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Veröffentlicht am 13.02.2023

Eine wahrhaft unvergessliche Lesenacht

Valerie - Retterin der Bücher
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Bücherwurm Valerie, weder mit besonderem Selbstvertrauen noch gar mit Schlagfertigkeit ausgestattet, hatte sich seit Wochen auf die Lesenacht in der Schule gefreut! Bücher sind ihr Leben, mal abgesehen ...

Bücherwurm Valerie, weder mit besonderem Selbstvertrauen noch gar mit Schlagfertigkeit ausgestattet, hatte sich seit Wochen auf die Lesenacht in der Schule gefreut! Bücher sind ihr Leben, mal abgesehen von ihrem Zottelhund Sonntag, den sie in Anlehnung an Robinsons Freitag, zwar nicht nach dem Tag benannt hat, an dem er bei ihr einzog, aber doch nach ihrem Lieblingstag. Ausnahmsweise durfte auch ihr treuer Begleiter in dieser besonderen Nacht, in der jedes Kind aus seinem Lieblingsbuch vorlesen durfte, mit ihr zusammen das Schulgebäude betreten.
Da das Lesen aber heutzutage, sicherlich nicht nur bei Valeries Mitschülern, als recht exotische Beschäftigung betrachtet zu werden scheint, ist das phantasiebegabte, nicht mit dem Strom schwimmende Mädchen eine Außenseiterin und wird besonders von der hochnäsigen Aurelia und deren Freundinnen Annabell und Agathe bei jeder sich bietenden Gelegenheit gehänselt und fast schon gemobbt. Folgerichtig sind es genau diese drei, die Valerie die Freude an der Lesenacht, für die sie hoffte, endlich einmal ein wenig zu glänzen, denn in Punkto Büchern macht ihr so schnell keiner etwas vor, und von ihren Klassenkameraden beachtet zu werden, gründlich verderben! Da hat sich die arrogante Aurelia doch tatsächlich erdreistet, sich ausgerechnet Valeries Lieblingsbuchs zu bemächtigen, um daraus vorzulesen! Valerie bleibt die Spucke weg – und wie es nun einmal so ist im Leben, glaubt die Lehrerin mit dem eigenartigen Namen Zitterich die unverfrorenen Lügen Aurelias und schickt die zu Recht empörte Valerie, rechtmäßige Eigentümerin des Piratinnenbuchs, vor die Tür. Jaja, Frechheit siegt! Fast immer. Zunächst wenigstens...
Aber mindestens genauso oft erwächst aus dem vermeintlichen oder tatsächlichen Unglück dann doch etwas Gutes – und für Valerie beginnt sogar das Abenteuer ihres Lebens, nachdem sie voller Traurigkeit und Enttäuschung mit Sonntag durch die dunklen Schulkorridore stapft und – ausgerechnet oder schicksalshaft, was hier wohl eher zutrifft, in der Schulbibliothek landet. Die dunkel und schweigend schläft? Weit gefehlt! Es geht munter zu an dem Ort der Stille, denn da tummelt sich lautstark ein Sammelsurium an eigenartigen Gestalten: Ritter, Mumien, Prinzen und Prinzessinnen, Hexen, Zauberer, Piraten – kurz all das, was es zwar in Büchern, aber doch nicht in der Wirklichkeit gibt, oder etwa doch? Valerie jedenfalls traut ihren Augen kaum, die Oma hat wohl doch Recht, wenn sie behauptet, dass ihre Enkelin zu viel Phantasie hat....
Doch nein, sie träumt wirklich nicht, denn wie sie bald von einem kleinen grünen, sehr verpeilt wirkenden Wuschel namens Zwirp erfährt, dürfen etwa alle 29 Tage, immer bei Neumond, Gestalten aus Geschichten ihre Heimat zwischen den Buchdeckeln verlassen und in der Menschenwelt eine Nacht lang Spaß haben. Er, Zwirp, achtet darauf, dass alles gesittet zugeht und dass Ritter, Piraten und Co. rechtzeitig wieder in ihren Büchern verschwinden. Allerdings scheint unser Zwirp mit dieser Aufgabe hoffnungslos überfordert zu sein, was diesem, genauso wenig selbstbewusst wie Valerie, durchaus klar ist und ihn schier zur Verzweiflung bringt. Als plötzlich Schritte auf dem Gang zu vernehmen sind und alle sich außerhalb ihrer jeweiligen Geschichte verlustierenden Wesen so schnell es geht in ihre Bücher zurückhuschen, geschieht auch prompt ein Missgeschick: die sich geräuschvoll streitenden Katzen, ihres Zeichens der Gestiefelte Kater und der Bremer Stadtmusikant, stürzen sich im Eifer des Gefechts ins falsche Buch! Eine sich anbahnende Katastrophe, die nur dann verhindert werden kann, wenn man die beiden Kontrahenten noch vor Ende der Neumondnacht findet und wieder in ihre ureigenen Geschichten zurückschickt....
Und wer ist dazu wohl besser geeignet als die Bücherfreundin Valerie? Kurzentschlossen und bevor die herannahende Lehrerin Zitterich etwas merkt, taucht sie mit Sonntag und dem Bücherzwirp ab ins 'Buch der Drachenreiter', um die beiden Verirrten aufzustöbern. Ja, und nun beginnt eine schöne, so phantastische wie phantasievolle Geschichte, die so recht dazu geeignet ist, junge – genauso übrigens wie nicht mehr ganz so junge – Leser alles um sich herum vergessen zu lassen und, wie Valerie, einzutauchen in eine wundersame Welt, in der die Tiere reden können, zu Valeries seligem Entzücken auch ihr bester Freund Sonntag, dessen geistreiche und pfiffige Kommentare der ohnehin schon reizenden Geschichte das Sahnehäubchen aufsetzen. Auch Mut ist gefragt in dieser Bücherwelt, die auf keinen Fall durch die Interventionen Valeries und des Zwirps verändert werden darf, Mut und Klugheit, um die Herausforderungen zu bestehen, vor denen das in der realen Welt so schüchterne Mädchen ein ums andere Mal steht, und um es darüberhinaus mit den gar nicht so bösen Drachen aufzunehmen, die die Autorin so liebevoll und mit Freude am Fabulieren in Szene setzt und damit die Sichtweise auf die gefürchteten Fabelwesen umdreht.
Begeistern können auch die in grau-schwarz-grün und gelegentlich etwas braun gehaltenen Zeichnungen von Katja Jäger, die die Erzählung ganz wunderbar ergänzen und auf deren Einzelheiten man unbedingt achten sollte. In der Tat habe ich selten in einem Buch dieser Art eine solche Einheit und Harmonie zwischen Text und Illustration gefunden – eine echte Symbiose, fürwahr! - Und was Valerie angeht und nicht zuletzt den ihr im Verhalten so ähnlichen Zwirp, der sehr bald zu einem guten Freund wird, so können die jungen Leser davon ausgehen, dass beide an ihren Aufgaben wachsen werden – doch wie das geschieht ist zu aufregend, zu spannend, um es an dieser Stelle zu verraten! Das müssen die hoffentlich zahlreichen jungen, älteren und vielleicht schon alten Leser, wobei mir die Großeltern vor Augen stehen, dieser be- und verzaubernden Geschichte natürlich selber herausfinden....

