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Veröffentlicht am 29.07.2022

Entführung, Brandstiftung und Mord

Der gute Samariter
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Corona macht auch vor dem Kosmos von Olivia Rönning und Tom Stilton nicht Halt. Im mittlerweile siebten Band der Serie ist die Pandemie in Schweden angekommen und legt weite Teile des öffentlichen Lebens ...

Corona macht auch vor dem Kosmos von Olivia Rönning und Tom Stilton nicht Halt. Im mittlerweile siebten Band der Serie ist die Pandemie in Schweden angekommen und legt weite Teile des öffentlichen Lebens lahm. Mittendrin verschwindet Olivia und Tom, der sich mit Luna in seine Hütte auf Rödlöga zurückgezogen hatte, kehrt in die Zivilisation zurück und unterstützt die Suche. Zeitgleich fürchtet Olivia in einem Keller um ihr Leben, dann bricht über ihr ein Feuer aus.

Dieser Teil der Handlung, der auch ähnlich auf dem Klappentext steht, ist allerdings bereits nach 76 Seiten (von insgesamt 441) abgearbeitet. Die Handlung entwickelt sich dann in eine ganz andere Richtung.

Zunächst hatte ich ein bisschen Mühe, mich in den Sprachstil einzufinden. Ich dachte zunächst an neue Übersetzer*innen, das stimmt aber nicht. Allerdings habe ich den letzten Band übersprungen, der ist mir irgendwie entgangen. Daher fehlte wohl ein bisschen der Anschluss, obwohl ich die anderen Bände gelesen habe. Es wird also für Quereinsteiger etwas schwieriger, aber dennoch kann man der Handlung folgen. Einige lieb gewonnene Figuren erschienen mir etwas gewollt in die Handlung eingebaut (Abbas, der Nerz). Eine kleine Liebesgeschichte hat sich ziemlich überstürzt und nicht so richtige nachvollziehbar entwickelt. Für mich hatte der Krimi darüber hinaus einige Längen, wirkte etwas lieblos und ich wollte auch nicht unbedingt in einem Buch Corona begegnen, davon ist man ohnehin schon umzingelt. Aber sei es drum.

Für Fans der Serie natürlich ein Muss, für Einsteiger eher nicht zu empfehlen. Die ersten Bände waren wesentlich spannender. Band acht wird mit einem Cliffhanger in Aussicht gestellt.

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Veröffentlicht am 28.07.2022

Beeindruckend geschriebene Familiengeschichte

Die Unschärfe der Welt
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Hannes ist Pfarrer im rumänischen Banat; seine Frau Florentine ist schwanger, fast verliert sie ihr Kind. Mit dem Blick auf dieses Paar und seine Umgebung, auf die Freunde im Dorf und den Besuch aus Ostdeutschland ...

Hannes ist Pfarrer im rumänischen Banat; seine Frau Florentine ist schwanger, fast verliert sie ihr Kind. Mit dem Blick auf dieses Paar und seine Umgebung, auf die Freunde im Dorf und den Besuch aus Ostdeutschland beginnt der Roman von Iris Wolff. In sieben Episoden wird die Geschichte dieser Familie über vier Generationen erzählt. Dabei entfaltet die Autorin in einer unglaublich zarten Sprache mit vielen Bildern eine ruhige und doch fesselnde Geschichte. Dabei kommen die innersten Gedanken der Charaktere ans Licht, über Heimat, Familie, Freundschaft, Liebe und Verlust aber auch die äußeren Umstände werden deutlich aufgezeigt: Bespitzelung, Willkürsystem, Folter, Verfolgung, Flucht und Widerstand.

"Vielleicht wäre es besser, die frühen, glücklichen Erinnerungen nicht zu haben. Vielleicht wäre es ohne überhaupt nicht zu ertragen." (S. 90)

Der grazilen und doch präzisen Sprache der Autorin stehen die eher verhaltenen Stimmen der Figuren gegenüber, allen voran Florentine und ihr Sohn Samuel. Florentine schweigt lieber, anstatt zu reden. Für sie können Worte nur unscharf die Welt wiedergeben, die man durch Erfahrung kennenlernt. Der Roman ist oft vor allem durch die Gedanken der Figuren geprägt. Gedanken z.B. über ein System, das aufrechterhalten wird, obwohl es ein Phantasiegespinst ist und das schließlich doch zusammenbricht.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Trotz der episodenhaften Anlage des Romans sind für mich keine Lücken in der Handlung entstanden. Die 213 Seiten hatte ich nicht so schnell gelesen, wie gedacht. Das Beziehungs- und Familiengeflecht der Personen ist überschaubar, aber es stehen so viele kluge Sätze in diesem Buch und - ich kann es nur wiederholen - in einer so schönen poetischen Sprache, dass man sich dafür Zeit nehmen sollte.

