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Veröffentlicht am 10.09.2020

Verschwörung gegen Fidelitas von Frauenalb

Hexenglut
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Titel und Cover verraten es unzweideutig! Es geht um Hexen oder vielmehr jene bedauernswerten Frauen, die als solche verunglimpft und angeklagt wurden. Und wenn man die Autorin kennt, kann man schon beklommen ...

Titel und Cover verraten es unzweideutig! Es geht um Hexen oder vielmehr jene bedauernswerten Frauen, die als solche verunglimpft und angeklagt wurden. Und wenn man die Autorin kennt, kann man schon beklommen ahnen, dass sie ihren begierigen Lesern einiges an Erschröcklichem zumuten wird!

Und in der Tat ist die Hexenverfolgung, die zwischen 1550 und 1650, also in etwa zu der Zeit, in der Simone Dorras historischer Kriminalroman angesiedelt ist, in Mitteleuropa ihren Höhepunkt erreichte, sicherlich eines der dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte. In einer Zeit, da Dinge wie Krieg, Klimaveränderung, Hunger und Entbehrungen, Seuchen und Massensterben für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung weder rational noch gar wissenschaftlich erfassbar war, wurden Sündenböcke gesucht – und gefunden! Hexen mussten es gewesen sein ( und, das sollte nicht unerwähnt bleiben, Juden, die ewig Verfolgten und Verfehmten ), die mit ihrem Schadzauber Unheil heraufbeschworen hätten! Und da der Stand der Frau in der Gesellschaft in jenen düsteren Tagen ohnehin ein schlechter war, Angehörige des weiblichen Geschlechts als Menschen zweiter Klasse galten, ab ihrer Verheiratung Eigentum ihres Mannes waren und sich sowieso in die ihnen zugewiesenen Rollen zu fügen hatten, insgesamt also keinerlei Lobby besaßen, war die Verfolgung derjenigen unter ihnen, die sich nicht ins Schema einpassen konnten oder wollten, vorprogrammiert! Nichts leichter, als den Selbstbewussten in ihrer Mitte, denjenigen, die sich beispielsweise mit Heilpflanzen auskannten, solchen, die als Hebammen arbeiteten, den Unverheirateten oder gar denen, die ohne verheiratet zu sein ein Kind bekamen, einen Denkzettel zu verpassen, sie kurzerhand der Hexerei zu beschuldigen und sich ihrer zu entledigen – aus reiner Bösartigkeit, Neid, Hass und anderen niederen Beweggründen mehr, oder aber tatsächlich in der festen Überzeugung, dass alle Unbillen, mit denen man gestraft war, auf ihre Hexenkunst und ihren Bund mit dem Leibhaftigen zurückzuführen seien.

Wem aber war die Protagonistin in Simone Dorras „Hexenglut“ ein Dorn im Auge? Was hatte sie, die Kräutermeisterin des Klosters Frauenalb, sich zuschulden kommen lassen? Gewiss, die junge Nonne, die von ihrer ihr wohlgesonnenen Äbtissin, Katharina von Bettendorf, mit dem Tuchhändler Vinzenz Stöcklin nach Freiburg gesandt wurde, um sich um dessen aus unerklärlichen Gründen leidende Ehefrau Regula zu kümmern, tritt selbstsicher und aufrecht auf, nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn ihr etwas falsch oder ungerecht erscheint und vertritt ihre Meinung, auch wenn diese so manchem Zeitgenossen nicht behagt. Aber ist dies ein Grund, sie, eine Klosterfrau, der Hexerei zu beschuldigen, sie den von ihrer eigenen Bedeutung berauschten Ratsherren und damit dem unaufhaltsamen Prozess der jedweder Anschuldigung folgenden Folterungen, die sich durch besondere Grausamkeit auszeichneten, und einem unvermeidlichen Tod auf dem Scheiterhaufen auszuliefern? Nun, während der Hoch-Zeit des Hexenwahns reichten freilich schon Kleinigkeiten, nicht begründete Anschuldigungen, um sich unliebsamer Mitmenschen als vermuteter Teufelsbündler zu entledigen....