Veröffentlicht am 12.02.2023

Sophie entdeckt ihre ganz besondere Gabe

Das Geheimnis der Flüstermagie (Band 1) – der Zauberwald erwacht
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Obwohl sich Fantasy-Romane oft einer besonders schönen Umschlagsgestaltung erfreuen, haben Edel Kids Books mit dem Cover und dem Vorsatzblatt von Marliese Arnolds Roman 'Das Geheimnis der Flüstermagie ...

Obwohl sich Fantasy-Romane oft einer besonders schönen Umschlagsgestaltung erfreuen, haben Edel Kids Books mit dem Cover und dem Vorsatzblatt von Marliese Arnolds Roman 'Das Geheimnis der Flüstermagie – Der Zauberwald erwacht' einen echten Volltreffer gelandet! Man kann sich gar nicht sattsehen an den dunkelbunt schillernden Farben, die, ganz zu Recht, auf ein außergewöhnliches Fantasy-Abenteuer zwischen den Buchdeckeln hinweisen. Denn obwohl der Markt seit einigen Jahren regelrecht überflutet wird mit Fantasy-Geschichten, von denen ich die wenigsten, die ich kenne, als herausragend bezeichnen würde, treffe ich gelegentlich doch auf eine, die sich abhebt von dem großen Rest, die be- und verzaubert, die man am liebsten nicht mehr aus der Hand legen möchte, die einen mitnimmt in magische Welten, in denen man den Wunsch verspürt, sich häuslich einzurichten.
Marliese Arolds erster Band der auf mehrere, mindestens aber zwei Bände angelegten Reihe, 'Flüstermagie', dem ich im folgenden einige Gedanken widmen möchte, gehört zu diesen rühmlichen Ausnahmen! Nicht nur kann die erfahrene Autorin tatsächlich schreiben (was heutzutage alles andere als selbstverständlich ist) – und dies richtig gut und grammatikalisch wie orthographisch einwandfrei -, sondern sie beherrscht darüberhinaus auch die Kunst, eine schlüssige, logische, folgerichtige Geschichte zu erzählen mit nachvollziehbaren, sorgfältig ausgearbeiteten Charakteren, die man mühelos visualisieren kann. Kurz und gut – ihre Romane erfüllen formal wie inhaltlich alle Kriterien, die eine gute, eine sehr gute Geschichte ausmachen. Und was desweiteren für die Qualität ihrer Bücher spricht, ist die Tatsache, dass sie nicht nur von der Zielgruppe, den Kindern und Jugendlichen also, sondern mit genauso viel Freude auch von Erwachsenen gelesen werden können, mögen sie denn gut geschriebene und ersonnene Fantasy.
Aber kommen wir nun zu der Geschichte selbst, die zur Untergruppe der Urban Fantasy gezählt werden kann, denn parallel zur Welt, wie wir sie kennen, wie sie für unsere Sinne wahrnehmbar ist, gibt es hier eine zweite, eine magische Welt, die nur den Eingeweihten, denen deren Wahrnehmung über die Grenzen des Sichtbaren hinausgeht, zugänglich ist. Dass Sophie, Protagonistin und Ich-Erzählerin in einem, ein völlig normaler Teenager mit den typischen Eigenschaften, Verhaltensweisen, Wünschen und Träumen eines solchen, mit besonderen Fähigkeiten oder, wenn man so möchte, ungewöhnlich feinen Antennen ausgestattet ist, hätte sie womöglich niemals erfahren, wäre sie denn in dem eher gehobenen Umfeld geblieben, in dem sie aufgewachsen ist, mit sehr spießigen, ganz auf Äußerlichkeiten bedachten Eltern übrigens, die wenig sympathisch beschrieben sind und bei denen es durchaus verwundert, dass sie eine so patente, richtig nette Tochter mit dem Herzen auf dem rechten Fleck hervorgebracht haben, die in Denken und Handeln so viel konsequenter, so viel bewusster ist, als die auf eine lange Kreuzfahrt ganz versessenen Eltern. Sophies Argumente, damit der Umweltzerstörung und der daraus resultierenden Klimaveränderung Vorschub zu leisten, wischen sie einfach beiseite. Sie arbeiten schwer – als besserwisserischer Oberlehrer er und als gestylte Kosmetikstudioinhaberin sie! - und haben sich das 'verdient'. Derartige Totschlagsargumente hört man ja sehr oft und man muss schon den Mut haben sich äußerst unbeliebt zu machen, wenn man dagegenhält – oder eben eine reflektierende Tochter sein wie Sophie.
