Kann der alte Familienfluch gebrochen werden?
Der Fluch der Falodun FrauenAuf den Frauen der nigerianischen Yoruba-Familie Falodun scheint seit langem ein Fluch zu lasten: seit eine Urahnin im Kampf um einen Mann von dessen erster Frau verwünscht wurde, gibt es kein andauerndes ...
Auf den Frauen der nigerianischen Yoruba-Familie Falodun scheint seit langem ein Fluch zu lasten: seit eine Urahnin im Kampf um einen Mann von dessen erster Frau verwünscht wurde, gibt es kein andauerndes Liebesglück mehr für die Frauen aus dieser Familie: die Männer verlassen sie früh, kommen um oder die Frauen finden erst gar keinen passenden Partner: "Für dich wird es niemals gut ausgehen. Kein Mann soll dein Haus je sein Heim nennen. Wenn einer es versucht, wird er keinen Frieden finden. Mögen deine Töchter verflucht sein. Sie werden den Männern nachstellen, aber die Männer werden ihnen wie Wasser durch die Finger rinnen. Deine Enkelinnen werden unglücklich lieben. Deine Urenkelinnen werden sich vergeblich um Anerkennung bemühen. Deine Töchter, die Töchter deiner Töchter und alle Frauen nach ihnen werden der Männer wegen leiden." (S. 37)
Das ist nun schon viele Generationen her, doch die Geschichten über das mangelnde Liebesglück der bisherigen weiblichen Ahninnen werden in der Familie weitererzählt. Nun sind moderne Zeiten angebrochen, auch in Nigeria, und insbesondere in dieser sonst eigentlich sehr aufgeklärten und wohlhabenden Oberschichtfamilie, die in einem großen Haus lebt und bei der es normal ist, dass auch Frauen eine qualitativ hochwertige und lange Ausbildung genießen und dann in anspruchsvollen Berufen arbeiten.
Der Roman wird aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt, die zu unterschiedlichen Zeiten spielen: Ebun ist im Jahr 2000 eine junge Frau, lebt noch im großen, alten Falodun-Familienhaus, gemeinsam mit ihrer Mutter Kemi, ihrer Tante Bunmi, ihrer Cousine Monife und ihrem Cousin, und ist schwanger. Über den Vater des Babys spricht sie nicht, sie wird eine ledige Single-Mutter werden, unterstützt von ihrer Verwandtschaft. Doch noch während Ebuns Schwangerschaft geht ihre Cousine Monife eines Nachts in tiefer Verzweiflung nach einer unglücklichen Liebe ins Meer, um sich das Leben zu nehmen. Als Ebun schließlich ihre Tochter zur Welt bringt, sind alle komplett erstaunt: das neugeborene Baby sieht exakt so aus wie die verstorbene Monife, die Cousine ihrer Mutter.
Die Mutter der Verstorbenen möchte das Kind ihrer Nichte deshalb am liebsten "Motitunde" ("Ich bin wieder da") nennen, doch Ebun setzt sich durch, will ihre Tochter davor bewahren, nur im Schatten einer Verstorbenen leben zu müssen und nennt sie "Eniiyi": "Sie hätte alles gegeben, um Mo wiederzusehen. Sie hatte Mo geliebt. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass sie fortan ohne sie durchs Leben gehen musste. Aber ihr Kind würde nicht das Gefäß sein, das ihre Cousine nutzen konnte, um in dieses Leben zurückzukehren. Man bekam nur ein einziges Leben, und Mo hatte entschieden, was sie mit ihrem machen wollte." (S. 42)
Auch später wird die kleine Eniiyi ihrer verstorbenen Verwandten exakt ähneln, sich bewegen wie sie, sprechen wie sie, eine ähnliche Persönlichkeit zeigen,... sodass nicht nur die Frauen aus der Familie, sondern auch viele andere Menschen, die Monife gekannt haben, völlig erstaunt sind und einige meinen, sie sei die zurückgekehrte Monife. Eine schwere psychische Last, mit der das Mädchen aufwächst - nur ihre Mutter Ebun versucht, sie zu bestärken, sie selbst zu sein.
Auch Monife lernen wir aus ihrer eigenen Perspektive kennen, in den Jahren 1994 bis zu ihrem tragischen Tod im Jahr 2000. Eine sehr selbstbestimmte junge Frau, die sich ihr Leben gestaltet, nicht auf den Mund gefallen und mutig ist. Von dem alten Familienfluch hat sie gehört und doch hat sie erst einmal mit "juju", dem afrikanischen Glauben an Hexerei und Flüche, nichts am Hut und fordert sogar selbstbewusst von einer Mamalawo, einer Art Hellseherin, bei der ihre Mutter viel Geld gelassen hat, dieses zurück... und doch werden sich am Ende die Geschehnisse rund um eine tragische Liebesgeschichte mit einem jungen Igbo-Mann aus einem sehr reichen Elternhaus so zuspitzen, dass sie keinen Ausweg mehr sieht, als ins Meer zu gehen (das ist übrigens die allererste Szene des Buches, also kein Spoiler).
Eine besonders interessante Perspektive war für mich die der heranwachsenden Eniiyi, die wir sowohl als kleines Mädchen zwischen 2006 und 2012 als auch als junge Frau 2024 bis 2025 kennen lernen. Schwer lasten die tragische Familiengeschichte und die Erzählung des Fluches auf ihr, doch mutig versucht sie, sich davon zu befreien, erkennt schon als Jugendliche, dass es ihr nicht gut tut, so viel Zeit mit ihren Verwandten zu verbringen und wünscht sich, ins Internat gehen zu dürfen, was ihr auch gewährt wird. Als junge Erwachsene studiert sie und will nach ihrem Masterabschluss als genetische Beraterin arbeiten, hat also einen naturwissenschaftlichen Hintergrund. Das macht den Roman ganz besonders spannend, denn hier handelt es sich eigentlich um eine aufgeklärte und naturwissenschaftlich denkende junge Frau in der heutigen Zeit, die sich eben nicht von einem alten Familienaberglauben definieren lassen will, aber dennoch ständig von ihrer Umwelt damit konfrontiert wird, dass sie sie so sehr an die verstorbene Monife erinnert.
Ich habe mich schon lange nicht mehr so gut unterhalten gefühlt wie mit diesem Buch. Es ist sehr interessant und abwechslungsreich erzählt, alle Szenen sind relevant und es ist keine einzige Sekunde auch nur das kleinste Fünkchen Langeweile beim Lesen aufgekommen. Gleichzeitig habe ich wie nebenbei einiges über das Leben von Oberschichtfrauen im modernen Lagos/Nigeria gelernt und insbesondere das Spannungsfeld zwischen den Resten des Glaubens an alte Hexerei-Traditionen und andererseits einem modernen, aufgeklärten Leben, insbesondere bei den jüngeren Frauengenerationen, sehr interessant gefunden.
Um die Geschichte plausibel zu finden, muss man übrigens nicht unbedingt an Hexerei glauben - die meisten Geschehnisse wären auch problemlos durch die Weitergabe dysfunktionaler familiärer Muster in Bezug auf die Partnerwahl und durch die Macht selbsterfüllender Prophezeiungen (Beziehungen scheitern natürlich eher, wenn man von vornherein davon ausgeht, dass sie zum Scheitern verurteilt sein müssen) erklären.
Ich kann das Buch allen, die eine gute Unterhaltung wünschen, die gerne Familiengeschichten lesen und sich für das Nigeria der heutigen Zeit interessieren, wärmstens empfehlen.