen hat sich auf der ersten Zeitebene, im Jahre 1933, ereignet, in jenem unseligen Jahr, das mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann, dem Jahr also, das eine zwölf Jahre währende Schreckensherrschaft einläuten sollte, und das bereits in diesem frühen Stadium der Hitler-Diktatur alle Merkmale aufwies, die ein Terrorregime braucht, um zu voller, zu schrecklicher Blüte zu verderben.
Ein Verbrechen wie dieses, das sich in jenem August – Hitler war erst ganze sechs Monate im Amt – zutrug, konnte nur in dieser schlimmen Zeit begangen werden, in der eine Gleichschaltung mit Macht und mit brutaler Gewalt vorangetrieben wurde, in der eine Gesellschaft mit den perfidesten Mitteln verhetzt und gespalten wurde und die Angst regierte. „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“, lautete die tumbe Devise, wer nicht das angesagte Lied singt, wer also nicht laut genug die hirnlosen Naziparolen grölt und die Anständigen und Aufrechten zum Schweigen bringt, der wird einkassiert, eingesperrt, zusammengeschlagen und ermordet. Und Mord war in letzter Konsequenz immer der Ausgang für die Andersdenkenden; die als Arbeits-, vielfach auch als Umerziehungslager zynisch-euphemistisch apostrophierten Konzentrationslager waren staatlich sanktionierte Tötungsanstalten, wie wir alle längst wissen und wie, so muss ich hinzufügen, die Mehrheit der geblendeten oder blind sein wollenden Bevölkerung bereits damals und während des gesamten Dritten Reichs wusste.
All dies muss man sich vor Augen halten, um den Mord, auf dessen Spuren sich der Journalist Martin Tesche im Jahre 1993 begibt, einordnen und bewerten zu können. Johannes Tesche, Martins Vater, den der Sohn nur als hochanständigen, integren und ehrenwerten Menschen kennengelernt hatte, hinterließ bei seinem Ableben Tagebücher aus dem Jahr, das alles verändern und eine ganze Nation zu Mördern machen sollte – immer unter dem Aspekt der Kollektivschuld, als deren Vertreter ich mich bekenne! Vielleicht, so kommt der Gedanke, hätte Martin davon Abstand nehmen sollen, einen Blick in zutiefst private Aufzeichnungen zu werfen, die Tagebücher nun einmal sind. Schlafende Hunde wären nicht geweckt worden, zumal die aus Martins Nachforschungen resultierenden Erkenntnisse niemandem mehr nutzten, genauso, wie sie niemandem mehr Schaden zufügen konnten. Aber nun, Martin Tesche hatte die Büchse der Pandora geöffnet und die Ereignisse mussten jetzt ihren Gang nehmen. Was den Journalisten umtreibt, ist zuvörderst die Reinwaschung des Andenkens an den geliebten Vater, denn der emeritierte Literaturprofessor hatte in den Tagebuchaufzeichnungen einen Mord erwähnt – und seine eigene Beteiligung an dieser Schandtat! Wie weit diese reichte hatte er offen gelassen – und gerade dies ließ Tesche junior von nun an keine Ruhe mehr. Als Journalist wusste er natürlich, wie man Nachforschungen anstellt, und so wurde er alsbald fündig in der Heimatstadt des Vaters, in Wuppertal, wohin Johannes Tesche nach seiner Emigration gleich nach dem Mord, dem Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, nie wieder zurückgekehrt war und auch dem Sohn hatte er weder von der Stadt seiner Kindheit erzählt noch sie ihm jemals gezeigt. Es war geradeso, als hätte es Tesche seniors Leben vor 1933 nie gegeben. Mit der anfangs nur mit Widerwillen geleisteten Hilfe Gerda Steinjans jedoch, einer engen Jugendfreundin seines Vaters, die er in Wuppertal ausfindig gemacht hatte, näherte er sich Schritt für Schritt der Auflösung des Mordfalls, die ihn schließlich zwar befreit, aber verstört und nachdenklich zurücklassen würde....