Diese umweltschädliche Kreuzfahrt auf den größten Verschmutzern der Weltmeere ist dann auch indirekt der Grund, warum Sophie mit einer Welt konfrontiert wird, die sie nur staunen lässt und die ihr Leben nachhaltig verändern wird. Denn hätten die Eltern nicht auf der langen Reise bestanden, hätten sie für Sophie nicht eine so langfristige Unterkunft suchen müssen. Und wäre die geplante Ferienfreizeit mit ihrer besten Freundin Paula nicht ins Wasser gefallen, dann hätte Mutters ungeliebte, weil aus der Art geschlagene Schwester mit ihrer unkonventionellen, ein wenig chaotischen Lebensweise und dem komplett fehlenden Interesse an Äußerlichkeiten nicht einspringen müssen! Nur widerwillig lassen die Eltern Sophie also bei der Tante zurück, sie könnte ja die ganze sorgfältige Erziehung der Tochter zunichte machen! Ohne Worte....
Aber nun, Sophie gefällt Tante Kathi – so eine wie sie kann man sich wirklich nur wünschen! -, auf deren langsam zerfallendem Hof mitten auf dem tiefsten Land sich allerlei Tiere tummeln, die hier, wie es heißt, ihr Gnadenbrot bekommen. Ja, das stimmt schon, ist aber nicht die ganze Wahrheit, wie Sophie recht schnell herausfindet, denn vom Tag ihrer Ankunft an spürt sie, dass eine geheimnisvolle, nicht fassbare Aura über dem Hof der Tante schwebt und dass nicht alles so 'normal' ist, wie es scheint. So weicht Sophies anfängliche Begeisterung einem beklemmenden Gefühl und dem sie belastenden Eindruck, eigentlich gar nicht willkommen zu sein, wozu noch das ihr unverständliche feindselige Verhalten der drei Mädchen, mehr oder minder in ihrem Alter, beiträgt, die sich auf dem Hof Tante Kathis ihr Taschengeld verdienen und sich gar wie die Eigentümerinnen persönlich aufspielen. Alle Annäherungsversuche von Seiten der versöhnlichen Sophie, der es immer leichtgefallen ist Freunde zu finden und die alles andere als eine Zicke ist, scheitern zunächst. Doch geschehen sehr bald Dinge, die ihre Gedanken in eine ganz andere Richtung lenken und die sie an ihrem Verstand zweifeln lassen: sie hat unerklärliche Träume, in denen sie einen leibhaftigen, schwerkranken Drachen heilt, kann plötzlich mit den Tieren des Hofes sprechen, allen voran mit dem Noriker Hjalmar, einem riesigen Pferd, in das sie sich auf Anhieb verguckt hat – was sie wahrscheinlich schon längst herausgefunden hätte, hätte der Vater sich nicht hinter einer angeblichen Tierhaarallergie verschanzt, um Sophie nicht das sehnlichst gewünschte Haustier gestatten zu müssen. Sie versucht ihre Fähigkeiten zu verbergen, doch der aufmerksamen und feinfühligen Tante Kathi entgeht das nicht und sie beschließt, ein großes, ein besonderes Geheimnis mit Sophie zu teilen, nachdem sie begriffen hat, dass die außergewöhnliche Gabe, die sie selbst besitzt, auch in ihrer Nichte nicht nur schlummert sondern soeben erwacht ist.
Und von nun an wird es wirklich märchenhaft – und mein Erzählfluss muss an dieser Stelle stoppen! Sophie, soviel darf aber gesagt werden, erlebt den schönsten Sommer ihres Lebens, der für sie gleichzeitig der Beginn von etwas ganz Neuem ist, der ihr die Wege aufzeigt, die ihr bestimmt sind, wenn sie denn Mut und Verantwortungsgefühl genug hat, sie zu gehen. Und, das Beste von allem vielleicht, jedenfalls aber das, was sie weder gewünscht noch erwartet hätte, ist die Begegnung mit Silvio, einem rätselhaften, unergründlichen Jungen mit der gleichen Gabe wie die ihre, in den sie sich Hals über Kopf verliebt und mit dem sie, das suggeriert das Ende des ersten Bandes der 'Flüstermagie', erst am Anfang einer so wundervollen wie gefährlichen Reise steht.... Freuen wir uns also auf den Folgeband!

Veröffentlicht am 01.02.2023

Stimmungsvoller Kriminalroman vor zeitgeschichtlicher Kulisse

Kommissar Gennat und der grüne Skorpion
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Schon immer begeistert von guten Kriminalromanen, bevorzugt der klassischen a la Agatha Christie, Dorothy Sayers und P.D.James und den historischen, von denen viele ihrerseits längst zu Klassikern geworden ...