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Veröffentlicht am 15.07.2022

Die Bekenntnisse des Sprücheklopfers Werner Weber

Die Lange Stille
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Werner Weber - ein Name wie gemacht für einen unauffälligen und peniblen Durchschnittsmann, lebenslang gefangen in der mittleren Beamtenlaufbahn. Weit gefehlt. Trotz unvollendeter gymnasialer Laufbahn ...

Werner Weber - ein Name wie gemacht für einen unauffälligen und peniblen Durchschnittsmann, lebenslang gefangen in der mittleren Beamtenlaufbahn. Weit gefehlt. Trotz unvollendeter gymnasialer Laufbahn hat es Sprücheklopfer Werner Weber zu einem ansehnlichen Guthaben bei der örtlichen Sparkasse gebracht. Er kann als die norddeutsche Version von Steve Rubell und Ian Schrager gelten, jenen legendären Betreibern des Studio 54 in New York. Werners Beteiligung an der Wum Wum-Diskothekenkette und dem Wegschleppen der schwarzen Scheine in Plastiktüten wird aber ebenso wie ehedem den New Yorkern ein unschönes Ende gesetzt, der Steuerfahndung sei Dank. Was Werner noch alles widerfährt, "hätte man gut auf fünfzig Mann verteilen können. Da wäre keiner zu kurz gekommen." (S. 243)

Wir begleiten Werner von der Tanzschule, wo er seine Jugendliebe Karin im Discofox über die Tanzfläche schiebt, über seine zahlreichen beruflichen Stationen bis zu seinem Blick in den Abgrund. Und damit beginnt der Roman. Da er Gesprächs- und Gruppentherapie verweigert, wird ihm angeraten, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Und das macht das selbsternannte Genie dann auch, und zwar "schnodderig und überheblich, da ist kein Einsehen oder gar eine Selbstanalyse erkennbar." (S. 78). Statt Reflexionen gibt es nur Selbstdarstellung, aber das höchst amüsant.

Der Autor läßt Werner durch die 80er, 90er und 2000er Jahre düsen und fängt gleichzeitig das Flair dieser Jahrzehnte ein. Das fand ich sehr gelungen. Natürlich ist Werner als Charakter ein Chauvi, oberflächlicher Draufgänger, Fremdgeher, Aufschneider, Lügner und Betrüger ... Aber er ist auch witzig, ideenreich, findig, charmant und hat eine Schwäche für die strebsame und seriöse Karin, die große Schweigsame bzw. die lange Stille. Ob Karin ihn retten kann?

Das Buch hat mich angenehm überrascht. Es liest sich flott und witzig und hat mich gut unterhalten. Da ich vorher einige "schwerere" Romane gelesen hatte, war es jetzt genau das Richtige. Was dem Protagonisten alles widerfährt, aber welche glücklichen Zufälle ihm auch oft zur Hilfe kommen, ist wirklich vergnüglich. Absolut lesenswert auch die Musikkritiken, die im Text eingestreut sind und ein weiteres berufliches Standbein von Werner darstellen.

Gestört haben mich zwei Dinge: Zum einen ein Satz auf Seite 197, der hier nicht erwähnt werden kann, weil Spoilergefahr besteht und zweitens das etwas sehr biedere Cover. Das wird dem Inhalt nämlich in keiner Weise gerecht.

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Veröffentlicht am 09.07.2022

Unzertrennliche Freundinnen

Nachtwanderung
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Was macht die beste Freundin zur besten Freundin? Ines weiß es genau. Sie bewundert Kerstin, die so gut aussieht, so locker mit Jungs umgehen kann, die überall im Mittelpunkt steht und doch so cool ist. ...

