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Veröffentlicht am 09.06.2024

Vielschichtiges und Jahrzehnte umspannendes Bild einer persischen Oberschichtsfamilie

Die Perserinnen
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Sanam Mahloudji nimmt eine interessante Perspektive ein, wenn sie über einen Zeitraum von fast 80 Jahren hinweg die weibliche Seite einer iranischen Familiengeschichte erzählt. Denn sie nähert sich in ...

Sanam Mahloudji nimmt eine interessante Perspektive ein, wenn sie über einen Zeitraum von fast 80 Jahren hinweg die weibliche Seite einer iranischen Familiengeschichte erzählt. Denn sie nähert sich in ihrem Debütroman „Die Perserinnen“ den Frauen einer Familie, die vor der Islamischen Revolution 1979 zur Oberschicht des Iran gehörte. Elisabeth ist schätzungsweise in den 1930ern als Enkelin des „Großen Kriegers“ geboren. Ein Mann, der laut Familiengeschichte sein Leben im Kampf für einen demokratischen Iran ließ. Das Familienvermögen und -prestige basiert auf diesem Vorfahr. Während Elisabeth in ihrer Kindheit und Jugend wie eine Prinzessin von der Bevölkerung Teherans behandelt wurde, gab sie später dieses Bewusstsein für Stellung an ihre Kinder weiter. Zwei davon sind Sima und Shirin, welche - ebenso wie ihr Bruder Nadar - im Zuge der Islamischen Revolution über Südfrankreich in die USA „flüchteten“. Deren Kinder Bita und Mo wuchsen dann in den USA auf, während Shirins älteste Tochter Niaz bei Elisabeth im Iran zurückblieb und dort aufwuchs.

Die Gegenwartshandlung des Romans setzt im Weihnachtsurlaub des US-amerikanischen Teils der persischen Familie in Aspen in 2004/2005 ein. Wir erleben mit, in welch einem Überfluss diese Familie lebt. Und das macht für mich schon einmal einen kreativen Ansatz das Romans aus, werden doch sonst häufig Geschichten von stark benachteiligten und unterdrückten Familien aus dem Iran in der Literatur beschrieben. Auf den ersten Blick scheint diese reiche Familie in einer vollkommen sorgenfreien Sphäre zu leben. So auch Shirin, die mit um die 50 Jahren aufgetakelt in einer Bar verhaftet wird, weil sie angeblich ihre eigenen Prostitution anbahnte. Dabei liegt es eher daran, dass Shirin eine hoch theatralische Persönlichkeit hat und überall, wo sie hinkommt eine Szene machen muss. Sie möchte ununterbrochen im Mittelpunkt stehen und gerät dadurch auch sehr schnell zur anstrengendsten, aber nicht uninteressantesten Person dieses prosaischen Figurenreigens. Allerdings leitet die Autorin das Gehabe von Shirin sehr gut her, weshalb sie zu so einer „unsympathischen Figur“ wird, die man unterm Strich eigentlich doch gern begleitet. Wir folgen in wechselnden Kapiteln immer den einzelnen Frauen der Familie zu unterschiedlichen Zeiten von den 1940ern bis zum gegenwärtigen Plotverlauf, der sich um Shirins Anzeige in 2005 dreht. Dabei spricht eine Figur auch aus einer Zwischenwelt kurz vor dem Jenseits, denn wie wir gleich zu Beginn erfahren, ist Sima - Bitas Mutter - bereits im April 2004 verstorben.

Durch diese multiperspektivische Herangehensweise bekommen die Lesenden ein facettenreiches Bild zur Familiengeschichte aber auch zu den einzelnen Lebensläufen der Frauen. Durch die Figuren Elisabeth und Niaz, die die letzten 25 Jahre im Iran verblieben sind, bekommt man neben den Eindrücken einer reichen, persischen Familie in den kapitalistischen USA auch einen sehr guten Einblick in das Leben von Zurückgebliebenen, die unter den Ayatollahs nicht mehr ihrem Leben in Saus und Braus nachgehen können.