Schon immer begeistert von guten Kriminalromanen, bevorzugt der klassischen a la Agatha Christie, Dorothy Sayers und P.D.James und den historischen, von denen viele ihrerseits längst zu Klassikern geworden sind, weniger zugeneigt der beliebigen Dutzendware der sogenannten Regionalkrimis, oder der noch weniger anspruchsvollen Cozy Crimes, die den Markt seit einigen Jahren überfluten und die sich das kaum mehr erträgliche 'Lokalkolorit', respektive 'typisch englich-betulich' auf die Fahne geschrieben haben, ist mir der titelgebende Protagonist des hier zu besprechenden Krimis 'Kommissar Gennat und der grüne Skorpion' erst vor wenigen Jahren begegnet. Und dies nicht etwa durch Volker Kutschers Romane um den fiktiven Gereon Rath, sondern aufgrund der 1998 erschienenen, sehr lesenswerten Biographie 'Der Kommissar vom Alexanderplatz' aus der Feder der Historikerin Dr. Regina Stürickow, die auch für den 'grünen Skorpion' verantwortlich zeichnet, den bisher vierten Kriminalroman um den vor allem in der Weimarer Republik weit über die Grenzen Berlins bekannten Kriminalrat Ernst Gennat, dem Gründer der 'Inspektion M', der ersten ständigen Mordkommission der Welt und der zentralen 'Todesermittlungskartei', dem Vorläufer einer polizeilichen Datenbank. Und Regina Stürickow ist es durch ihre Biographie auch gelungen, den längst – unverständlich und völlig zu Unrecht! - in Vergessenheit geratenen schwergewichtigen Polizeibeamten, den man ob seines phänomenalen Gedächtnisses und seines großen psychologischen Einfühlungsvermögens heutzutage wohl als 'Profiler' bezeichnen würde, wieder präsent zu machen. Verdient hat er es gewiss, der für damalige Zeiten höchst ungewöhnliche Gennat mit seiner besonderen Gabe, inhaftierte Mörder und andere Verbrecher zum Reden zu bringen, der als Pionier der modernen Kriminalistik den Weg bahnte! In seiner Hoch-Zeit, die, wie oben erwähnt, die Weimarer Republik, also die wilden Zwanziger des vergangenen Jahrhunderts waren, wurde der charismatische, durchaus auch humorvolle Mann mit der Vorliebe zu vor allem süßen kulinarischen Genüssen auch dank seiner hohen Aufklärungsquote von 95% gefeiert und von seinen Kollegen von überallher in schwierigen Fällen konsultiert – und sogar im späteren, zum Zeitpunkt der Handlung des Romans bereits heraufdämmernden, Dritten Reich behielt er bis zu seinem Tod kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs seine Stellung bei der Berliner Polizei. Und dies, obgleich er sich weigerte, in die NSDAP einzutreten und keineswegs mit den Nazis sympathisierte. Er schien einfach unverzichtbar zu sein!
Also ist es nur recht und billig, dass er von seiner Biographin Stürickow ein spätes Denkmal gesetzt bekommt in eben der Krimireihe, deren besagter 4. Band Gegenstand meiner Betrachtungen ist. Ja, wir haben hier einen Roman vor uns, doch entfaltet sich dessen Handlung, auf die ich hier nur soweit es mir notwendig erscheint eingehen werde, in einem ganz und gar nicht fiktiven, sondern in einem historischen, respektive zeitgeschichtlichen Rahmen. Fiktiv, so schreibt die Autorin in ihrem Nachwort, sei lediglich der recht verzwickte Fall, in den Ernst Gennat gemeinsam mit seinem Freund, dem jungen Polizeireporter Max Kaminski, und dem so sympathischen wie fähigen Kriminalisten-Kollegen Rudolf Lissigkeit im Sommer des Jahres 1926 Licht zu bringen versucht. Sonstige von Gennat bearbeitete Verbrechen, die in dem Roman Erwähnung finden, entsprächen der Realität.
Wahrheit und Fiktion so miteinander agieren zu lassen, dass das eine das andere geradezu perfekt ergänzt, dass man beides schließlich nicht mehr voneinander unterscheiden kann, weil die Atmosphäre, die über allem schwebt und die Geschehnisse zusammenhält, so authentisch wirkt, spiegelt sie doch, soweit ich das zu beurteilen vermag, jene, vermeintlich goldenen, Zwanziger wider, während derer das Verbrechen in der Metropole Berlin Hochkonjunktur und die Polizei alle Hände voll zu tun hatte! Golden übrigens waren diese wilden Jahre nur, wie das halt immer so ist und in der Historie war, für diejenigen, denen es wirtschaftlich einigermaßen oder so richtig gut ging. Die breite Masse musste sich nach der Decke strecken, lebte vielfach im Elend, und wenn sie nicht das Glück hatte Arbeit zu finden – die Weltwirtschaftskrise mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit warf bereits ihre langen Schatten -, fiel es schwer, anständig zu bleiben.
Dem trägt die Autorin Rechnung, denn ihr Roman spielt keineswegs nur unter den Berlinern, die auf der Sonnenseite lebten, sondern spiegelt vielmehr die damalige Realität. Auf diese Weise entsteht ein grandios gemaltes Kaleidoskop der Bevölkerung der Großstadt Berlin, das auch den hässlichen Blick in menschliche Abgründe ermöglicht – und darüberhinaus einen Eindruck vermittelt von der Arbeit der Polizei, die für die Leser des 21. Jahrhunderts reichlich antiquiert anmutet und in der der so unkonventionelle wie demokratische Kommissar Gennat mit seinen Visionen fast wie ein Fremdkörper wirkt, wie aus der Zeit gefallen, aber nicht etwa zurück, sondern nach vorne, aus der Zukunft. Nicht nur bei seinen Ermittlungen im Fall der verschwundenen Frauenleiche in Hohenschönhausen darf ihm der Leser über die Schulter blicken, sondern er lernt ihn, den passionierten Junggesellen, auch privat kennen und im Umgang mit seinen Kollegen, in dem er mich durch seine zwar eigenwillige, aber angenehm freundlich-menschliche Art beeindruckt. Auf die starren Hierarchien innerhalb des Polizeiapparates pfeifend, bleibt er immer er selbst, biedert sich nirgendwo an und ist fern von jeglichem Opportunismus, durch den sich gewisse Kollegen auszeichnen, von denen besonders einer im nicht allzu fernen Dritten Reich unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, die der zivilisierte Gennat freilich unterschätzt, eine sehr zweifelhafte Karriere machen würde.
Dass Ermittlungen in Kriminalfällen zu Gennats Zeiten langsam und recht schwerfällig waren ohne all die Möglichkeiten, die heutige Polizisten zur Verfügung haben, ist klar – ein Grund, warum die Aufklärung des Falles, von dem zunächst nur Gennat und seine Getreuen glauben, dass es einer sei, so mühsam war, für mich aber immer spannend blieb und zu keinem Zeitpunkt langweilig wurde. Von den Puzzleteilchen, die ganz allmählich in das Gesamtbild eingefügt werden, erzählt jedes eine kleine Geschichte für sich – und ganz gewiss keine schöne, wie man feststellen wird, wenn man sich auf das Buch einlässt! Die vollständige Auflösung schließlich war logisch und ja, irgendwie auch vorhersehbar, nicht die ganze Zeit, doch – und das darf auch sein, ohne dass es der Geschichte Abbruch täte - am Ende, nachdem man schon erkennen konnte, was das Puzzle darstellen sollte. Bis dahin aber war es ein langer Weg und man tappte ebenso im Dunkeln wie der Kommissar, was dem Roman aber einen glaubwürdigen, einen realistischen Anstrich gab, der, wie ich finde, jeden guten Roman kennzeichnen muss. Und ein solcher ist 'Kommissar Gennat und der grüne Skorpion' ganz entschieden! Und genauso entschieden ist er keine Massenware und daher ein Genuss für diejenigen unter den Lesern, für die sich ein Kriminalroman nicht in vordergründiger Spannung ohne jegliche Tiefe, dafür mit viel Action angereichert erschöpft!