Was aber Fidelitas anbelangt, so stieß der sanfte Einfluss, den sie auf Vinzenz Stöcklins Vater, Heinrich, ausübte, bei dessen verschlagenem Beichtvater Paulus Mayr, einem fanatischen Anhänger des unsäglichen, damals viel gelesenen Werkes des ebenso fanatischen und rachsüchtigen Mönchs Heinrich Kramer, „Malleus Maleficarum“ - „Der Hexenhammer“ -, auf größten Unwillen, zumal er dazu führte, dass ihm, dem Priester mit der schwarzen, von Hass zerfressenen Seele, die Rolle des Beichtvaters – und damit ein erkleckliches, wiewohl unverdientes, Einkommen – gekündigt wurde. Als sich die Ereignisse im Hause Stöcklin überschlagen und kurz hintereinander zuerst der Senior Heinrich und dann auch seine ihm Angetraute Gundis, die ein strenges Regiment führte sowohl in familiären als auch in geschäftlichen Angelegenheiten, tot aufgefunden werden, sieht der unheimliche Beichtvater seine Stunde gekommen und nimmt Rache an der jungen Nonne, dank deren Heilkunst die Hausherrin Regula inzwischen auf dem Wege der Genesung ist, und beschuldigt sie völlig grundlos des Mordes an den beiden Stöcklins und obendrein auch noch der Hexerei. Nun beginnt Fidelitas Leidensweg, den Simone Dorra erschreckend realistisch und gleichzeitig einfühlsam schildert, dabei niemals einer möglichen Versuchung erliegend, die Sensationslust der eher blutrünstig veranlagten unter ihrer Leserschaft zu bedienen.

Und während Fidelitas verzweifelt und nicht verstehend der Dinge harrt, die unaufhaltsam ihren Gang nehmen, treibt der niemals explizit genannte, dem Leser aber dennoch schon frühzeitig bekannte Bösewicht, der all die der Nonne angelasteten Untaten zu verantworten hat, weiterhin sein gewissenloses Spiel – bei dem er durchaus als Sieger hätte hervorkommen können, wenn da nicht ein mutiges junges Liebespaar gewesen wäre, dem das Schicksal der so hilfreichen Nonne nicht gleichgültig war und dessen Verdacht sich sehr bald schon auf den wahren Schurken richtet!

Doch halt! Da ist nämlich noch jemand! Ein gewisser Juan Alvarez de Santa Cruz y Fuego, seines Zeichens verwegener Landsknecht und ehemaliger Söldner in den Diensten vieler Herren, die schillerndste, zwiespältigste, beeindruckendste Persönlichkeit – ein typischer, ein unvergesslicher Simone Dorra – Held! - des Romans, derjenige, dem gewiss die uneingeschränkte Sympathie gar manchen Lesers respektive Leserin gilt. Er und die junge Nonne sind alte Freunde, man könnte auch sagen, dass Fidelitas von Frauenalb die Achillesferse des so zwielichtigen wie hartgesottenen Haudegens mit dem weichen Herzen ist. Ein Fürsprecher, wie man ihn sich in jedweder Not nur wünschen kann! Gemeinsam mit Vinzens Stöcklins Tochter Veronika und deren heimlichem, weil nicht standesgemäßem Freund, dem Uhrmacherlehrling Jörg Danner, schmiedet er einen abenteuerlichen Plan, um die Nonne zu retten und gleichzeitig dem wahren Schurken das verbrecherische, das niederträchtige Handwerk zu legen...

Summa summarum: auch dieser Roman, im übrigen der zweite Band um die ehemalige Oblate Fidelitas, Kräutermeisterin ihres Klosters, überzeugt auf ganzer Linie! Er ist, wie alles, was die Autorin ihren Lesern vorlegt, so mitreißend geschrieben, dass man ihn kaum aus der Hand legen mag, die klug ersonnene Handlung hat Tiefe wie auch das nötige historische Flair vor realem Hintergrund und besticht mit immer wieder aufs Neue überraschenden Entwicklungen. Besonders hervorzuheben sind die, wie bei Simone Dorra nicht anders zu erwarten, eingängigen, immer überzeugenden Charaktere, im Guten wie im Bösen, die ich während der Lektüre allesamt mühelos mit Gesichtern und Stimmen versehen konnte, die sich aus Worten vor meinem inneren Auge materialisiert haben: die Peiniger und Niederträchtigen mit ihren hasszerfressenen Fratzen oder aber langweiligen Spießbürgergesichtern; die Freundlichen und Wohlmeinenden, die Courage zeigen und auch über den eigenen Tellerrand hinausblicken und die um eines Mitmenschen willen etwas wagen, das fatale Folgen nach sich ziehen könnte; die Schwachen mit ihren vagen Gesichtszügen und unscharfen Konturen; die Klatschsüchtigen mit aufgeregtem Funkeln in den Augen, wenn sie etwas wittern, das weitergegeben werden und sie für einen Moment interessant machen kann; und nicht zuletzt die verwegenen Abenteurer, die die Schurken ohne mit der Wimper zu zucken ins Jenseits befördern, deren Herz aber für diejenigen schlägt, die unverschuldet in Lebensgefahr gebracht worden sind. Ein ganzes Kaleidoskop von Charakteren versammelt die Autorin in diesem so spannenden wie makellos geschriebenen und nach guter alter Tradition erzählten Roman, der sicherlich nicht nur mir ein wahres Leseabenteuer beschert hat!