Obwohl ich schon einige informative Texte über die Geschichte und die Menschen des Irans gelesen habe, hat mir „Die Perserinnen“ doch immer wieder noch unbekannt Informationen vermittelt und neue Blickwinkel ermöglicht. Die Figuren werden in ihren Handlungen und Einstellungen sehr gut hergeleitet und man bekommt ein umfangreiches Bild ihrer Sozialisation und ihrer Lebensumstände. Auch zur iranischen Historie wurden politische Zusammenhänge leicht verständlich dargestellt, was das Buch zu eines äußerst lesenswerten Roman macht.

Immer tiefer dringt man in die einzelnen Schicksale und Köpfe der Figuren, was einen starken Sog entwickelt. Allein zum Ende hin wird mir der Roman zu verkopft und zu erklärend. Bis zum Ende wurde mir außerdem nicht klar, warum die „Elisabeth“-Kapitel die einzigen sind, die aus der personalen Perspektive heraus erzählt sind. Alle anderen Frauen berichten aus der Ich-Perspektive, selbst die verstorbene Sima.

Für mich stellt „Die Perserinnen“ ein starkes Debüt dar, welches eine klare Leseempfehlung von mir erhält. Ich freue mich darauf, von der Autorin noch mehr zu lesen.

4,5/5 Sterne

PS: Ein Kuriosum, welches ich so noch nie gesehen habe: Das Buch wurde in englischer Sprache verfasst, da die Autorin schon als Kind aus dem Iran in die USA auswanderte. Die deutsche Übersetzung des Romans ist allerdings die allererste Veröffentlichung des Textes. Der englischsprachige Orignaltext wird erst in 2025 (!) erscheinen, ebenso wie die Veröffentlichungen in anderen Ländern. Siehe sanammahloudji.com:

„Her debut novel THE PERSIANS will be released in February & March 2025 with Fourth Estate (UK) and Scribner (US). It will also come out in translation in Germany (Piper), the Netherlands (Ambo Anthos), Hungary (Europa), Croatia (Fraktura) and Romania (Polirom). The German edition will be released first on May 31, 2024!“

PPS: Falls jemand vom Verlag meine Rezi lesen sollte: Für eine (hoffentlich gedruckte) zweite Auflage: Auf S. 319 heißt es, dass Sima am „1. April 1994“ gestorben sei. Das ist ein Fehler, sie ist in 2004 gestorben. Das könnte beim Lesen so einige irritieren. ;)

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Veröffentlicht am 02.06.2024

Wirkt leider zu gewollt, die Anliegen zu künstlich eingebracht

Ich stelle mich schlafend
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Obwohl ich den Debütroman von Deniz Ohde „Streulicht“ wirklich geliebt habe und mir gleichzeitig das Anliegen der Autorin im vorliegenden Roman „Ich stelle mich schlafend“ - Frauen, denen Schuld, Scham ...

Obwohl ich den Debütroman von Deniz Ohde „Streulicht“ wirklich geliebt habe und mir gleichzeitig das Anliegen der Autorin im vorliegenden Roman „Ich stelle mich schlafend“ - Frauen, denen Schuld, Scham und fehlende Abgrenzungsfähigkeit bezogen auf sexuelle Übergriffe über Generationen anerzogen werden - persönlich sehr wichtig ist und mich grundsätzlich sehr interessiert, konnte mich die Autorin diesmal nicht überzeugen.

Eine personale Erzählstimme folgt größtenteils Yasemin durch ihr Leben bis ins Alter von 35 Jahren. Dort beginnt auch der Roman, denn sie steht nicht nur vor einer Brache zwischen den Häuserblocks, in denen sie aufgewachsen ist, sondern scheinbar auch gleichzeitig vor den Trümmern ihres eigenen (Liebes-)Lebens. Nach 20 Jahren traf sie ihre Jugendliebe Vito wieder, die schon damals nicht perfekt war, wie wir durch Rückblicke erfahren, und in der Gegenwart auch nicht besser wird.

