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Veröffentlicht am 27.08.2024

Vom Frieden finden mit der eigenen Vergangenheit

Unter Wasser ist es still
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Maira hat es nicht leicht gehabt in ihrer Kindheit und Jugend. Ihren Vater hat sie nie kennen gelernt (er kommt im Buch auch nicht vor), sie wächst alleine bei ihrer alleinerziehenden Mutter Kathi auf. ...

Maira hat es nicht leicht gehabt in ihrer Kindheit und Jugend. Ihren Vater hat sie nie kennen gelernt (er kommt im Buch auch nicht vor), sie wächst alleine bei ihrer alleinerziehenden Mutter Kathi auf. Kathi ist sehr bemüht, Maira eine möglichst schöne Kindheit zu ermöglichen. Umso mehr, als sie das Damoklesschwert kennt, das darüber hängt: mit noch nicht einmal 40 Jahren hat sie eine seltene, unheilbare und schnell voranschreitende Form der früh einsetzenden Demenz. Solange es noch möglich ist, kämpft Kathi dagegen an, und sie schafft besondere Erinnerungsstücke für Maira: viele einzelne Briefe, in denen sie gemeinsame Erlebnisse schildert, damit diese für ihre Tochter erhalten bleiben.

Auch weitere Lichtblicke gab es in Mairas Kindheit und Jugend: tiefe Freundschaften mit den Kindern Anne und Jasper und die gemeinsame Liebe zur Natur, zur Ostsee und den darin lebenden Kreaturen. Leider schreitet Kathis Demenz in Mairas Jugend rapide voran und die Tochter wird aufgerieben zwischen der Pflege der Mutter und dem Versuch, deren Krankheit vor der Außenwelt so gut wie möglich zu verstecken... bis schließlich die Mutter tragisch ums Leben kommt.

Im Buch lernen wir zwei Mairas kennen: die kindliche und jugendliche Maira sowie die Maira knapp 20 Jahre nach dem Unglück, die sich ein Frankfurt ein neues Leben aufgebaut hat, als Restaurateurin arbeitet und versucht, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen... bis die Umstände sie dazu bringen, noch einmal für kurze Zeit in ihre alte Heimat zurückzukehren, mit dem Plan, ihr seit langem leer stehendes Elternhaus zu räumen und zu verkaufen. Und dort kommt es natürlich zu verschiedenen Begegnungen mit den Menschen aus ihrer Vergangenheit, etwa mit Jasper und Anne (bei denen wir auch miterleben, was aus ihren Träumen und Wünschen geworden ist und welche Leben sie nun leben), und so einigen weiteren.

Wir erleben beim Lesen eine freundliche Welt... tragisch ist Kathis Schicksal und dessen Auswirkungen auf ihre Tochter... aber ansonsten kommen überwiegend herzliche, unterstützende, wohlwollende Charaktere vor... sympathisch und doch vielschichtig und damit authentisch, mit gelegentlichen kleinen menschlichen Schwächen, aber grundsätzlich sehr liebenswert. Es tut gut, ein Buch zu lesen, in dem die Menschen so liebenswert sind und so gut aufeinander schauen.

Wunderschön sind auch die vielen Schilderungen des Kontakts von Maira (und auch der anderen Jugendlichen) mit der Natur und insbesondere mit dem Meer und ihre Sensibilität und ihr Einsatz für Naturschutz. In einer besonders berührenden Szene schwimmt Maira mit Schweinswalen, zu denen sie eine besondere Verbindung spürt.

"Unter Wasser ist es still" ist also ein sehr schönes, angenehmes und gerade in seinem ruhigen Tempo sehr wohltuendes Debüt, das ich mit viel Freude gelesen habe und wärmstens empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 27.08.2024

Wunderschöne Ideensammlung, um unbekannte Orte in Ligurien zu erkunden

Glücksorte in Ligurien
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"Glücksorte in Ligurien" ist genau das, was der Titel sagt: ein inspirierendes Büchlein, das bunt gemischt diverse schöne Orte in Ligurien vorstellt. Das Buch ist wunderschön gestaltet und es macht schon ...

