Die Sucht nach Ruhm und Liebe
Die Kinder sind KönigeSehr greifbar und präzise schildert De Vigan, wie Mélanie Claux von Kindesbeinen an vom Fernsehen, besonders von Reality-Shows, fasziniert ist. Schließlich schafft sie es eines Tages selbst in die erste ...
Sehr greifbar und präzise schildert De Vigan, wie Mélanie Claux von Kindesbeinen an vom Fernsehen, besonders von Reality-Shows, fasziniert ist. Schließlich schafft sie es eines Tages selbst in die erste Folge einer Dating Show. Ein "mächtiges Suchtmolekür" wird in ihrem Hirn freigesetzt (S. 30). Jahre später kann sie sich dieser Sucht völlig hingeben: Sie hat mit ihren beiden kleinen Kindern als "Stars" bei YouTube und auf Instagram Millionen von Followern, die praktisch am gesamten Leben der Familie teilnehmen. Bis eines Tages die sechsjährige Kimmy verschwunden ist ...
Der Polizistin Clara, die mit den Ermittlungen betraut ist, ist diese künstliche Welt völlig fremd. Akribisch recherchiert sie und stellt fest, dass Kimmy immer wenig Lust hatte, in den von ihrer Mutter aufwendig produzierten Videos mitzuwirken. Aus Claras Sicht wird uns die Absurdität dieser Inszenierungen vor Augen geführt. Aktionen, die nicht nur sinnfrei sind, sondern völlig überzogen, oberflächlich, teilweise gar gesundheitsgefährdend. Und wenn Mélanie an einer Stelle behauptet, die Kinder seien bei ihr Könige (S. 222), dann steht das im Kontrast zu ihrem Wunsch nach einer idealen Traumwelt, in der sie selbst die Königin ist (S. 95).
Das Buch hat mich gefangengenommen, ich habe es sehr schnell durchgelesen. Einerseits wollte ich natürlich wissen, was mit Kimmy passiert ist, andererseits ist das Thema wahnsinnig interessant. Indem die Autorin der nach Außen orientierten, in einer künstlichen Welt lebenden Mélanie, die pragmatische, zurückgezogene Clara gegenüberstellt, wird der Wahnwitz dieser Sucht nach fremder Anerkennung und Liebe durch die Generierung von Likes und Followern um jeden Preis überdeutlich. Äußerst raffiniert ist der Blick in die Zukunft, zehn Jahre nach den geschilderten Ereignissen.
Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Es regt zum Nachdenken an. De Vigan übt Gesellschaftskritik und das macht sie auf eine wahnsinnig anschauliche, spannende und eindrucksvolle Weise, auch wenn der Schreibstil eher nüchtern ist. Diese Nüchternheit spiegelt Claras Charakter wider, wird aber auch durch die im Text verteilten Verhörprotokolle und Aktennotizen unterstützt.