Veröffentlicht am 17.07.2020

Zeitloses Meisterwerk der Kinderliteratur

Pünktchen und Anton
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Auch 56 Jahre nach seinem Tod erfreuen sich vor allem die Kinderbücher des Moralisten und skeptischen Optimisten Erich Kästner, der sich selber viel eher als Gebrauchslyriker sah, unverminderter Beliebtheit. ...

Auch 56 Jahre nach seinem Tod erfreuen sich vor allem die Kinderbücher des Moralisten und skeptischen Optimisten Erich Kästner, der sich selber viel eher als Gebrauchslyriker sah, unverminderter Beliebtheit. Gewiss, das mag auch an den unzähligen, teils wagemutigen, Adaptionen fast aller seiner Werke liegen – von „Emil und die Detektive“ allein gibt es inzwischen acht Verfilmungen, von Theaterstücken, sogar Musicals ganz zu schweigen! -, doch letzten Endes sind es doch die Botschaften, die humanistische Grundhaltung und der unerschütterliche Humor des Schriftstellers, der zeitlebens ein sozial denkender und empfindender Mensch war, jemand, für den Tugenden wie Anständigkeit, Mut, Treue, Toleranz, Solidarität, Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft beileibe nicht nur Worte waren, die seine Kinderliteratur, wie überhaupt alles, was er zu Papier gebracht hat, durchzogen und über ihe Zeit hinaus wirksam bleiben lassen!
Lehrer wollte er werden, schon als kleiner Junge, doch entschied er sich um, sagte später einmal, dass ihm im Lehrerberuf die Kinder zu nahe seien; erstaunlich also, dass er, auf Anraten seiner Verlegerin, mit dem Schreiben gerade von Kinderbüchern begann - „Emil und die Detektive“ war das erste und hatte einen durchschlagenden Erfolg -, in denen er den Kindern so nahe war, wie nur denkbar, in denen er sich nicht nur – lebenslanges Kind, das er war – als profunder Kenner von Kinderseelen erwies, sondern, sich der Formbarkeit des kindlichen Charakters sehr bewusst, stets auch an sie appellierte, die Welt ein klein wenig besser zu machen!
Ja, der moralische Zeigefinger des Herrn Kästner wird in all seinen Büchern erhoben, durchzieht seine Lyrik, weniger anklagend als vielmehr nachdenklich, mahnend, hoffend, dass seine Appelle nicht auf taube Ohren stoßen mögen. Botschaften sind sie – und in keinem seiner Bücher wird das so deutlich wie in „Pünktchen und Anton“, seinem zweiten Kinderbuch, 1931 erstveröffentlicht, vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und dem herannahenden Weltensturm, dem auch er, dem auch seine Werke zum Opfer fallen sollten. Doch davon ist in dem hier zu besprechenden Roman nichts zu ahnen; Kriege und all das Hässliche, das sie mit sich bringen, ist nichts, was er den Kindern zumuten wollte.
Armut freilich wird immer wieder in Kästners Geschichten thematisiert, lapidar beinahe und ganz und gar nicht larmoyant, und seine jungen Protagonisten kommen gewöhnlich nicht aus Familien, die im Überfluss leben sondern wachsen bei zumeist nur einem Elternteil auf, der ums Überleben kämpfen muss. Anton, einer der beiden Hauptcharaktere unsrer Geschichte, eine ganz typische Kästner-Figur, ein Junge nämlich mit Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein, mutig, zuverlässig und gutherzig, gehört zu der wenig privilegierten Bevölkerungsschicht im Vorkriegsberlin. Er lebt alleine mit seiner Mutter, zu der er eine außerordentlich enge und liebevolle Bindung hat und die seit einiger Zeit schwer erkrankt ist, weshalb Anton sich neben der Schule ( dass er nicht nur ein Musterknabe sondern auch ein Musterschüler ist, ist klar bei Erich Kästner! ) um den Haushalt kümmern muss. Er tut das klaglos, denn er liebt seine Mutter – so wie dereinst der Autor die seine. Die biographischen Bezüge sind nicht zu übersehen! Doch Antons Sorgen erdrücken ihn langsam, denn durch die Krankheit der Mutter ist auch kein Verdienst da, weshalb der Junge des Nachts betteln geht. Und, Glück im Unglück, dabei lernt er die mit Witz, Herz und Phantasie gesegnete Pünktchen kennen, die eigentlich Luise Pogge heißt und ebenfalls bettelt, gemeinsam mit ihrem Kindermädchen, dem Fräulein Andacht.