"Glücksorte in Ligurien" ist genau das, was der Titel sagt: ein inspirierendes Büchlein, das bunt gemischt diverse schöne Orte in Ligurien vorstellt. Das Buch ist wunderschön gestaltet und es macht schon auf den ersten Seiten der Freude: in der Umschlagkappe finden sich fröhliche Definitionen der Begriffe "Glück", "Ort" und "Ligurien", darauf folgt eine Möglichkeit, das Buch zu personalisieren ("Dieses Glücksbuch ist für...") und eine kurze persönliche Begrüßung der Autor*innen.

Und dann geht es auch schon los mit dem, woraus das Buch hauptsächlich besteht: jeweils auf einer Doppelseite werden verschiedene Glücksorte vorgestellt: links ein inspirierender Text dazu und rechts ein großes Foto. Das macht so richtig Lust darauf, durch das Buch zu blättern, zu schauen, was einen anspricht und über welcher der Orte man gerne mehr erfahren oder diese besuchen möchte.

Thematisch ist das Buch bunt gestreut: es gibt viele Orte mit kulinarischem Bezug (z.B. zu Olivenöl, Mandelprodukten oder dem berühmten Pesto Genovese), spirituelle und historische Orte, Anregungen zum Wandern entlang der Küste oder hinauf ins Hinterland oder zu Kunst und Kultur.

Eine Variante, das Buch zu erkunden, ist also, wie gesagt, einfach querbeet zu schauen, was einen anspricht. Eine andere Variante ist, zielgerichtet zu planen, in welche Teile Liguriens die eigene Reise geht und welche Glücksorte es dort geben könnte. Auch das ist möglich, denn auf den letzten Seiten des Buches findet sich eine Karte Liguriens, auf der die jeweiligen Glücksorte mit Nummern eingetragen sind. Ich kann also gezielt z.B. nach Empfehlungen in der Nähe von Genua, Sanremo etc. suchen.

Was das Buch nicht ist und auch nicht verspricht zu sein: ein klassischer Reiseführer. Es gibt keine strukturierten Informationen zu Hotels, Restaurants, Infrastruktur aufgeschlüsselt nach den einzelnen Teilen oder Orten Liguriens. Damit empfiehlt sich dieses Büchlein also ergänzend zu einem klassischen Reiseführer, aber nicht als Ersatz.

Für eine weitere Auflage würde ich dennoch empfehlen, die vorhandenen Glücksorte ein bisschen nach Kategorien zu sortieren bzw. ein entsprechendes Sachregister einzufügen (z.B. "Für Kinder geeignet", "Kulinarisch", "Sportlich", "Kunst & Kultur" usw.). Dieses habe ich vermisst und das würde das Planen einer Ligurienreise und das Entdecken der wunderschönen Glücksorte noch ein bisschen leichter machen.

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Veröffentlicht am 27.08.2024

Bindungslos verloren sein in den modernen Zeiten, auch in Italien

Für uns gibt es keinen Namen
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"Für uns gibt es keinen Namen" von Gaia Manzini ist ein Roman über die bindungslosen Verhältnisse in der heutigen Zeit in Italien. Wir erleben dieses durch die Brille einer jungen Frau, Ada, 26 Jahre alt, ...

"Für uns gibt es keinen Namen" von Gaia Manzini ist ein Roman über die bindungslosen Verhältnisse in der heutigen Zeit in Italien. Wir erleben dieses durch die Brille einer jungen Frau, Ada, 26 Jahre alt, die so auch in vielen anderen Ländern Europas leben und arbeiten könnte. Ada ist mit 17 ungewollt Mutter geworden, nimmt aber die Verantwortung für die Tochter Claudia bis heute kaum wahr.

Claudia wächst bei den Großeltern am Lago Maggiore auf, während Ada weitgehend das Leben einer ungebundenen jungen Frau lebt, erst studiert und dann in einer Werbeagentur in Mailand arbeitet, feiern und auf Partys geht. Zwar bedauert sich Ada immer wieder schrecklich dafür, angeblich aufgrund der frühen Mutterschaft so wenig von ihrer Jugend gehabt zu haben, realistisch betrachtet wurde die Erziehungsarbeit aber fast zur Gänze von den liebevollen Großeltern übernommen, während Ada bestenfalls am Wochenende kurz zu Besuch kommt... wenn sie nicht sowieso partyfeiernd wegbleibt (und sich auf die Arbeit ausredet) oder auf unbestimmte Zeit, mit unbestimmter Rückkehr, beruflich nach Amerika geht.