Veröffentlicht am 31.01.2023

Erschütternde und nachhallende Geschichtsstunde

Zorn der Lämmer
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Dass selbst beinahe 78 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und damit dem Ende der unaussprechlichen Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes an allen Menschen, die dem Unrechtssystem ein Dorn ...

Dass selbst beinahe 78 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und damit dem Ende der unaussprechlichen Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes an allen Menschen, die dem Unrechtssystem ein Dorn im Auge waren, allen voran an sechs Millionen Juden verübt wurden, immer noch Aufarbeitung stattfindet, in Form von Foren, vor allem aber in der Literatur, ist bezeichnend. Und wichtig! Wider das Vergessen! Auf dass sich die Geschichte nie, niemals wiederholen möge! Dass dem aber dennoch so ist, so viele Versuche der Aufarbeitung ein Volk, in dem die Vergesslichkeit längst wie ein böses Virus umgeht, auch gemacht werden, ist eigentlich unbegreiflich und, wie ich es auch drehe und wende, scheint mit der im Menschen angelegten Gewaltbereitschaft verknüpft zu sein. Das Dritte Reich mit all seinen Implikationen war nicht das erste seiner Art, Völkermorde gab es seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte und gab es auch nach dem Ende des von den Deutschen angezettelten Krieges unzählige Male, bis auf den heutigen Tag, ob in Vietnam, Kambodscha, dem Kongo, in Burundi, Sri Lanka, Afghanistan, Chile oder auf dem Balkan. Kaum vorstellbar, dass nun auch noch ein als so hoch entwickelt geltendes Land wie Russland mitten in Europa Kriegsverbrechen begeht, die nach dem gleichen Prinzip ablaufen, ebenso grausam, wie die von den Nazis verübten!
Aber kommen wir zu Daniel Wehnhardts hier zu besprechendem Roman mit dem bezeichnenden Titel „Zorn der Lämmer“! Ein, um es vorwegzuschicken, ganz hervorragendes Buch, sorgfältig und gründlich recherchiert, mitreißend geschrieben und so spannend, wie es nur wirklich gute Kriminalromane sein können. Mit einem Unterschied freilich: es erzählt eine wahre Geschichte, natürlich mit den Mitteln eines Romans, also auch mit erfundenen Elementen, fiktiven Dialogen, dramaturgisch passenden Versatzstücken, die, so will mir scheinen, von der Wirklichkeit jedoch nicht weit entfernt sein dürften. Um zum eigentlichen Thema zu kommen, nämlich der Geburtsstunde der jüdischen Untergrundorganisation Nakam, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, gnadenlos Rache zu üben nicht nur an denjenigen, die aktiv an der Massenvernichtung beteiligt waren, sondern gar am gesamten deutschen Volk, das durch sein Stillhalten, sein Schweigen, sein Nichteingreifen das Grauen überhaupt erst ermöglicht hatte, geht der Autor zurück ins Jahr 1943, als die Endlösung bereits beschlossene Sache war und nur eine Frage der Zeit, bis das von den Nazis besetzte Europa 'judenfrei' wäre. Und das tut er völlig zu Recht, denn ohne diese intensiv und schonungslos erzählte Vorgeschichte wäre die Bildung der Nakam kaum nachzuvollziehen. Man muss wissen, was den Protagonisten des Romans, Abba Kovner, Vitka Kempner, Rozka Korczak und Leipke Zinkel, um nur die wichtigsten historischen Personen zu nennen, angetan wurde – ihre Familien fielen samt und sonders der Mordlust der Deutschen zum Opfer -, und was sie selbst im Ghetto der litauischen Hauptstadt Wilna und später, als unerbittliche Partisanen, in den sumpfigen Wäldern von Rudnik, als auch im KZ (Leipke) erlebt und erlitten haben, um, wenn auch nur ansatzweise, ihre Beweggründe, eine so umfassende Rache nehmen zu wollen, verstehen zu können!
Aber auch die nicht direkt mit Abba und seiner Truppe in Verbindung stehenden, aber ungemein wichtigen, stets kurzen, aber zutiefst bestürzenden, tief unter die Haut gehenden Szenen, allesamt historisch belegt, die, immer aus dem Blickwinkel einer fiktiven Person, meist eines jungen Mädchens oder einer jungen Frau, von denen niemand das jeweilige Massaker, das sich anbahnte, überleben würde, immer wieder eingestreut werden, lassen den späteren Rachegedanken der Überlebenden beinahe zu dem eigenen werden.Wann immer der Autor zu diesem erschütternden, den Leser involvierenden, oft genug zum Weinen bringenden Stilmittel greift, ist der Roman am stärksten, denn dann wird die zeitliche, räumliche und emotionale Distanz aufgehoben, einfach ausgehebelt und niedergerissen, dann ist es gar, als wäre man viel mehr als nur ein unbeteiligter Leser und damit irgendwie auch Zuschauer. Man möchte eingreifen, die Mörder stoppen – und selbst zum Mörder werden...