Wie? Was? Ein Kinderfräulein hat die pfiffige Kleine – und muss betteln? Naja, das muss sie natürlich nicht, denn Pünktchens Vater ist reich, besitzt eine Spazierstockfabrik, kann ihr also jeden Wunsch erfüllen. Dennoch findet man die zaundürre Andacht und ihren Schützling jede Nacht auf einer wohlfrequentierten Berliner Brücke! Des Rätsels Lösung: Fräulein Andacht hat einen gar zwielichtigen Bräutigam, „Robert der Teufel“ hat die pfiffige Kleine ihn getauft, - und dieser unsympathische Zeitgenosse erpresst das Fräulein, verlangt ständig Geldzuwendungen von ihr. Und als sei das noch nicht genug lässt er sich von dem verblendeten Fräulein einen genauen Plan der Poggeschen Wohnung zeichnen, die er auszurauben gedenkt. Zum Glück aber kommt Anton, der längst dicke Freundschaft mit dem ulkigen Mädchen geschlossen hat, das seine Einsamkeit durch Schlagfertigkeit und selbstbewusstes Auftreten zu kompensieren sucht, denn seine Eltern sind zwar reich, interessieren sich aber nicht für ihr Kind, zu sehr sind sie mit dem Geldverdienen ( der Vater ) und dem Geldausgeben ( die Mutter ) beschäftigt, hinter den perfiden Plan und weiß ihn zu vereiteln. Ja, und dann überschlagen sich die Ereignisse, zumal Pünktchens Vater von dem unsympathischen und verschlagenen Nachbarsjungen Klepperbein erfahren hat, was seine Tochter des Nachts alles anstellt und daraufhin zu überraschenden, aber durchaus befriedigenden Einsichten gelangt und prompt Entscheidungen fällt, mit denen alle Beteiligten am Ende mehr als zufrieden sein können....
Eigentlich geschieht gar nicht sehr viel in der so bezaubernden wie warmherzigen Geschichte um Pünktchen und Anton, könnte man bei oberflächlichem Lesen meinen – was man tunlichst vermeiden sollte, denn hier ist es unabdingbar, zwischen den Zeilen zu lesen, genau hinzuschauen auch, was uns der Herr Kästner in seinen insgesamt sechzehn „Nachdenkereien“, die sich jedem Kapitel anschließen und sich aus diesem ein Thema, einen Satz, eine vielleicht nur beiläufige Bemerkung herauspicken, um darüber zu sinnieren und philosophieren, mitzuteilen hat. Diese „Nachdenkereien“, mit denen sich Kästner direkt an die Leser wendet – und die er ihnen im Übrigen freistellt zu lesen oder einfach zu überblättern -, handeln zum Beispiel von der Pflicht, von Stolz, von der Phantasie, vom Mut oder von der Neugierde und sind es unbedingt wert, aufmerksam gelesen zu werden. Sie machen dieses Buch zu etwas ganz besonderem, fassen Kästners gesamtes Ethos zusammen, können prägend sein – worauf er hofft! - für seine jungen Leser. Er spricht das für ihn Wesentliche unmittelbar an, kann dabei beißend kritisch sein, nennt das Kind, um im Bilde zu bleiben, beim Namen – vielleicht ist das der verhinderte Lehrer in ihm... -, ist mal ernst und mahnend, dann wieder humorvoll und augenzwinkernd-liebevoll. Das tut er auf seine ganz besondere Art, in seiner ganz besonderen, ausgefeilten, geschliffenen, dabei geschmeidigen und federleichten Sprache, der man den ehemaligen Feuilleton-Redakteur anmerkt, den begnadeten Lyriker, und die er bis zur Perfektion beherrscht.
Fazit: Auch 90 Jahre nach seinem Erscheinen ist „Pünktchen und Anton“ so aktuell wie eh und je – die grundsätzlichen Werte verschieben sich vielleicht minimal, so bleibt zu hoffen, aber sie verjähren und verfallen nicht, denn sie sind Pfeiler in einem menschlichen Miteinander. Und es ist nichts Verwerfliches daran, wenn ein moralischer Zeigefinger, zudem wenn dieser Erich Kästner gehört, ruhig immer wieder einmal daran erinnert!