Für ihre Tochter interessiert Ada sich also nicht, es geht nur um berufliches Weiterkommen und um ihr Schwärmen für ihren homosexuellen Kreativpartner Alessio (mit dem sie dann auch nach Amerika geht und dort eine Wohnung teilt), der - wenig verwunderlich - nicht bereit ist, sich auf eine fixe Liebesbeziehung mit ihr einzulassen.

Dafür, dass ihre Eltern sich so liebevoll um Claudia kümmern und auch generell Ada gegenüber sehr unterstützende Eltern gewesen zu sein scheinen (sie haben ihr z.B. als Jugendliche das Auslandsjahr in den USA ermöglicht, bei dem sie überhaupt erst schwanger geworden ist, haben sie später dann in ihrem Studium unterstützt etc.), zeigt Ada leider auch wenig Wertschätzung und Dankbarkeit. Möglicherweise liegen darunter tieferliegende emotionale Probleme, Familienthemen und Traumatisierungen im Zusammenhang mit der ungewollten Schwangerschaft, diese werden aber nur sehr subtil angedeutet, aber nie gänzlich aufgeklärt, was ich schade finde (dafür einen Stern Abzug).

Erst spät im Buch beginnt Ada, sich durch eine Krise doch ein bisschen für ihre Tochter zu interessieren, zeigt aber weiterhin kaum Empathie für deren Bedürfnisse, und kreist bis zum Ende des Buches weitgehend um sich selbst.

Es handelt sich in dem Buch also überwiegend um eher unsympathische, unreflektierte, hedonistische und sehr selbstbezogene Charaktere (vor allem Ada, aber auch Alessio), die aber wiederum schriftstellerisch gut und sehr authentisch geschildert werden. Damit sehe ich das nicht als Negativpunkt für das Buch... auch die Schilderung solcher sozialer Milieus hat ihre Daseinsberechtigung, wenn das schriftstellerisch auf gutem Niveau geschieht, so wie es hier der Fall ist.

Sehr leid getan hat mir während des ganzen Lesens das kleine Mädchen Claudia, das sich so sehr die Liebe der Mutter wünscht und sich um diese bemüht und von dieser immer wieder verlassen und abgelehnt wird. Als Mutter und mitfühlender Mensch war das für mich teilweise schwer zu ertragen und auch deshalb bin ich froh, dieses Buch nun hinter mir lassen zu können.

Der nonsolo Verlag hat als eine seiner Zielsetzungen, das zeitgenössische Italien und seine Menschen zu zeigen. Das ist mit dieser Geschichte weitgehend gelungen, sie spielt in einer modernen Umgebung und in der heutigen Zeit und hat damit mein inneres Italienbild ergänzt. Dennoch hoffe und denke ich, dass es auch im modernen Italien viele mitfühlendere Menschen gibt als die Hauptprotagonistin Ada und ich würde mich freuen, in Zukunft auch von diesen mehr zu lesen.

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Veröffentlicht am 27.08.2024

Von der Hoffnung auf neue Liebe um die 40

Zwei in einem Leben
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"Zwei in einem Leben" ist schon mein drittes Buch von David Nicholls, davor habe ich "Zwei an einem Tag" und "Drei auf Reisen" von ihm gelesen. Ich schätze an diesem Autor die humorvolle Betrachtung des ...

"Zwei in einem Leben" ist schon mein drittes Buch von David Nicholls, davor habe ich "Zwei an einem Tag" und "Drei auf Reisen" von ihm gelesen. Ich schätze an diesem Autor die humorvolle Betrachtung des Lebens, seine liebenswerten Charaktere und die Tiefgründigkeit und Lebensweisheiten, die immer wieder durchblitzen.

So gesehen ist auch "Zwei in einem Leben" ein typisches David-Nicholls-Buch, denn all diese Merkmale weist es auch auf. Wir begleiten Marnie und Michael - sowie etappenweise auch manche andere Personen aus ihrem Freundeskreis - auf einer Wanderung, zuerst im gemeinsamen Freundeskreis und bald zu zweit, von der Westküste zur Ostküste Großbritanniens.

Marnie ist Ende 30 und Lektorin, Michael ist Anfang 40 und Lehrer, beide sind kinderlos und haben gescheiterte Beziehungen hinter sich, kämpfen mit ihren Wunden und Verletzungen aus der Vergangenheit, hoffen auf einen Neubeginn und tun sich doch schwer, sich wirklich dafür zu öffnen. Die Annäherung zwischen den beiden geschieht also sehr langsam.

