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Veröffentlicht am 03.05.2023

Jenseits vom Lindgren-Idyll

Die Überlebenden
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Wenn die Eltern sterben, beginnt womöglich ein erstes tiefes Betrachten der eigenen Kindheit. Erinnerungen sind aber immer gefärbt, weil wir sie im Jetzt abrufen, mit der Sicht auf eine Zeit, die Jahrzehnte ...

Wenn die Eltern sterben, beginnt womöglich ein erstes tiefes Betrachten der eigenen Kindheit. Erinnerungen sind aber immer gefärbt, weil wir sie im Jetzt abrufen, mit der Sicht auf eine Zeit, die Jahrzehnte zurückliegt.

Nachdem Vater ist nun auch die Mutter der drei Brüder Nils, Benjamin und Pierre gestorben. Gemeinsam wollen sie den letzten Wunsch der Mutter erfüllen und ihre Asche im See verstreuen, an dessen Ufer das Ferienhaus der Familie liegt. Hier haben sie ihre Sommer verbracht, mit angeln, schwimmen, faulenzen und Spaziergängen im Wald. Hier waren sie glücklich und hielten zusammen, hier waren sie aber auch traurig und unglücklich und haben trotzdem überlebt.

Geschickt läßt der Autor Schulmann die Geschichte rückwärtslaufen. Die 24 Stunden des Tages, an dem die Männer zum Sommerhaus zurückkehren, beginnt eine Minuten vor Mittnacht und wird dann in Kapiteln erzählt, die jeweils zwei Stunden zuvor gespielt haben. Darüber hinaus immer im Wechsel mit einem Kapitel aus der Kindheit. So erschließt sich langsam das Bild einer Familie, die wir so nicht erwartet haben. Eltern, die sich nur selten für die Kinder interessieren und ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung punktuell und ohne erkennbares Schema verteilen, oft unberechenbar agieren. Die Brüder, die sich gegenseitig stützen müssten, dies aber nicht immer schaffen und jeder für sich einen Fluchtweg aus diesem Drama sucht.

Der Roman ist voller Kummer und doch auch kleiner Glücksmomente. Gelegentlich scheint durch, wie es hätte sein können, wie man es sich für die Kinder gewünscht hätte. Mit der Reise zurück in die Kindheit am See versucht vor allem Benjamin, das mittlere Kind, die Vergangenheit und die Beziehung zu den Eltern zu verarbeiten. Er, der immer versucht hat, den Überblick zu behalten, über Geschwister und Eltern, schleppt seit Jahrzehnten eine unglaubliche Last mit sich herum.

Ein sehr eindringlicher Roman, der mich wahnsinnig traurig gemacht hat. Eine große Leseempfehlung völlig jenseits vom Lindgren-Idyll.

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Veröffentlicht am 08.03.2023

Der Platz im Leben

Der Platz
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Mein erster Roman von Annie Ernaux. Ich hatte ein wenig Angst vor der Lektüre, vor der nobelpreiswürdigen Art, in der Ernaux schreibt. Erinnerungen an ihren Vater, Episoden aus dem Leben der Familie. Eine ...

Mein erster Roman von Annie Ernaux. Ich hatte ein wenig Angst vor der Lektüre, vor der nobelpreiswürdigen Art, in der Ernaux schreibt. Erinnerungen an ihren Vater, Episoden aus dem Leben der Familie. Eine besondere Art des autobiographischen Schreibens. Und doch liest sich der Roman wunderbar flüssig. Die Sprache ist klar, ohne Schnörkel. Ernaux beschreibt, wie es war, das Leben als Tochter einfacher Ladenbesitzer. Den Vater, der nun kein Arbeiter mehr ist und um jeden Preis die gesellschaftliche Stellung als Laden- und Cafébesitzer behalten möchte. Der soziale Aufstieg der Tochter durch den Besuch der höheren Schule ist ebenso ausdrücklich erwünscht, wie gleichzeitig gefürchtet. Es tut sich ein Graben auf, eine Entfremdung setzt ein, die niemand möchte, die aber nicht verhindert werden kann. Die Sprache innerhalb der Familie und außerhalb, in der Schule, ist dabei nur ein Punkt, der oft zum Zankapfel wird (S.54).