Ja, der Gedanke an Rache, die Gerechtigkeit damit in die eigenen Hände zu nehmen, ist nicht fern! Aber kollektive Rache? Ein Auge für ein Auge, ein Zahn für ein Zahn oder, wie der unversöhnliche Abba Kovner es forderte, ein Leben für ein Leben? Nach Kriegsende denken freilich nicht alle wie er. Die überlebenden Juden hatten andere Sorgen, denn obwohl ihnen von den Nazis nun keine Gefahr mehr drohte, waren sie nach wie vor in ihrer osteuropäischen Heimat unerwünscht und die neuen Besatzer, die Russen, trachteten ihnen sogar nach dem Leben. Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung waren bei ihnen ja seit Jahrhunderten gang und gebe! Also betätigten sich Abba und Vitka zunächst einmal als Fluchthelfer – Palästina, das Gelobte Land der Bibel, war das Ziel! Doch dort Einlass zu finden war das nächste Problem – auch über diese unerfreulichen Aspekte lesen wir in Daniel Wehnhardts Roman, und sie dürften denjenigen, die Leon Uris Mammutwerk 'Exodus' kennen, geläuftig sein!
Während Leipke nach der Befreiung der KZs durch die Alliierten weiterhin interniert war (und dies, so unglaublich es auch klingt, in den selben Baracken, in denen er unter den Nazis täglich in höchster Lebensgefahr schwebte!) und Abba und Vitka noch in Deutschland waren, mit nächstem Ziel Italien, war es Rozka gelungen, direkt nach dem Einmarsch der Russen ins heimische Litauen nach Palästina zu gelangen und hatte es sich dort zur Aufgabe gemacht, Zeugnis zu geben von dem Völkermord – in meinen Augen die einzige Möglichkeit der Verarbeitung des Unaussprechlichen, gleichzeitig eine Mahnung und eine Aufklärung, auf dass sich so etwas nicht wiederholen möge. Es war dies eine Angst, die die allermeisten Überlebenden des Holocaust noch lange mit sich herumtrugen, wenn sie sie denn zu ihren Lebzeiten jemals loswurden, und auch ein Grund, so schnell wie möglich europäischen Boden zu verlassen. Gegen ihren Willen und trotz ihrer Skepsis gelang es dem charismatischen Abba, der schließlich auch in Palästina eintraf, die ehemalige Kampfgefährtin und Geliebte zur aktiven Mitarbeit zu bewegen.
Der Plan stand schon fest, besser die beiden Pläne: Plan A sah vor, das Trinkwasser in Deutschland zu vergiften und Plan B, der dann schließlich auch ausgeführt wurde, die etwa 30000 Kriegsgefangenen im US-amerikanischen Gefangenenlager Nürnberg-Langwasser, allesamt Nazis und SS-Leute, mit arsenversetztem Brot zu vergiften. Ein Segen, dass, durch massive Intervention hochrangiger Israelis und der Inhaftierung Abbas, weder der eine noch der andere – bei aller Sympathie mit Kovner und seinen Getreuen - teuflische Plan glückte! Keinem wäre gedient gewesen, wäre es anders gekommen. Die Juden hätten sich auf die gleiche Stufe gestellt wie ihre Peiniger, ihre Toten wären nicht wieder lebendig geworden – und einen israelischen Staat würde es, so kann man annehmen, bis heute nicht geben. So aber, und da lassen wir am Ende des Romans, das im Jahre 2003 spielt, der inzwischen über 80jährigen Vitka Kempner, die ihren Mann Abba um 25 Jahre überlebte und der Israel zur Heimat geworden war, das Wort, ... denn 'welche größere Rache an Nazi-Deutschland könnte es geben als einen eigenen jüdischen Staat?'. Und sie endet mit den versöhnenden Worten: 'Und ich bin sicher: Das würden auch unsere Familien so sehen.'

Veröffentlicht am 30.01.2023

Klimawandel - Unser aller Überleben steht auf dem Spiel!

Taupunkt
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In seinem neuen Roman packt Thore D. Hansen, bekannt für die Auseinandersetzung mit brisanten Themen wie Datenraub, Gefahren der Digitalisierung, Globalisierung, Kapitalismus und gewissenlose Machenschaften ...