Schon der Einstieg in den Roman fiel mir unglaublich schwer. So kompliziert wird die Eingangsszene, in der Yasemin vor der Brache steht, beschrieben, dass ich das erste Kapitel gleich dreimal lesen musste, um überhaupt eine Ahnung davon zu bekommen, welches Haus jetzt nicht mehr steht und was mir die Autorin überhaupt damit sagen möchte. Besserte sich dann zwar der Lesefluss ein wenig, hatte ich weiterhin das Gefühl, dass häufig Formulierungen zu poetisch gewollt und nicht einem Zweck folgend angewendet wurden. Schon innerhalb der ersten 30 Seiten beschlich mich immer wieder das Gefühl, die Autorin wolle dringend einen gesellschaftskritischen Inhalt unterbringen, habe dafür aber nicht immer zwingend erzählerische Anlässe dafür. Das wirkte auf mich häufig holprig, inhomogen, wenig geschmeidig und aufgepfropft. Gerade zum Ende hin geht es mit der Autorin durch und die Erzählstimme, die dann in die Gedankenwelt von Yasemin rutscht, wird unglaublich erklärend und psychologisierend. So kommt es dann zu Sätzen wie beispielsweise diesen hier: „Aus dem Bedürfnis heraus, mich selbst zu bestrafen, habe ich Männername enttäuscht. Der Rausch meiner Verliebtheit bestand darin, endlich die Gewalt zu erfahren, die ich glaubte verdient zu haben. Ich bin in Vito gelaufen wie in ein offenes Messer. Ich habe geglaubt, in ihm ein neues Leben zu finden, dabei war es Vernichtung, die ich mir in Wirklichkeit erhoffte.“ Ganz ehrlich, wer denkt denn so, außer er bzw. sie kommt gerade aus einer psychotherapeutischen Sitzung, in der über zehn Stunden hinweg an dieser Erkenntnis gearbeitet wurde? Aber auch schon sehr frühe Ereignisse in der Kindheit Yasemins werden von der da noch personalen Erzählstimme immer gleich mit einer Deutung aufgeladen.

Bei mir konnte während der Lektüre leider kaum Nähe zu den Protagonist:innen, nicht einmal ein konkretes, inneres Bild von ihnen hergestellt werden. Zu schwammig blieben mir die Personen Yasemin, ihre beste Freundin Immacolata oder die verhängnisvolle Jugendliebe Vito, sowie ihre Beziehung untereinander. Auch die Familienverhältnisse, in denen Yasemin aufgewachsen ist, bleiben größtenteils im Dunkeln. Nur sehr spärliche Schlaglichter gibt es, die aber gleich vollkommen aufgeladen sind mit gesellschaftlichen Missständen gegenüber Frauen.

Für mich ist dieser Roman leider sprachlich nicht gut gelungen, bleibt in bekannten Mustern hängen und die Figuren sind nicht greifbar. Und so verpufft für mich das Anliegen des Romans und schon kurz nach der Lektüre entschwinden die Erinnerungen daran. Sinnbildlich wie die Pfütze auf dem Cover (welches inhaltlich trotzdem sehr gut zum Roman passt!) verdunstet jeglicher Nachhall zu diesem Roman und es bleibt nicht wirklich etwas hängen. Schade. So konnte Deniz Ohde mich mit ihrem zweiten Roman nicht überzeugen. Aber vielleicht ja wieder mit dem nächsten.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 18.05.2024

Mich hätte ein etwas anderer Fokus mehr interessiert

ruh
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Vielleicht hatte es Şehnaz Dosts Debütroman bei mir deshalb so schwer, weil ich erst kurz zuvor „Dschinns“ von Fatma Aydemir gelesen und geliebt habe. Beide Romane verfolgen eine ähnliche Thematik, sie ...

Vielleicht hatte es Şehnaz Dosts Debütroman bei mir deshalb so schwer, weil ich erst kurz zuvor „Dschinns“ von Fatma Aydemir gelesen und geliebt habe. Beide Romane verfolgen eine ähnliche Thematik, sie beschäftigen sich mit den Familien von türkischen Gastarbeitern, die nun als erste Generation oder als Kinder nachgezogen in Deutschland aufwachsen und dabei auf verschiedenste Herausforderungen stoßen.