Relativ emotionslos schreibt die Französin. Sie reklamiert für sich und ihren Roman einen sachlichen Ton. Und dennoch erscheint es mir sehr zart, wie Ernaux den Blick zurück in die Vergangenheit wirft, nach Yvetot, in den kleinen Ort in der Normandie, in dem sie aufwuchs.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Die vielen klugen Sätze, in denen mit wenigen Worten, so viel gesagt wird. Mein Exemplar des Romans ist voller Post-its. Der letzte klebt an dieser Stelle, an der deutlich wird, dass der soziale Aufstieg auch einen Verlust und Bedauern mit sich gebracht hat:

"Ich bin am Ende meines Vorhabens angekommen: das Erbe ans Licht holen, das ich an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste." (S. 93)

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Veröffentlicht am 26.02.2023

Seelensturm über den Schären

In blaukalter Tiefe
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Die Konstellation hat mich an Martin Walsers Novelle "Ein fliehendes Pferd" erinnert: Zwei Paare, ungleich, im Urlaub, auf dem Wasser, Fassaden die bröckeln, Leben die Risse bekommen. Kristina Hauff hat ...

Die Konstellation hat mich an Martin Walsers Novelle "Ein fliehendes Pferd" erinnert: Zwei Paare, ungleich, im Urlaub, auf dem Wasser, Fassaden die bröckeln, Leben die Risse bekommen. Kristina Hauff hat ihrem Roman noch mehr Konfliktpotential zugegeben: Der eine Mann (Andreas) ist der Chef des anderen Mannes (Daniel), und sie stehen daher in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einander. Es gibt eine fünfte Person in dieser Gruppe: Den rauen und unnahbaren Eric, den Eigner des Segelschiffes, auf dem die zwei Paare einen Urlaub in den schwedischen Schären verbringen wollen. Von Beginn an spielen alle ihre Rollen an Bord. Es herrscht eine angespannte Stimmung, die zunächst noch überspielt werden kann. Aber die beengten Verhältnisse, die kaum vorhandene Privatsphäre zerren schon recht bald an den Nerven aller. Und wie bei Walser schaukelt sich die innere Stimmung mit den Wellen immer höher, denn ein Sturm zieht auf und dieser Extremsituation sind nicht nur zwei Männer auf dem Bodensee ausgesetzt, wie bei Walser, sondern fünf Personen in den Schären.

Präzise nimmt Hauff ihre Figuren auseinander. Wie unter einem Mikroskop werden die Schwachstellen immer deutlicher eingestellt, je länger die Reise dauert. Hierbei ist Caroline, Andreas' Ehefrau, die komplizierteste Figur. Auch die anderen Charaktere sind gut getroffen und die Dialoge untereinander, die immer hitziger und vorwurfsvoller werden, sind wirklich glaubhaft und mitreißend. Die Autorin schreibt, als wäre man selbst in der Enge des Schiffes gefangen oder in steifer Segelkleidung an Deck dem Wetter ausgesetzt. Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Die Handlung wird abwechselnd aus der Sicht der vier "Urlauber" geschildert und bringt so das Innenleben der Charakter ans Licht. Nach diesem Törn wird sich das Leben für alle geändert haben.

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Veröffentlicht am 01.11.2022

Die Geheimnisse von Tall Oaks

Was auf das Ende folgt
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Ein kleines Kind verschwindet spurlos in einer überschaubaren kalifornischen Kleinstadt. Wie schon in seinem zuerst in Deutschland veröffentlichten Roman "Von hier bis zum Anfang" stehen auch in Whitakers ...

Ein kleines Kind verschwindet spurlos in einer überschaubaren kalifornischen Kleinstadt. Wie schon in seinem zuerst in Deutschland veröffentlichten Roman "Von hier bis zum Anfang" stehen auch in Whitakers Debüt ein Ort und seine Bewohner, ihre langjährigen Beziehungen sowie Lügen und Geheimnisse neben einem Kriminalfall im Mittelpunkt. In "Tall Oaks" (so auch der Originaltitel) scheint mit dem Vermisstenfall das Böse Einzug gehalten zu haben. Allerdings beschleicht einen bei der Lektüre langsam die Erkenntnis, dass es zumindest teilweise schon längst da war.

