Familienepos über Entwicklungsmöglichkeiten, Familienmuster und alte Rechnungen
Die Frauen von CornwallDaphne Du Mauriers Debütroman, im englischsprachigen Original mit dem Titel "The loving spirit", wurde nun von Brigitte Heinrich neu ins Deutsche übersetzt und vom Insel Verlag herausgebracht, diesmal ...
Daphne Du Mauriers Debütroman, im englischsprachigen Original mit dem Titel "The loving spirit", wurde nun von Brigitte Heinrich neu ins Deutsche übersetzt und vom Insel Verlag herausgebracht, diesmal unter dem Titel "Die Frauen von Cornwall". Als großer Fan von "Rebecca", Daphne Du Mauriers bekanntestem Werk, zu dem es auch das gleichnamige Musical gibt, war ich sehr gespannt auf dieses Buch und habe mich auf eine vielschichtige Familiengeschichte mit einem Hauch Mystik gefreut.
Diese Erwartung hat das Buch auch durchaus erfüllt und ich habe es sehr gerne gelesen. Es ist ein umfangreiches Werk, für das man sich Zeit nehmen sollte: nicht nur ist es fast 500 Seiten lang, sondern es ist auch auf eine Art und Weise geschrieben, die mich dazu eingeladen hat, länger bei manchen Kapiteln zu verweilen und so habe ich für die Lektüre dieses Buches deutlich länger gebraucht als sonst für ein Werk in diesem Umfang. Das heißt aber nicht, dass es langweilig zu lesen gewesen wäre - das war es überwiegend nicht und ich bin gerne den Geschichten der verschiedenen Familienmitglieder gefolgt.
Das Buch ist in vier große Teile geteilt, die jeweils ein Familienmitglied der Familie Coombe in den Mittelpunkt stellen: es beginnt mit Janet Coombe, geht weiter mit deren Sohn Joseph Coombe, danach folgt dessen Sohn Christopher Coombe und schließlich dessen Tochter Jennifer Coombe. Damit wird insgesamt eine Zeitspanne von 1830 (Beginn Janet) bis 1930 (Ende Jennifer) abgedeckt und somit genau ein Jahrhundert.
Janet ist ein Freigeist und träumt davon, zur See zu fahren, doch im frühen 19. Jahrhundert ist das für eine Frau undenkbar, und so verbringt sie ihr Leben damit, sich nach einem freieren Leben zu sehnen und sich zu wünschen, sie wäre ein Mann und könnte so leben, wie sie sich das wünscht, auch wenn ein Teil von ihr sich durchaus auch nach einer Liebesbeziehung sehnt.
Dieses Zitat zeigt ihre innere Zerrissenheit zu diesem Thema: "Janet war immer noch auf dem Hügel und blickte aufs Meer, und es hatte den Anschein, als gebe es zwei Seiten ihr; eine, die Ehefrau eines Mannes sein, ihn umsorgen und zärtlich lieben wollte, und eine andere, die sich einzig und allein danach sehnte, Teil eines Schiffs zu sein, Teil des Meeres und des Himmels, mit dem frohen, freien Leben einer Möwe." (S. 18)
Janet heiratet schlussendlich und bringt sechs Kinder zur Welt, eines davon ihr Sohn Joseph, dem sie sich am nächsten verbunden fühlt, in dem sie sich wiedererkennt und der ihre Sehnsucht nach dem Meer mit ihr teilt und schließlich Kapitän wird, auf dem nach ihr benannten Schiff "Janet Coombe", das in der familieneigenen Werft gebaut wurde.
Joseph verbringt sein Leben auf See, doch auch er ist ein unruhiger Geist und die berufliche Erfüllung macht ihn nicht glücklich, er wird sich zeitlebens nach der engen Verbindung mit seiner Mutter zurücksehnen und sich trotz vieler Affären und mehrerer Ehen auf keine Frau wirklich einlassen können. Dennoch hofft er, dass sein Sohn Christopher seinen Weg als Seemann fortsetzt.
Doch Christopher fühlt sich am Meer gar nicht wohl und zu einem anderen Leben berufen. Lange hadert er mit dem Erwartungsdruck seines Vaters, versucht, diesen zu erfüllen, scheitert daran und bricht aus diesem vorgeplanten Leben aus und flieht nach London. Doch dafür zahlt er einen hohen Preis: es kommt zum Bruch mit dem Vater.
Jennifer wiederum, Christophers jüngstes Kind und einzige Tochter, liebt ihren Vater auch sehr, wird ihn aber leider nur kurz in ihrem Leben haben. Sie wächst als kleines Kind teilweise in der alten Familiengegend im Cornwall auf, wird sich ihre ganze Jugend, die sie dann in London verbringen muss, danach zurücksehnen, und schließlich zurückkehren, um ihre Seelenruhe zu finden, aber auch, um eine alte familiäre Rechnung zu begleichen.
Die Figuren sind liebevoll und tiefgründig gezeichnet und ich habe insbesondere deren Entwicklung über das Jahrhundert sehr spannend gefunden: alle sehnen sie sich auf ihre Art nach Freiheit und Selbstverwirklichung, eigentlich ein sehr modernes Thema. Und alle haben sie ihre Begrenzungen darin, wie sie damit umgehen und was für sie im Leben möglich ist, welche Hoffnungen und Träume sich erfüllen und welche enttäuscht bleiben... doch insgesamt ist über die vier Figuren eine Entwicklung hin zur Moderne und hin zu freieren, selbstbestimmteren Menschen sichtbar. Das zeigt sich am allerstärksten im Vergleich von Jennifer mit ihrer Urgroßmutter Janet.
Das Buch ist somit nicht nur ein lesenswerter Klassiker, sondern auch ein durchaus aktuelles Werk, das auch für die heutige Zeit wertvolle Fragen stellt und zum Nachdenken anregt.
Schade finde ich allerdings, dass der Verlag sich dazu entschieden hat, es dermaßen stark als "Frauenbuch" zu positionieren: ein Titelbild mit rosa Wölkchen im Hintergrund, und dazu der unpassende Titel "Die Frauen von Cornwall", während das Buch bekanntlich zwei Männer und zwei Frauen, also ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis, mit ihren Lebensgeschichten thematisiert, und keineswegs ausschließlich oder überwiegend Frauen.
Ich finde es bedauernswert, dass mit dieser Positionierung wohl noch mehr als ohnehin schon ein weibliches Lesepublikum angesprochen und Männer eher abgeschreckt werden und damit der schon vorhandene Trend, dass viele Frauen "alles" lesen, also Bücher weiblicher und männlicher Autoren, aber die Werke von Frauen oft als "Frauenliteratur" positioniert und nur von einem Geschlecht gelesen werden, verstärkt wird - das hätte ich mir im Jahr 2025 anders gewünscht, und das hat dieses hervorragende Werk so nicht verdient.
Für diese Positionierung kann dieses tolle Werk aber nichts und ich kann es ansonsten allen, die sich für Klassiker und tiefgründige Familiensagas interessieren, sehr empfehlen.