In „ruh“ dreht sich die Geschichte um Cemal, der die ersten acht Jahre seines Lebens in der Türkei bei den Großeltern verbracht hat und danach von den Eltern nach Deutschland nachgeholt wurde. Seine Urgroßmutter Süveyde hat er nie kennengelernt, verstarb sie doch kurz vor seiner Geburt. Während der mittlerweile erwachsene Deutschlehrer mit der Scheidung von seiner ebenso türkischstämmigen Ehefrau Gül und dem geteilten Sorgerecht für die geliebte Tochter Ekin zurecht kommen muss und er eine leidenschaftliche Liaison mit Georg eingeht, ereilen ihn immer häufiger diffuse Träume, in denen seine Urgroßmutter Süveyde erscheint und er Lebensereignisse von ihr dadurch miterlebt. Ziemlich schnell stellt sich heraus, dass Süveyde selbst eine Wiedergeborene gewesen ist, die mittels Seelenwanderung in Träumen ein früheres Leben einer anderen Person miterlebte. Man erahnt schon in welche Richtung nun die Geschichte von Cemal geht.

Dost beschreibt sehr solide und für mich auch sehr interessant die gegenwärtigen Erlebnisse von Cemal in einer großen deutschen Stadt, beleuchtet aber auch seine Vergangenheit ebenso wie viele Mikroaggressionen und rassistischen Erlebnissen, denen er bis heute und vor allem als türkischstämmiger Deutschlehrer (welch Skandal! - zumindest für so manchen Elternteil der Schulkinder) ausgesetzt ist. Mich hätte inhaltlich besonders der Erzählstrang um das Zusammensein mit dem deutschstämmigen Georg und damit die bisexuelle Beziehung, das daraus möglicherweise entstehende Spannungsfeld und auch die zusätzlich in der Öffentlichkeit auf Cemal fokussierte Außenwahrnehmung durch „anders aussehen“ und „anders lieben“ sehr interessiert. Leider beendet Cemal schon zügig im Roman Cemal diese Beziehung und ab diesem Zeitpunkt konzentriert sich der Plot mehr auf das Thema der möglichen Seelenwanderung sowie der Vergangenheit von der Urgroßmutter. Diese Träume, bei denen es mir manchmal schwerfiel durchzublicken, ob diese jetzt Süveyde oder Cemal träumt, helfen ihm im Verlauf besser, sich selbst zu finden.

Ich muss zugeben, dass ich nach dem ersten Drittel des Romans diesen vorerst abgebrochen hatte, weil mir das Thema der Seelenwanderung hier zu viel Raum einnahm und der Fokus weg von Cemals Gegenwart wanderte. Mich hätte diese eindeutig mehr interessiert oder die getrennten Abschnitte im Sinne einer Rückschau ins Leben der Urgroßmutter hätten besser getrennt und etwas länger, tiefgründiger sein müssen, um mein Interesse zu halten. Ich habe das Buch dann doch – aber ehrlich gesagt durch ein bisschen Querlesen – noch beendet. So richtig überzeugen konnte er mich in seiner Gesamtkonstruktion leider nicht. Wie gesagt, sprachlich sehr solide und inhaltlich mit viel Potenzial, konnte er mich doch nicht so richtig mitnehmen. Durch das immer wieder Wegschwenken von Cemal blieb mir dieser recht fern, ebenso wie die Urgroßmutter in ihrer Zeitebene.

Somit kann ich leider für den Roman „ruh“ keine Leseempfehlung aussprechen, vor allem da mir im Vergleich empfehlenswertere Romane einfallen. Das tut mir leid, gefällt mir doch die Gestaltung und auch Haptik des gebundenen Buches aus dem Ecco Verlag sehr gut.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 10.05.2024

Der Aufstieg und Fall der Juniper Song

Yellowface
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Bereits im Alter von 22 Jahren wurde Rebecca F. Kuang, eine chinesischstämmige, US-amerikanische Autorin, mit ihrem Debütroman „The Poppy War“ für so einige Buchpreise nominiert. Nun sechs Jahre später ...

Bereits im Alter von 22 Jahren wurde Rebecca F. Kuang, eine chinesischstämmige, US-amerikanische Autorin, mit ihrem Debütroman „The Poppy War“ für so einige Buchpreise nominiert. Nun sechs Jahre später erscheint ihr fünfter Roman „Yellowface“ auch auf Deutsch.