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Veröffentlicht am 08.07.2020

Einmal mehr wider das Vergessen

Die Lilienbraut
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Hin und wieder begegnet auch dem anspruchsvollsten Leser ein Buch, das ihn von der ersten Seite an gefangennimmt, das ihn mitreißt und gleichsam Teil der Geschichte werden lässt, zutiefst berührt, und ...

Hin und wieder begegnet auch dem anspruchsvollsten Leser ein Buch, das ihn von der ersten Seite an gefangennimmt, das ihn mitreißt und gleichsam Teil der Geschichte werden lässt, zutiefst berührt, und ihn noch lange, nachdem er den Roman zugeklappt hat, begleiten wird. Die hier zu besprechende Geschichte ist ein solcher Roman, ein Glücksfall, regt er doch ebenso zum Nachdenken an wie er Emotionen weckt, die sich zwischen Empörung, Entsetzen und Fassungslosigkeit, Traurigkeit, Mitgefühl und Mittleiden und immer wieder auch Hoffnung und zu guter letzt reiner Freude bewegen, bedient also ein ganzes Spektrum von Gefühlen.
Denn sie kann den Leser nicht kalt und unbeteiligt lassen, diese Geschichte, die die Autorin auf zwei Zeitebenen spielen lässt, die ein hervorragend gemeisterter Balanceakt zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist, deren Verknüpfung ihr, wie nicht anders zu erwarten, kennt man ihre Bücher denn, auf das Befriedigendste gelungen ist. Sie erzählt von einer großen Liebe, einer, die nicht sein darf, nicht damals und nicht heute, und an der die Protagonistin Nellie trotz aller Zerrissenheit und geplagt von Selbstzweifeln unbeirrbar festhält. Er erzählt von außerordentlicher Zivilcourage, von Mut und Entbehrungen in einer Zeit, die keiner von uns je ( wieder ) erleben möchte, schildert sehr authentisch die Schrecken eines so unsinnigen wie verbrecherischen Krieges, der, wie alle Kriege dieser Welt, Millionen unschuldiger Menschenleben kostete und weder aus den Geschichtsbüchern noch aus dem Gedächtnis der Nachgeborenen wie aus dem kollektiven Gedächtnis der Nation, von der dieser Krieg ausging, und dem der gesamten Menschheit ausgelöscht werden darf.
Wider das Vergessen schreibt Teresa Simon an, unermüdlich und unerschrocken, hier wie auch in ihren bereits zuvor veröffentlichen Romanen, mahnend, erinnernd, warnend, in Angst angesichts der gefährlichen Strömungen innerhalb der heutigen Gesellschaft, die berechtigten Anlass zur Sorge geben, erinnern sie doch fatal an die Geschehnisse, die vor beinahe neunzig Jahren ihren Lauf nahmen und ungebremst in einem Weltensturm endeten. Und sie tut dies keineswegs mit erhobenem Zeigefinger, gibt uns vielmehr Einblick in das Schicksal einer Handvoll fiktiver Personen, lässt die zunehmend bedrückende und beängstigende Atmosphäre der fünf letzten Kriegsjahre durch ihre intensive Art des Erzählens für den aufmerksamen und einfühlsamen Leser unmittelbar erfahrbar werden.