In seinem neuen Roman packt Thore D. Hansen, bekannt für die Auseinandersetzung mit brisanten Themen wie Datenraub, Gefahren der Digitalisierung, Globalisierung, Kapitalismus und gewissenlose Machenschaften von Finanzjongleuren, die Millionen von Menschen um ihr Hab und Gut bringen, ein weiteres heißes und dazu noch im wahrsten Sinne des Wortes brandaktuelles Eisen an, das die Gesellschaft, angestachelt durch gewisse Medien und die verlogenen Beschwichtigungen von Seiten der Industrie und Wirtschaft und den von ihnen gelenkten Politikern, nach wie vor und, so hat es den Anschein, in der letzten Zeit immer stärker spaltet. Um Klimawandel geht es und dessen verheerenden Folgen, vor denen hochrangige, so besonnene wie unbestechliche und unabhängige Wissenschaftler auf der ganzen Welt seit Jahren warnen.
Und nicht nur das! Längst haben sie Programme ausgearbeitet, die minutiös darlegen, wie dagegen angegangen werden kann oder besser, wie das Schlimmste, nämlich das Aussterben der Menschheit, verhindert werden kann, das, folgt man ihren Prognosen, am Ende der Spirale aus Überhitzung des Klimas durch Erderwärmung, Schmelzen der Polarkappen, daraus resultierenden Überflutungen nicht nur der Inseln der Weltmeere, sondern ebenso der Städte an Küsten und Flüssen und schließlich gewaltiger Erdbeben, Erdrutsche und dem Zusammenstürzen der Gebirge, stehen muss.
Fünf vor Zwölf? Also bleibt wirklich noch Zeit, das Steuer herumzureißen, wenn sämtliche Regierungen unseres geplagten, geschundenen blauen Planeten auf der Stelle konsolidiert handeln und den dringenden Empfehlungen der Klimatologen, Ozeanographen, Physiker, Meteorologen und wie sie alle heißen, Folge leisten und alles, aber wirklich alles stoppen, was zur Klimaveränderung geführt hat und sie gar noch verstärkt, trotz der so prestigeträchtigen und mit großem Tamtam abgehaltenen, aber nicht Nutzen bringenden Weltklimagipfel, die man sich genauso gut sparen kann? Den eindringlichen Warnungen müssten halt auch Taten folgen...
Verfolgt man die fiktive Handlung in Thore D. Hansens aufrüttelndem, hervorragend geschriebenen 'Klimaroman', der viele Züge eines sehr spannenden Thrillers aufweist, so wird man mit Erschrecken gewahr, dass die Zeit um die desaströsen Auswirkungen des Klimawandels kontrollieren zu können, bereits abgelaufen ist. Mit anderen Worten, es ist längst Fünf nach Zwölf! In seinem Nachwort versichert der Autor, dass er renommierte Klimatologen und andere Wissenschaftler über sein Manuskript hat schauen lassen, um sicherzugehen, dass das, was er schreibt, dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entspricht. So kann man also davon ausgehen, dass das von ihm gemalte Horrorszenarium, das sich da wie im Zeitraffer vor den Augen des Lesers entfaltet, nicht in einen seiner Science Fiction Romane gehört. Tatsächlich spielt der Roman in der nahen Zukunft – und kann jederzeit schreckliche Realität werden! Unbegreiflich ist, dass angesichts der weltweiten Klimaerwärmung, der immer wärmer werdenden Sommer auch hierzulande, der alljährlich stärker wütenden Waldbrände und der leider wenig hübsch unter Verschluss gehaltenen Tatsache, dass bereits Millionen von Menschen auf der Flucht sind vor den Folgen des Klimawandels, die Regierungen – beileibe nicht nur im eigenen Lande – weiterhin keine Notwendigkeit sehen, aktiv zu werden, stattdessen die Bevölkerung gar in falscher Sicherheit wiegen und es so erst möglich gemacht haben, dass sich die Gesellschaft in Klimaaktivisten und Klimaleugner, nebst zahlreicher Untergruppen, spalten konnte, von denen letztere zwar, glaubt man den Statistiken, in der Minderheit, dafür aber um so lauter und gewaltbereiter sind! Und wenn sie dann noch von der konservativen (Lügen-)Presse, gelenkt von einflussreichen Lobbys, aufgestachelt und geschickt manipuliert werden, - nun, dann rennen wir direkt in unseren Untergang! Und dieser wird, um nun endlich auf den hier zu besprechenden Roman zu kommen, einem wahren Weltuntergangsszenarium gleich, in 'Taupunkt' sehr anschaulich geschildert.
Wiewohl das Hauptaugenmerk auf wenigen Tagen im Monat Mai liegt, an denen der 'worst case' eintritt, nachdem binnen kurzem die Temperaturen bis auf über 50° Celsius ansteigen – und dies nicht etwa in der Sahel-Zone oder in Indien, sondern mitten in Europa, in Brandenburg und Berlin, im wesentlichen der Schauplatz der Geschichte -, gibt es eine Handvoll Protagonisten, nämlich die zerstrittenen Gebrüder Beyer, Robert und Tom, ihre jeweiligen Töchter, Janne und Mareike, Jannes Freund Tobias, sowie, mit kürzeren Auftritten, Toms Kollege Gunnar aus Island, sein ehemaliger Chef Ron Huber, seines Zeichens Vorsitzender des Weltklimarats mit Sitz in den Vereinigten Staaten, und Lil, die Frau, die Tom liebt. Die vier Mitglieder der Familie Beyer stehen gleichzeitig für die vier Hauptrichtungen unserer Gesellschaft in Bezug auf die Klimadebatte: Tom, Wissenschaftler und führender Klimatologe, warnt schon seit vielen Jahren vor dem, was auf die Weltbevölkerung zukommt, wenn sie nicht unverzüglich umkehrt, innehält, ist aufgerieben im Dienste seiner Mission und am Ende seiner Kräfte angelangt. Nach vielen Jahren des Schweigens setzt er sich nun, im Angesicht des Schreckens, das ihnen allen bevorsteht, mit seinem