In diesem Werk webt die Autorin sehr wahrscheinlich eigene Erfahrungen als junger Shooting-Star in der Literaturbranche mit ein. Doch entwirft sie keine Ich-Erzählerin, die Kuang selbst entspricht, nein, sie macht das genaue Gegenteil. Wir lesen die Geschichte aus Sicht der weißen US-Amerikanerin June Hayward. Sie ist eine erfolglose Autorin, Ende Zwanzig, und zufällig einzige Zeugin als die im Vergleich massiv erfolgreiche chinesischstämmige Jungautorin Athena Liu bei einem Unfall verstirbt. June und Athena, so erfahren wir, waren seit dem Collage lose befreundet, aber schon immer und besonders nachdem Athena ihren ersten Buchvertrag bekam, überwiegt bei June der Neid gegenüber ihrer Mitstreiterin. Also schnappt sie sich nach deren Tod den aktuellsten Romanentwurf für „Die letzte Front“, ein Historischer Roman, der die chinesischen Arbeitercorps im Ersten Weltkrieg thematisiert. June passt den Roman an ihre Schreibe an, bekommt einen hochdotierten Buchvertrag bei einem angesehenen Verlagshaus, nimmt ihren von der Hippie-Mutter gewählten Geburtsnamen - Juniper Song (Hayward) -, der zufällig eine (nicht existente) chinesische Abstammung impliziert, und somit beginnt ein wilder Ritt durch die Literaturwelt.

Kuang nutzt hier das Stilmittel der subjektiven, unzuverlässigen Erzählstimme, um ein Vexierspiel im Literaturbusiness auszubreiten, welches verschiedenste Themen rund um kulturelle Aneignung, Diversität in der Kultur, aber auch Hassmitteilungen im Internet und allgemeine Empörung aufgreift. Diese Erzählerin manipuliert uns und gibt uns bestimmte Informationen nur, wenn sie es will und es in ihre Agenda passt. Und auch wenn Juniper Song/June Hayward hier von Anfang an als von der Ungerechtigkeit ihr gegenüber (Nichtwahrnehmung ihrer Literatur) von Neid zerfressene Unsympathin dargestellt wird, so schafft Kuang doch Momente, in denen die Leserschaft durchaus mit Juniper mitfühlen kann und wird. Gerade wenn es um Hass und Gewaltandrohungen im Netz geht, wirkt das Mitgefühl für Juniper universell für alle in der Öffentlichkeit Stehende, die Anfeindungen ertragen müssen. Gleichzeitig muss man bei der Lektüre allerdings aufpassen, dass man nicht einmal zu schnell der Argumentation Junipers folgt und nickend ihr zustimmt, denn gerade dort versteckt sich häufig der sog. „white gaze“ (der „weiße Blick“), eine Perspektive, die besonders Menschen weißer Hautfarbe beim Konsum von Literatur und anderen Medienerzeugnissen einnehmen. Und genau das ist unter anderem auch wiederum Inhalt des Romans, wenn Juniper den von Athena entworfenen Roman auf die Sichtweise einer weißen Person umschreibt, obwohl es dort historisch um das Leid von chinesischen Arbeitern in Europa geht. Zu vielfältig sind die von Kuang aufgezeigten Mechanismen, die in „Yellowface“ vorkommen, um sie an dieser Stelle alle zu erläutern.

Grundsätzlich kann man sagen, dass Kuang ein sehr hartes Bild der Literaturbranche zeichnet. Nach welchen Kriterien Autor:innen ausgewählt werden, Bücher beworben und Fakten verdreht, um maximale Gewinne zu erreichen. Ob es sich hierbei nun um eine überhöhte Satire oder eine annähernd realistische Darstellung der gegenwärtigen Literaturwelt handelt, kann ich nicht einschätzen. Überhöht oder nicht, der Roman gibt einen guten und facettenreichen Einblick und ist allein dafür schon äußerst interessant und lesenswert.

Allein der Plot erschien mir im letzten Viertel etwas zu hinken. Immer mehr doppelte Böden und Möglichkeiten zieht die Autorin in die Geschichte ein, wodurch sie zuletzt etwas ihren Biss und Charme verliert. Insgesamt empfinde ich aber „Yellowface“ als einen sehr gelungenen Roman, der zeigt, dass die Autorin nicht ausschließlich Bücher mit phantastischem Setting erschaffen kann. Eine Leseempfehlung!

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Gute Fortsetzung zu „22 Bahnen“

Windstärke 17
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Ich muss zugeben, dass ich bezüglich dieses Fortsetzungsromans von Caroline Wahl zwiegespalten bin. Ihren Roman „22 Bahnen“ empfand nicht nur ich damals als ganz starkes Debüt und er wurde sogar zum „Lieblingsbuch ...