Doch der Roman hat noch viel mehr zu bieten, beschäftigt er sich doch keineswegs ausschließlich mit einer düsteren Zeit, die für Nellie auf ihrer Zeitebene kein glückliches Ende bereithalten konnte. Denn auf der zweiten Zeitebene, die im Hier und Heute angesiedelt ist, kommt die so dringend notwendige Leichtigkeit zum Tragen, das Gegengewicht! Licht und Schatten – beides ist untrennbar miteinander verbunden. Im Köln der Jetztzeit begegnet der Leser nämlich Liv, einer jungen Holländerin, die eine testamentarische Verfügung in die Heimatstadt ihrer Großmutter Nellie verschlagen hat und die sich hier ihren Traum erfüllt – die Eröffnung einer exklusiven kleinen Parfümerie. Liv ist ganz Kind ihrer Zeit, von dem früheren Leben und Schicksal ihrer Großmutter, das sich in ebendiesem Köln erfüllte, ahnt sie nichts, es ist ihr zunächst auch nicht sonderlich wichtig. Sie lebt ganz in der Gegenwart, Wurzeln besaßen nie eine Wichtigkeit für sie – darin so vielen jungen Menschen heutzutage nicht unähnlich. Durch eine Reihe von Begegnungen und fürs erste unerklärlichen Begebenheiten jedoch wird Liv aufmerksam, erkennt, dass kein blinder Zufall sie in die Stadt geführt hat, in der ihr Vater geboren wurde, wird immer neugieriger auf ihre Wurzeln und ganz allmählich erkennt sie deren Bedeutung nicht nur für sich selbst, sondern für uns alle. Wurzeln prägen uns, ob wir das nun wollen oder nicht, sie geben Sicherheit und Halt, sind Heimat und weisen uns unsren Platz im Leben zu. Wie kann Zukunft gelingen, wenn man sich seiner Wurzeln nicht bewusst ist?
Auch dies klingt immer wieder aus Teresa Simons Roman nicht nur heraus, sondern ist gewissermaßen die Melodie, die ihn durchzieht. Wurzeln verbinden die zweite Erzählebene mit der ersten, so wie es die Düfte tun, die hier wie dort über der Handlung schweben. Beide Frauen, die mutige und so stark empfindende Nellie der Kriegsjahre und ihre Enkelin, die eher unbeschwerte, aber, je näher sie dem Geheimnis der Großmutter kommt, je stärker sie erkennt, wer sie ist, an Tiefe und Format zusehends gewinnende Liv im zweiten Jahrtausend, sind mit einer besonders feinen Nase gesegnet, haben einen ebenso feinen Sinn für Düfte, deren Zusammensetzungen, Eigenschaften und Kreationen, zugeschnitten auf ihre jeweilige Trägerin...
Und so gibt es immer wieder Parallelen, Berührungspunkte zwischen den beiden Handlungsebenen – bis schließlich eine feste Brücke erbaut ist zwischen Damals und Heute, die verbindet und versöhnt, weil sie verstehen und Dinge, die damals unverzeihbar schienen, ein einem neuen Licht sehen lässt.
Summa summarum: Teresa Simons „Lilienbraut“, dessen Titel sich im Übrigen während des Lesens ganz von alleine erklärt, ist eine unbedingt lohnenswerte Lektüre! Nicht nur erzählt sie eine Geschichte, die berührt, die geradezu unter die Haut geht, erschafft dabei außer den beiden Protagonistinnen Nellie und Liv noch eine ganze Reihe weiterer unvergesslicher Charaktere in den schillerndsten Facetten, sondern ist darüber hinaus auch noch richtig gut, ich möchte fast sagen makellos, geschrieben. Auch als kritische Leserin kann ich kein Fehl daran finden, nichts auch, was der Logik oder Spannung entbehren würde. Zudem befriedigt mich die Art und Weise der Autorin zutiefst, über den weiteren Lebensweg der beiden Handlungsträgerinnen gerade so viel anzudeuten, dass jeder Leser ihn für sich weiterdenken kann – folgerichtig, wenn er denn auch auf die kleinsten Nuancen der Geschichte geachtet hat - ,ohne sich in wilde Spekulationen ergehen zu müssen. Auch hier hat die Autorin genau das rechte Maß gefunden!

