Poetisch, zauberhaft und philosophisch
Umlaufbahnen"Umlaufbahnen", im englischsprachigen Original "Orbital" von Samantha Harvey hat im Jahr 2024 den Booker Prize gewonnen. Schon das Cover mit den bunten Kugeln und dem Weltraumnebel finde ich ganz zauberhaft, ...
"Umlaufbahnen", im englischsprachigen Original "Orbital" von Samantha Harvey hat im Jahr 2024 den Booker Prize gewonnen. Schon das Cover mit den bunten Kugeln und dem Weltraumnebel finde ich ganz zauberhaft, und es spiegelt wider, wie besonders dieses Buch ist. Samantha Harvey entführt uns mit ihrem Nature Writing mitten in ein Raumschiff, das viele Male am Tag die Erde umkreist.
Durch die Augen der sechs staunenden Astronauten erleben wir ihren Blick aus dem All auf die Welt und viele philosophische Gedanken dazu. Dabei gelingt es der Autorin, so plastisch zu schreiben, dass ich das Gefühl hatte, dabei gewesen zu sein im All, und dieses Gefühl wirkt auch jetzt, einige Tage nach Abschluss der Lektüre, noch in mir nach.
Hier ein paar ausgewählte Zitate, die die besondere Atmosphäre dieses einzigartigen Buches einfangen sollen:
Gleich am Anfang: "So einsam sind sie in ihrem um die Erde kreisenden Raumschiff und gleichzeitig einander so nah, dass ihre Gedanken, ihre individuellen Mythologien, bisweilen zusammenfinden. Mitunter träumen sie dieselben Träume - von Fraktalen und blauen Sphären und vertrauten Gesichtern in der Dunkelheit, vom leuchtenden, energiegeladenen Schwarz des Weltraums, das ihre Sinne überwältigt." (S. 7)
"Sie ziehen an Shanghai vorbei. Bei Tageslicht ist von der Stadt nur eine menschenleere Küste am Rand eines Kontinents in allen erdenklichen Farbtönen auszumachen. Es ist die vierte Erdumkreisung des Tages, die sie wach miterleben, und auch wenn ihre Umlaufbahn sie gen Osten führt, verschiebt sich aufgrund der Drehung der Erde ihre Route mit jeder vollen Umkreisung nach Westen, sodass sie sich - wie der Taifun - immer weiter landeinwärts bewegen, fort vom Pazifik, auf Malaysia und die Philippinen zu, und der Taifun hastet ihnen hinterher." (S. 63)
In diesem zweiten Zitat wird auch ein Taifun erwähnt, der auch sonst noch an mehreren Stellen im Buch vorkommt, sich verdichtet und heftiger wird und für die Menschen auf der Erde in den betroffenen Regionen eine große Gefahr darstellt - für das Raumschiff aber nicht.
Und so ist auch die Perspektive der sechs Astronauten eine aus der Distanz, aus der manches, insbesondere die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Welt, die Kontinente und große Wetterphänomene, sich klarer zeigt, während viele Details, insbesondere einzelne Staatsgrenzen und der Alltag der Menschen, unsichtbar wird und an Bedeutung verlieren. Damit lädt das Buch auch dazu ein, über die Bedeutung der Perspektive nachzudenken: je nachdem, von wo aus ich etwas betrachte, werde ich etwas ganz anderes sehen.
Es ist ein stilles, poetisches Buch, das ohne größere Spannungselemente auskommt. Es lebt von dem Rhythmus aus Blicken aus dem Fenster auf die Erde, so wie im zweiten Zitat, und der Beschreibung des Alltags der Crewmitglieder.
Die sechs Astronauten und Astronautinnen (zwei Frauen sind dabei) sind aus verschiedenen Ländern: zwei aus Russland (diese haben einen eigenen russischen Sektor, sind aber sonst ganz normal Teil des Teams) und je eine Person aus den USA, aus Großbritannien, aus Italien und aus Japan.
Wir erfahren so einiges Interessantes über die körperlichen Herausforderungen des Alltags im All: darüber, wie die Astronauten täglich trainieren müssen, um dem durch die mangelnde Schwerkraft im Fallen des Raumschiffes verursachten Muskelabbau vorzubeugen (und trotzdem werden sie bei der Rückkehr auf der Erde gesundheitlich beeinträchtigt sein, weil auch das Training nicht alles kompensieren kann), über die Geschmacklosigkeit des Essens im All, das Festhalten-Müssen an einem künstlich geschaffenen tagesähnlichen Rhythmus, die Sammlung allen Wassers, sogar der Tränen, und Wiederaufbereitung des Urins, diverse wissenschaftliche Experimente mit Mäusen, Weltraumspaziergänge, um etwas zu warten, Einsamkeit und Vermissen der geliebten Menschen daheim, Verpassen des Begräbnisses der eigenen Mutter... aber auch über die ursprünglichen Sehnsüchte und Träume der Kinder, die die Astronauten einmal waren, und wie sie den Funken in ihnen gezündet haben, der sie dazu gebracht hat, selbst den Weltraum bereisen zu wollen.
Und dann wieder und wieder und wieder der Blick aus den Fenstern auf die atemberaubende Welt: alle 45 Minuten wird es dunkel, und dann wieder hell, denn in eineinhalb Stunden umkreist das Raumschiff einmal komplett die Erde, und so erleben wir immer wieder, wie die Sonne auf- und untergeht und verschiedene Länder und Kontinente sichtbar oder unsichtbar werden.
Ein letztes Zitat (S. 198):
"Vielleicht gibt es nichts außer diesem Raumschiff, das still um einen unsichtbaren Felsbrocken kreist. Vielleicht war es so auch für die ersten Entdecker, die sich, in einer blinden Nacht auf See, viele Monate und Tausende von Kilometern von einer Küste entfernt, von der sie noch nicht sicher sein konnten, dass sie existierte, der Erde, ihrer Welt, so nahe fühlten, als wären sie die einzigen Menschen auf ihr, und in diesem Gefühl einen kurzen Moment des Friedens fanden."
Dieses Zitat drückt, wie so viele andere, für mich aus, wie dieses Buch ehrfürchtig machen kann vor der Schönheit unserer Welt, unserer Mutter Erde, der einzigen, die wir haben. Damit ist es auch ein Buch, das auf seine poetisch-stille Art wachrütteln kann und hoffentlich auch wird, diese unsere Erde zu achten und zu schützen, und somit genau in diesen Zeiten ein wichtiges Buch, dem ich viel Verbreitung wünsche.