Kapitel für Kapitel lernen wir die Einwohner des Städtchens durch Alltagssituationen kennen, erfahren von ihren Nöten, Ängsten und Sorgen. Jim, der Polizeichef vor Ort, gibt auch nach Monaten die Suche nach dem verschwundenen Harry nicht auf und versucht Jess, die Mutter des Kleinen, zu trösten. Derweil brauen sich an verschiedenen Fronten Unwetter zusammen und es kommen immer mehr Verdächtigte zum Vorschein.

Zu Beginn hatte ich etwas Probleme in die Handlung zu finden, da wirklich viele Personen eingeführt werden. Die unterschiedlichen Charaktere haben mir aber gefallen, mein Favorit ist Gangster-Manny. Auch die Figuren von Jerry und Jared sind toll gelungen, andere fallen dagegen etwas ab. Besonders Jim ist mir nicht so nahe gekommen, wie Polizeichef Walk aus "Von hier bis zum Anfang". Manny ist zwar sympathisch, aber er vermag nicht so zu beeindrucken, wie die kleine Duchess aus "Von hier bis zum Anfang". Es fehlt hier für mich die zentrale Figur, die den Leser bedingungslos in die Geschichte hineinzieht. Die Handlung wirkt durch die vielen Charaktere und Nebenschauplätze auch etwas zerfasert. Allerdings bietet dies auch ein ordentliches Sammelsurium an bedenklichen Figuren.

Der Roman ist wirklich gut geschrieben, man kann den einzelnen Handlungssträngen - abgesehen von den zunächst verwirrend vielen Personen - gut folgen. Die Dialoge sind glaubwürdig und in den Szenen mit Manny wirklich witzig. Insgesamt hat mich das Buch gut unterhalten, es ist nicht so ausgefeilt wie die vorherige Veröffentlichung des Autors, aber für mich hat es dennoch knapp fünf Sterne verdient. Es gibt einige Wendungen und Überraschungen.

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Veröffentlicht am 13.10.2022

Wenn das Leben in die Schieflage gerät

Die Ewigkeit ist ein guter Ort
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Elke verliert den Halt. Von jetzt auf gleich kann die junge Theologin aus Köln nicht mehr beten, weder laut noch leise. Die Worte wollen einfach nicht aus dem Mund, selbst das Vaterunser geht nicht mehr ...

Elke verliert den Halt. Von jetzt auf gleich kann die junge Theologin aus Köln nicht mehr beten, weder laut noch leise. Die Worte wollen einfach nicht aus dem Mund, selbst das Vaterunser geht nicht mehr über ihre Lippen. Elkes Umwelt reagiert mit Unverständnis. Sie soll doch die Pastorenstelle ihres Vaters übernehmen, in einem kleinen Ort in Norddeutschland. Aber will sie das wirklich? Ihr Leben gerät buchstäblich aus den Fugen, mit einer toten Maus, einem Papagei namens Gertrude, einer Gruppe von Steilwandfahrern und einer Leerstelle in ihrem Leben.

Der Roman hat mir gut gefallen. Eine ungewöhnliche Geschichte, an der mich nur der allzu verständnisvolle und perfekte Jan etwas gestört hat. Die Autorin hat mit der Schieflage von Elke und der väterlichen Kirche ein schönes Bild gefunden. Wenn das Fundament nicht fest ist, wackelt es oben. Es geht um ein unverarbeitetes Ereignis, das sich durch die Sprachlosigkeit einen Weg an die Oberfläche sucht.

Die Geschichte ist leicht geschrieben, läßt sich flott lesen, regt aber dennoch zum Nachdenken an. Es handelt sich keinesfalls um eine Art Bekehrungsschrift, sondern um die teils amüsante, teils traurige Sinnsuche der Protagonistin, aus der jede/r etwas für sich selbst mitnehmen kann.

"Ich weiß noch nicht, wie es um mein Fundament bestellt ist. Aber ich möchte mein Leben gerne im Licht dieser Ewigkeit sehen. Die Ewigkeit ist ein guter Ort." (S.295)


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