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Veröffentlicht am 05.07.2020

Als das Volk sich gegen den Staat erhob

Der Tag X
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Vor dem Hintergrund der dramatischen Ereignisse, in der noch jungen DDR, die am Tag X, dem 17. Juni 1953 in einem Aufstand weiter Teile der Bevölkerung kulminierten, lässt uns Titus Müller in seinem Roman ...

Vor dem Hintergrund der dramatischen Ereignisse, in der noch jungen DDR, die am Tag X, dem 17. Juni 1953 in einem Aufstand weiter Teile der Bevölkerung kulminierten, lässt uns Titus Müller in seinem Roman teilhaben an den Schicksalen einer Handvoll Menschen, deren Leben dadurch nachhaltig beeinflusst wurde. Er tut dies auf eine Weise, die den Leser in atemlose Spannung versetzt, die mitreißt, die aber auch verstört und bedrängt, die jedoch gleichzeitig tiefe Einsichten in eine Zeit vermittelt, die, so möchte man sich am Ende dankbar sagen, der Vergangenheit angehört! Unserer Vergangenheit, mit der ein weiteres unrühmliches Kapitel in die Geschichtsbücher geschrieben wird.
Der Autor versteht es grandios, geschichtliche Fakten, Informationen zur damaligen politischen Lage im Ostblock als auch im Westen mit einer Romanhandlung zu verknüpfen, die den Leser lange nicht loslassen wird. Er zeigt Schritt für Schritt, fast analytisch, und immer nachvollziehbar, die Gründe auf, die zur Erhebung des Volkes führten.
Noch jung ist sie, die Deutsche Demokratische Republik, der Zweite Weltkrieg mit all seinen Gräueln ist vor gar nicht langer Zeit zu Ende gegangen. Die Menschen könnten aufatmen, in Freiheit weiterleben... Ja, im Westen des geteilten Deutschlands begann tatsächlich eine neue, eine bessere Zeit, die Entbehrungen der Kriegsjahre sind vorüber. Nicht so im sowjetisch besetzten Deutschland! Mangel, Repressalien, Schikane, Bespitzelung sind an der Tagesordnung. Vorsichtig müssen sie sein mit dem was sie sagen und tun, die Werktätigen, Angst ist ihr ständiger Begleiter. Allenthalben herrscht Unsicherheit. Das Volk wird immer unzufriedener....
In der geteilten Stadt Berlin lernen wir Nelly kennen, eine junge Frau, deren Vater kurz nach dem Krieg in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zusammen mit anderen Wissenschaftlern in die UdSSR deportiert wurde. Ein einschneidendes Erlebnis, das Nelly geprägt hat. Sie ist aufmüpfig. Sie unterwirft sich dem sozialistischen System nicht, sie lässt sich ihre Überzeugungen nicht nehmen... Dafür nimmt sie erhebliche Nachteile in Kauf! Dann ist da Wolf, ein junger Uhrmacher, der sich in Nelly verliebt. Er ist Kind des Systems, kann Nellys Handlungen nicht verstehen. Doch - auch er kann über sich hinauswachsen.... Doch noch ein weiterer Mann interessiert sich für Nelly: der schillernde, rätselhafte Ilya, ein junger Russe, der im Dienste Moskaus steht. Welche Verbindung besteht zwischen den beiden? Um diese drei Hauptakteure bewegen sich eine Reihe weiterer Charaktere: Eine adlige alte Russin, die es in den Zwanziger Jahren nach Berlin verschlagen hat. Lotte, eine alleinerziehende Mutter dreier Söhne aus Halle, deren Mann sich in den Westen abgesetzt hat und die unversehens in den Strudel um den Tag X hineingezogen wird. Ihr Vetter, ein junger Doktorand an der Universität Halle und dessen unzufriedene Frau.. Die beiden geraten unfreiwillig in die Demonstrationen der Aufständischen Und schließlich ein Hauptfeldwebel, mit dem die einsame Lotte eine Beziehung eingehen möchte.... Noch einige Nebenfiguren gesellen sich hinzu, die ein für die damalige Zeit repräsentatives Kaleidoskop bilden.
Mit "Der Tag X", spannend wie ein Kriminalroman mit Elementen aus Spionageroman, aus Drama und Tragödie, ist Titus Müller ein wahres Meisterwerk gelungen, das auch sprachlich eine Ausnahmestellung einnimmt. Eine Empfehlung für jeden, der Wert legt auf guten Stil und differenzierte Ausdrucksweise - und natürlich für alle, die ein wichtiges Stück Zeitgeschichte verstehen lernen wollen!

Veröffentlicht am 21.06.2020

Dem Wohle der Kreatur verpflichtet

Das geheime Leben der Kühe
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Als die Engländerin Rosamund Young ihr Büchlein mit dem an den Peter Wohlleben – Bestseller erinnernden, aber ganz und gar nichts mit jenem zu tun habenden Titel „The Secret Life of Cows“ ( deutsch: „Das ...