Was macht die beste Freundin zur besten Freundin? Ines weiß es genau. Sie bewundert Kerstin, die so gut aussieht, so locker mit Jungs umgehen kann, die überall im Mittelpunkt steht und doch so cool ist. Von einem Tag auf den anderen ist die Freundschaft zerbrochen, Kerstin ist fort und Ines weiß auch 20 Jahre später noch nicht warum. Als sich die beiden auf einem Klassentreffen plötzlich wieder gegenüberstehen, haben sie die Chance mit der Vergangenheit aufzuräumen.

Das Buch hat mich wirklich beeindruckt. Der Sprachstil ist knapp. Kurze Aussagen, manchmal fehlt ein Wort. Sätze bleiben unvollendet, wie die Gedanken der Protagonistinnen. Man muss sich ein bisschen einlesen und dann sitzt man quasi im Kopf von Ines und Kerstin. Die Gedanken, Erinnerungen und Vorstellungen sind so unmittelbar, glaubhaft und oft traurig. Die Geschichte wird zunächst aus der Sicht von Ines erzählt, die zurückblieb, nachdem Kerstin verschwunden war. Ines, die sich allein durch die letzten Schuljahre kämpfen musste, die jetzt verheiratet ist und ein Kind hat, aber immer noch an Kerstin denkt. In Rückblicken wird die Freundschaft der beiden Mädchen in den 1990er Jahren intensiv, subjektiv und auch verklärend dargestellt. Wie war es wirklich, damals mit 14? Die Handlung wird im zweiten Teil aus der Sicht von Kerstin erzählt. Decken sich die Erinnerungen der beiden Frauen von heute an die beiden Mädchen von damals?

Eine eindrucksvolle und auch bewegende Geschichte, über Freundschaft und die Schwierigkeiten, die eigene Identität zu finden. Viele Situationen und Bilder in dem Schul- und Freundschaftskosmos habe ich wiedererkannt oder konnte ich nachvollziehen, obwohl ich ein Jahrzehnt älter bin als Ines und Kerstin. Für mich hat das Buch einen absoluten Sog entwickelt, weil ich unbedingt wissen wollte, was damals geschehen ist und warum die beiden sich so entwickelt haben. Auch der Sprachstil hat mir gut gefallen und ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Einiges bleibt am Ende noch ungeklärt, aber das passt zur Geschichte.

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Veröffentlicht am 05.07.2022

Gestohlene Kindheit

Brunnenstraße
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Günther Sawatzki ist ein erfolgreicher Journalist und viel in der Welt herumgekommen. Der ist ein charmanter Frauenschwarm und als seine Ehefrau stirbt, heiratet er seine langjährige Geliebte. Sie zieht ...

Günther Sawatzki ist ein erfolgreicher Journalist und viel in der Welt herumgekommen. Der ist ein charmanter Frauenschwarm und als seine Ehefrau stirbt, heiratet er seine langjährige Geliebte. Sie zieht aus dem ländlichen Süddeutschland zu ihm und bringt die gemeinsame achtjährige Tochter Andrea mit. Die glückliche und sorgenfreie Zukunft, die sich Mutter und Tochter erhoffen, stellt sich jedoch nicht ein. Der Vater leidet an Demenz und schon bald reiben sich Andrea und ihre Mutter mit der Betreuung auf.

Gnadenlos ehrlich beschreibt die Autorin ihren Alltag zwischen dem Vater, der sie nicht mehr erkennt und der Mutter, die sie kaum noch sieht. Die kleinen Szenen, die Sawatzki aneinanderreiht, machen betroffen und offenbaren das Bild einer gestohlenen Kindheit. Sie zeigen das höchst anstrengende Leben mit einer demenzkranken Person, das die Betreuenden an den Rand der physischen und psychischen Erschöpfung bringt, das Vereinsamen und die Hilflosigkeit.

Hin und her gerissen zwischen der Liebe, nach der sich Andrea sehnt und der Bitterkeit, die sie oft empfindet, vergehen Jahre und zuletzt hofft sie nur noch auf das Ende dieser unfassbar belastenden Situation.

Ich habe das Buch mit 168 Seiten in einem Rutsch gelesen und war sehr bestürzt, was Mutter und Tochter ausgehalten haben bzw. aushalten mussten und was dieses Ausgeliefertsein an die Situation mit dem kleinen Mädchen in den 1970er Jahren gemacht hat. So offen über die eigene Kindheit und die eigenen zwiespältigen Gefühle zu schreiben, das erfordert Mut.

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