Insgesamt ist es ein angenehm und leicht zu lesendes Buch. Besonders Fans von Liebesgeschichten kommen auf ihre Kosten, genauso wie Menschen, die die Natur lieben. Denn die einzelnen Etappen der Wanderung werden mit schönen Naturbeschreibungen geschildert und es gibt auch eine Übersichtskarte und viele kleine Abschnittskarten der Wanderungen, mit denen diese sich gedanklich nachvollziehen und bei Gefallen eine ähnliche Tour planen lässt (und darauf macht das Buch definitiv Lust, trotz des geschilderten meist sehr englischen, regnerischen Wetters).

Michael ist mir als Charakter sehr sympathisch, Marnie nur teilweise. Auch wenn sie ihre liebenswerten Seiten hat, versucht sie aus Unsicherheit ständig, krampfhaft humorvoll zu sein auf eine Art, die ich persönlich nicht lustig finde (vielleicht ist das aber auch ein eigener britischer Humor, den ich nicht kenne/teile oder der in der deutschen Übersetzung nicht so gelungen rüberkommt). Damit hat mir das Buch zwar gefallen, aber insgesamt bei mir einen etwas weniger starken Eindruck hinterlassen als die bisherigen Bücher des Autors.

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Veröffentlicht am 25.08.2024

Wasser zeigt die Verbindungen zwischen Orten und Zeiten

Am Himmel die Flüsse
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"Am Himmel die Flüsse", das neue Buch der britisch-türkischen, international aufgewachsenen und mit vielen Literaturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerin Elif Shafak, ist ein ganz besonderes literarisches ...

"Am Himmel die Flüsse", das neue Buch der britisch-türkischen, international aufgewachsenen und mit vielen Literaturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerin Elif Shafak, ist ein ganz besonderes literarisches Werk.

Es geht um die Verbundenheit von allem und allen auf dieser Welt, metaphorisch dargestellt durch das Wasser, das in seinen vielfältigen Formen, ob als Wassertropfen, unterirdischer Fluss oder überwältigende Sturzflut, menschliche Schicksale und Zeiten miteinander verknüpft.

Beginnend mit der Geschichte des Herrschers Assurbanipal im antiken Ninive begleiten wir schließlich den hochbegabten, aber in bitterste Not hineingeborenen Arthur, den "König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere", auf seinem Lebensweg in der Zeit der Industrialisierung, genauso wie im Jahr 2014 die 9-jährige Narin auf dem Weg zu ihrer Taufe ins Lalischtal, begleitet von ihrer liebevollen, geschichtenerzählenden Großmutter, sowie eine junge Hydrologin in London im Jahr 2018... und einen Wassertropfen auf seiner Reise durch die Weltregionen und die Jahrtausende.

Was macht für mich ein literarisches Meisterwerk aus?

Erstens die ganz besonders schöne, poetische Sprache: ein Buch, das schon mit seiner Wortwahl ein besonderer Lesegenuss ist und mit treffend gewählten Sprachbildern die Fantasie anregt. Davon findet sich ganz viel in diesem Buch, hier ein paar Beispiele:

"Die Kinder entwurzelter Eltern sind in den Stamm des Erinnerns hineingeboren."

"Arthur weiß inzwischen, dass die Grenzen zwischen Klassen in Wirklichkeit die Grenzen auf einer Landkarte sind. Wenn man in einer reichen und privilegierten Familie zur Welt kommt, erbt man einen Plan, auf dem der weitere Weg vorgezeichnet ist, der Abkürzungen und Nebenwege enthält, und der die üppig grünen Täler, in denen man rasten kann, ebenso nennt wie die schwierigen Stellen, die man besser umgeht. Wer die Welt ohne eine solche Karte betrifft, dem fehlt es an guter Orientierung. Der kommt viel leichter von seinem Weg ab, weil er auf vermeintliche Haine und Gärten zugeht, um schließlich festzustellen, dass er in Sumpf und Moor gelandet ist."