Als die Engländerin Rosamund Young ihr Büchlein mit dem an den Peter Wohlleben – Bestseller erinnernden, aber ganz und gar nichts mit jenem zu tun habenden Titel „The Secret Life of Cows“ ( deutsch: „Das geheime Leben der Kühe“ ) 2003 in einem kleinen Landwirtschaftsverlag erstmals veröffentlichte, blieb es weitgehend unbeachtet – um erst einige Jahre später mit umwerfendem Erfolg neu aufgelegt zu werden! Aber dazu kam es erst, nachdem die Sammlung kleiner, mehr oder minder zusammenhängender Geschichten, gleichsam Anekdoten, in denen die Autorin, ihre Erlebnisse mit den unzähligen Kühen zusammenfasst, die sie auf der Kite's Nest Farm in den Cotswolds, mitten im grünen Herzen Englands, Gelegenheit hatte zu beobachten, in den Tagebüchern des Schriftstellers Alan Bennett in den höchsten Tönen gelobt worden war! Plötzlich war die Engländerin, die sich selbst ganz unprätentiös und selbstkritisch keineswegs als Schriftstellerin sieht, sondern nur auf ihrer Musterfarm für artgerechte Tierhaltung in ihrem Element ist – und dies, nebenbei gesagt, bereits seit allerfrühester Kindheit -, in aller Munde!
Da muss man sich schon neugierig fragen, was so besonders ist an diesem schmalen Buch, das einen solchen Erfolg rechtfertigt, das vom Spiegel zum Tierbuch des Jahres 2018 gekürt wurde und von ihm in einem Artikel aus demselben Jahr folgendermaßen beschrieben wurde: „ Es ist ein friedliches, unspektakuläres Buch. Eines, das seine Leser für die Zeit der Lektüre ohne viel Aufhebens in eine bessere Welt mitzunehmen vermag“. In der Tat! Genau diese Gefühle kamen auch mir beim Lesen. Und wenn der Guardian schreibt „niemand, der dieses Buch gelesen hat, wird Kühe so sehen, wie zuvor“, so ist auch dieser Aussage zuzustimmen!
Eindringlich macht Rosamund Young mit ihren Geschichten klar, dass Kühe nicht einfach nur eine Ware sind, sondern vielmehr Individuen mit ganz eigenem Charakter, die miteinander kommunizieren, Beziehungen, ja regelrechte Freundschaften eingehen, die sich liebevoll um ihren Nachwuchs kümmern – lässt man sie denn! -, ihn erziehen, die, wie wir Menschen auch, ihre Launen haben, ihre Vorlieben und Abneigungen. Kurz gesagt, sie sind Persönlichkeiten, die mit Respekt und Achtsamkeit zu behandeln sind!
Kite's Nest Farm ist ein Begriff in der ökologischen Landwirtschaft Englands, ein vorbildlicher Betrieb, der in den Fünfzigern von den Eltern der heutigen Besitzer, Rosamund Young und ihrem Bruder Richard, sorgfältig aufgebaut wurde, die sich bereits damals, als diese Art von Landwirtschaft noch kaum bekannt war, vor allem dem Tierwohl verpflichtet fühlten und niemals intensive Tierhaltung betrieben haben, die die Ausbeutung von Nutztieren kategorisch ablehnten. Die ihnen anbefohlenen Tiere – denn so sehen sie sie -, vor allem Kühe, aber auch Schafe, Schweine und Hühner, die auch ihre Auftritte haben in Youngs Buch, dürfen sich auf dem weitläufigen Terrain der Farm frei bewegen, dürfen sich ihre Nahrung ( und wer da meint, Kühe wären keine Feinschmecker, der wird bald eines besseren belehrt! ) ebenso aussuchen wie ihre Schlafplätze, und die Kälber dürfen so lange bei ihren Müttern bleiben, wie sie mögen.
Aber Rosamund Youngs Buch ist nicht nur ein Plädoyer für artgerechte Tierhaltung in England, was im Übrigen niemals anklagend, niemals mit erhobenem Zeigefinger vorgetragen wird, sondern es ist viel mehr! Es ist eine herzerwärmende Lektüre, denn aus jeder Zeile spürt man die Liebe Youngs zu all den Kuh-Persönlichkeiten auf Kite's Nest, die samt und sonders Namen tragen, sie als einzigartig kennzeichnend, und an die sie sich mit untrüglichem Gedächtnis auch nach vielen Jahren erinnert. Es ist, um es auf den Punkt zu bringen, die Summe eines Lebens mit Tieren, der Verantwortung für sie und ihr Wohlergehen, die geradezu eine Verpflichtung ist, hat eine Laune der Evolution den Menschen doch in eine Position erhoben, für das Wohl und Wehe der ihm anbefohlenen Geschöpfe Sorge zu tragen und Leid von ihnen abzuwenden. Dass sie, Rosamund, diesen Auftrag ernst nimmt, ganz selbstverständlich, ist die Quintessenz ihrer Anekdotensammlung, der allzu kritische Stimmen einen ausgeprägten Anthropomorphismus vorwerfen, ebenso wie das Aussparen der Tatsache, dass Kite's Nest als wirtschaftlicher Betrieb vorwiegend vom Verkauf des Fleisches der geliebten, gehegten Rinder lebt, dass also deren Lebensspanne begrenzt ist. Nun, das muss man so stehen lassen – wobei ich keinesfalls glaube, dass die Autorin irgendetwas beschönigen wollte, indem sie das, was offensichtlich ist, nicht thematisierte. Ihr Anliegen war ganz sicher nicht, das Leben der Kühe von der Geburt bis zu ihrem Tod zu beschreiben, sondern vielmehr Ausschnitte zu zeigen, Dinge niederzuschreiben, die ihr im Gedächtnis geblieben sind – und damit ihre Leser zu erfreuen und ihnen gleichzeitig vielleicht eine andere Sichtweise zu ermöglichen auf alle Tiere und ihre geliebten Kühe im besonderen. Auf dass die Welt eine bessere werde!

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