Bruder auseinander, der den elterlichen Hof übernommen und dank seiner Alkoholabhängigkeit längst heruntergewirtschaftet hat. Robert ist ein entschiedener Leugner des Klimawandels und lässt sich auf gleichgesinnte Gruppen ein, die die absonderlichsten Verschwörungstheorien entwickelt haben, die so absurd wie haltlos sind. Zudem nimmt er seinem Bruder übel, dass er ihn und die Familie, aus seiner Sicht, im Stich gelassen hat, um seinen eigenen Weg zu gehen. Seine Tochter Janne, in den Fußstapfen des verehrten Onkels wandelnd, ist eine aufgrund ihres Studiums der Klimatologie bestens informierte, dazu außerordentlich engagierte, kämpferische junge Frau, die genau weiß, welche Folgen der Klimawandel nach sich zieht und die entschlossen ist, für die Zukunft ihrer Generation einzutreten, aller persönlichen Unannehmlichkeiten zum Trotz. Mareike hingegen, Toms Tochter, steht dem Ganzen einfach nur gleichgültig gegenüber. Sie will Spaß haben und alles Bedrohliche ausblenden.
Ja, es ist richtig, was einige Kritiker anzumerken haben in Bezug auf die Charaktere. Sie sind nicht bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, was übrigens auch nicht in diesen Roman mit seinen 260 Seiten hineinpassen würde! Doch betrachte ich das nicht als Nachteil, denn gerade weil man keine ellenlangen Einblicke in ihr Denken und Fühlen bekommt, sie lediglich eher anskizziert sind, wird man neugierig auf sie, blickt tiefer, macht sich sein eigenes Bild. Was übrigens auch für die Schilderung der sehr bald hereinbrechenden Katastrophe gilt. Ich muss nicht bis in alle Einzelheiten wissen, welche Schäden sie angerichtet hat, um mir diese auf das Lebhafteste vorstellen zu können! Das Unausgesprochene, nur Angedeutete kann eine sehr viel stärkere Wirkung haben als das haarklein Beschriebene....
Doch um nun wieder auf die eigentliche Handlung zurückzukommen – es kommt ein Punkt, da kann auch der erfolgreichste Leugner die Augen nicht mehr verschließen! Denn bedrohlich sind nicht nur die unmenschlichen Temperaturen, die in kürzester Zeit die Welt, wie wir sie kennen, kollabieren lassen: Wald- und Flächenbrände greifen in Windeseile um sich, überrennen ganze Ortschaften, die Anzahl der Menschen, die dabei und aufgrund der Hitze ums Leben kommen, übersteigt diejenige der Opfer, die die Pandemie gefordert hatte, Evakuierungen werden vorgenommen. Als dann noch die Stromversorgung in ganz Europa zusammenbricht, was die Ängste steigert und Panik ausbrechen lässt und die üblichen Plünderer auf den Plan ruft, müsste wohl – und da bin ich, obschon dies nicht explizit im Roman erwähnt wird, optimistisch – auch der standhafteste und unbelehrbarste Klimawandelleugner den tödlichen Ernst der Situation begriffen haben! Zeit nun für die Umsetzung des von Tom Beyer und seinen Mitstreitern ausgearbeitete Phönix-Programm, das nicht nur die Lebensführung von uns allen hinterfragt, sondern ganz konkret anzeigt, wie es, auf lange Sicht freilich, gelingen könnte, vielleicht, mit viel Glück und einem kompromisslosen Zusammenhalt der gesamten Weltbevölkerung, das Überleben der Spezies Mensch zu sichern.
Aber werden wir auch dann, wenn die kalte Jahreszeit, die allerdings so kalt nicht mehr ist, bereit sein, all die Opfer zu bringen, die bei minutiöser Umsetzung des Phönix-Programms auf uns zukommen? Werden wir uns verabschieden wollen von unserem bequemen, aber für die Umwelt so verhängnisvollen Lebensstil? Werden Wirtschaft und Politik letztlich und der Vernunft gehorchend den Forderungen nachgeben nach einem Ende der Globalisierung und des Welthandels, dem riskanten, noch nicht ausgereiften Climate Engineering, rigoroser Geburtenkontrolle und ebensolcher Umstellung der Landwirtschaft, um nur einige Punkte des hier zwar fiktiven, aber zwingend logischen Phönix-Programms anzuführen? Sind sie, sind wir klug und mutig genug, all die gravierenden Änderungen in unserem Leben anzugehen, die zwangsläufig kommen müssen?
Bleiben wir hoffnungsvoll! Es geht um den Fortbestand unserer Zivilisation – um nicht mehr und nicht weniger! Veränderte Bedingungen ziehen veränderte Verhaltensweisen nach sich. Der störrische Robert hat das kapiert – und seine Tochter sowieso! Sie ist bereit, eine vielversprechende, couragierte Vertreterin der jungen, der Fridays-for-future – Generation. Und genau auf dieser Generation dürfen all unsere Hoffnungen ruhen. Aufgeben, verzagen, den Kopf in den Sand stecken ist keine Option. Und so durfte mitten im Chaos der Roman auch optimistisch enden! Ja, er musste es sogar, denn ohne Hoffnung gibt es keine Zukunft. Für niemanden! Und es gibt keine Zukunft ohne Veränderungen. Das müssen die Alten mit ihrem verkrusteten, rückständigen Denken von den zornigen jungen Leuten, die sich ihre Zukunft nicht nehmen lassen wollen, lernen.
Und obwohl der Autor in einem Interview mit Deutschland Radio Kultur sagte, dass sein Roman 'keine Message' hätte, dass er einfach nur das sehr wahrscheinliche Szenarium einer nahen Zukunft beschreiben wollte, habe ich den Roman als einzigen Weckruf auch an die Verstocktesten gelesen. Und zu denen gehören an vorderster Front Bürokratien, Regierungen und die gierige, geld- und machthungrige Wirtschaft. Möge es nicht erst der anrollenden Katastrophe bedürfen, um sie aufwachen zu lassen!