"Endlich habe ich meine Berufung gefunden: Es ist meine Pflicht, das Zerbrochene zusammenzufügen, den Menschen zu helfen, sich an das zu erinnern, was jahrhundertelang vergessen war, und das, was irgendwo auf dem Weg durch jene Zeit verloren gegangen war, wiederzufinden. Ich möchte wie die Themse sein. Ich werde mich um alles Weggeworfene, Beschädigte, Vergessene kümmern."

Mit solchen Sprachbildern ist das Buch voll.

Zweitens die komplexen, gut recherchierten und miteinander verbundenen Themen:

Beim Lesen dieses Buches kann man nebenbei sehr viel lernen. Zwar sind die Figuren fiktiv, doch das, was diese erleben oder ihnen zustößt, beruht überwiegend auf sehr sorgfältig recherchierten historischen Tatsachen (wie die Autorin im Nachwort auch selbst detailliert beschreibt). Dieses Buch hat mir Wissen über so unterschiedliche Gebiete wie das alte Mesopotamien, London zur Zeit der beginnenden Industrialisierung, das Wassergedächtnis, die vergrabenen unterirdischen Flüsse von London, Paris und vielen weiteren Metropolen (auch in Wien gibt es solche), den Völkermord an den Eziden in der Geschichte des osmanischen Reiches sowie durch den IS, Organhandel, die Klimakrise auch als Wasserkrise, die Problematik des Verschleppens von Kunstschätzen in ferne Museen und vieles mehr vermittelt, einfach so nebenbei beim Lesen.

Drittens das Bewusstsein für soziale und kulturelle Unterschiede, Benachteiligungen und Privilegien und wie sie die Möglichkeiten der einzelnen Menschen und ihre Weltsicht prägen. Das Buch zeigt etwa an vielen Beispielen (siehe z.B. das mittlere Zitat oben) auf, wie die eigene soziale Schicht und der eigene kulturelle und familiäre Hintergrund Türen öffnet oder schließt, wie schwierig es sein kann, diesem Hintergrund zu entfliehen und wie wenig Bewusstsein auf Seiten der Privilegierten dafür oft besteht, sowohl historisch als auch in der heutigen Zeit. Damit bietet das Buch viel Stoff zum kritischen Reflektieren und auch für Diskussionen mit anderen und eignet sich dadurch auch besonders gut für gemeinsame Leserunden.

Viertens authentisch gezeichnete, tiefgründige und facettenreiche Figuren und eine spannend erzählte Geschichte. Dieses Buch hat mich gepackt, wie schon länger keines mehr, und als ich die liebevoll gezeichneten Figuren einmal kennen gelernt hatte, war ich sehr schnell emotional tief mit ihnen und ihrem Schicksal verbunden, habe mitgefiebert und wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht. Bis zum Ende, das die verschiedenen Handlungsstränge noch einmal geschickt miteinander verwebt, war das Buch absolut fesselnd.

Es handelt sich hierbei also um ein literarisches Meisterwerk, wie ich schon länger keines mehr gelesen habe. Im Klappentext findet sich die Aussage des Schriftstellers Hanif Kureishi, es handle sich bei Elif Shafak um "eine der besten Schriftstellerinnen der Welt" - dem kann ich absolut zustimmen und werde definitiv noch weitere Bücher von ihr lesen.

Empfehlen kann ich das Buch allen, die sich für wirklich gute Literatur und/oder für die angesprochenen Themen interessieren, dieses Buch ist wirklich ein besonderer Lesegenuss.

Nötig ist allerdings, sich innerlich auch für sehr schwierige Themen menschlicher Grausamkeit zu wappnen: diese hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, es gibt sie leider bis heute, und sie kommen auch detailliert im Buch vor.

Das macht beim Lesen gerade deshalb emotional besonders betroffen, weil es aufgrund der gut recherchierten wahren Hintergründe eben nicht möglich ist, sich mit der Vorstellung, es sei nur eine Geschichte, davon zu distanzieren: schreckliche Dinge werden Menschen, Tieren und der Natur durch andere Menschen angetan, bis zum heutigen Tag, und Elif Shafak spricht das klar und mutig an.

Es ist also trotz der schönen, poetischen Sprache und der spannenden Geschichte nicht nur ein reiner Lesegenuss, sondern macht auch sehr nachdenklich und sensibilisiert für das Leid der Welt und für das, was Menschen, Tieren und Natur angetan wird, bis zum heutigen Tage. Damit kann es aber auch aufrütteln, sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten für eine bessere Welt einzusetzen.

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