Wie den empathiefähigen Leser, möchte ich hinzufügen, denn das, was der fiktive Martin Tesche in Stefan Barzs intensivem, zutiefst beunruhigendem, geradezu schlaflose Nächte verursachendem Kriminalroman aus der bösen, bösen braunen Zeit herausfindet, ist alles andere als fiktiv! Es zeigt nicht nur anhand der Figur desjenigen, der später das Mordopfer werden sollte, welch kleiner Schritt es war von einem anständigen Jungen mit Gewissen und Moral zu einem begeisterten Hitlerjungen, der beides ohne größere Bedenken und quasi von heute auf morgen über Bord warf und sich nahtlos in die 'festgeschlossenen Reihen' der Brutalos einfügte, ja der sogar Gefallen daran fand, wehrlose Menschen zu prügeln, zu treten und auch nicht aufzuhören, wenn sie bereits halbtot auf dem Boden lagen. Es gibt auch einen Einblick in das nicht lange, dafür aber um so nachdrücklicher existierende Konzentrationslager Kemna in einem Wuppertaler Stadtteil, bei dem man sich nur mit Schaudern und tiefer Betroffenheit abwenden mag. Und hier sind wir beim Punkt, genau hier: man wendet sich ab, weil man das Schreckliche nicht ertragen kann. Man wendet sich ab, weil man Angst um das eigene armselige Leben hat. Oder, und das ist das bei Weitem Schlimmste, man wendet sich aus Gleichgültigkeit ab, es geht einen ja schließlich nichts an, nicht wahr? Wenn man den Faden weiterspinnt, dann kommt man unweigerlich zu zweierlei Erkenntnis: wir Menschen sind in der Mehrzahl schwach und feige und beeinflussbar und verführbar und selbstbezogen. Daran hat sich auch in vielen tausend Jahren, in denen die Krone der Schöpfung bereits die Erde unsicher macht, nichts geändert. Daraus resultiert, dass in Kenntnis dieser Schwäche, dieses Makels jeder Diktator der Welt leichtes Spiel hat – wie wir damals exemplarisch sehen konnten und wie es auch heute in all den Krisen-, den Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten unseres verwundeten blauen Planeten geschieht.
Um aber meine Ausschweifungen zu beenden, zu denen meine Lektüre des Krimis „Die Schreie am Rande der Stadt“ Anlass gibt, möchte ich schließlich noch eine kleine Bemerkung einfließen lassen zu dem, was ich bereits vorhin erwähnt habe: In seinem Nachwort sagt der Autor in unmissverständlicher Deutlichkeit, dass „die Kriminalhandlung den Rahmen bilden“ sollte, „um die Geschichte des Kemnaer Konzentrationslagers zu erzählen“. In der Tat nimmt der Aufenthalt des jungen Johannes Tesche im Juli des Jahres 1933 in der ehemaligen Putzwollfabrik Kemna breiten Raum in dem Kriminalroman ein. Dennoch sehe ich die Kriminalhandlung nicht als bloßen Rahmen an, dazu wird die Vorgeschichte zu ausführlich erzählt, lernt man die handelnden Personen – neben Johannes und Gerda noch die drei Freunde Friedrich, Henri und Georg – zu genau kennen, was dazu führt, dass man alsbald starken Anteil an ihnen nimmt. Und dies über den Roman hinaus.
Zusammenfassend möchte ich Stafan Barz hohes Lob zollen für diese Kriminalgeschichte, die durchweg spannend ist, die nie langweilt, nie auf der Stelle tritt und sich folgerichtig auf ihre Auflösung hinbewegt – die nur diese eine sein konnte. Die schwierige, Emotionen provozierende Thematik wurde mit dem gebotenen Respekt behandelt und vermittelte sich durch die neutrale, sachliche, manchmal lapidare Erzählweise des Autors auf eine besonders intensive und eindringliche Weise. Auch beinahe 90 Jahre nachdem die dunkelste Epoche der neueren deutschen Geschichte ihren Anfang nahm, erachte ich es als essentiell, die Erinnerung wach zu halten, um selbst wachsam zu bleiben, in immerwährender Bestrebung, auch den kleinsten Anfängen zu wehren. Stefan Barzs Roman leistet dazu seinen eindrucksvollen Beitrag!