Ich muss zugeben, dass ich bezüglich dieses Fortsetzungsromans von Caroline Wahl zwiegespalten bin. Ihren Roman „22 Bahnen“ empfand nicht nur ich damals als ganz starkes Debüt und er wurde sogar zum „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023“ gekürt. Meines Erachtens vollkommen zu Recht! Dort drehte sich alles um Tilda, Anfang Zwanzig, die mit Nebenjobs versucht nicht nur ihr eigenes Mathematik-Studium zu finanzieren, sondern auch noch das Leben der alkoholkranken Mutter und ihrer kleinen Halbschwester Ida. Sie trifft außerdem einen alten Schulkameraden Viktor wieder, verliebt sich nach ersten Anlaufschwierigkeiten, denn auch er hat familiär viel zu tragen, und schafft es letztlich sich mit ihrer schwierigen Familiensituation auseinanderzusetzen und für eine andere Stadt und damit ihren Traum von der Promotion zu entscheiden.

Warum erzähle ich hier, was in „22 Bahnen“ passiert? Weil vom groben Konstrukt her ähnliches in „Windstärke 17“ passiert. Hier begleiten wir die nun auch Anfang Zwanzigjährige Ida, die ihr Literaturstudium weiterhin in der Heimatstadt verfolgte und bei der alkoholkranken Mutter wohnte. Nun erfahren wir allerdings, dass die Mutter vor wenigen Wochen verstorben ist und Ida muss mit ihrer Trauer aber auch mit der Entscheidung, wie ihr Leben weitergehen soll, zurechtkommen. Sie flüchtet auf die Insel Rügen, wird von einem liebevollen, alten Ehepaar aufgenommen und lernt Leif, der ebenso familiär und persönlich schon viel zu tragen hat, kennen und verliebt sich nach ersten Anlaufschwierigkeiten in ihn. Mithilfe von Leif und dem Ehepaar lernt sie mit ihrer Trauer umzugehen, sich mit ihrer schwierigen Familiensituation auseinanderzusetzen und für ihren Wunsch vom Schreiben zu entscheiden. Während für Tilda das Freibad und die Regelmäßigkeit des Bahnenschwimmens ein wichtiger Copingmechanismus ist, stellt dies für Ida die Ostsee und das lebensgefährlich weite Rausschwimmen dar. Fällt euch etwas auf?

Für sich genommen ist „Windstärke 17“ wieder ein schön geschriebener Roman, der Menschen in belastenden Lebenssituationen zeigt und die Möglichkeiten diese mit Hilfe von anderen und durch eigene gefundene Stärke zu bewältigen. Das kann Caroline Wahl wirklich sehr gut. Allerdings drängt sich für mich die Frage auf, warum dieser Folgeroman unbedingt so stark dem erfolgreichen Debüt ähneln muss. Natürlich gibt es auch Unterschiede, keine Frage. Aber diese reichen mir nicht aus, um eine erneut hervorragende Leseerfahrung zu haben. Außerdem störten mich in diesem Buch die Dialoge ab und an. Diese wechseln zwischen in Anführungszeichen gesetzte Sätze, die im Fließtext auftauchen (so mag ich es) und Dialogen, die formell wie in einem Theaterstück über Seiten hinweg untereinander angeordnet sind. Mir kommt es generell so vor, als ob dieser Roman dialoglastiger ist als der vorherige. Und das, was ich hier gerade mache, ist auch ein Problem, welches mit der Entscheidung einen so ähnlichen Roman zu schreiben, einhergeht: Man vergleicht unwillkürlich oder auch willkürlich während des Lesens ständig „Windstärke 17“ mit seinem Vorgänger „22 Bahnen“. Diese Nähe tut meines Erachtens dem vorliegenden Roman nicht gut.

Ich habe „Windstärke 17“ durchaus gern gelesen und auch an der ein oder anderen Stelle mit Ida mitgefiebert, fand viele Figuren sehr interessant und die Dynamiken gut dargestellt. Trotzdem habe ich im Hinterkopf wie sehr mir damals „22 Bahnen“ gefiel und ich finde, dieser hier kommt da nicht heran. Und es tut mir so leid, dass ich den Vergleich nicht einfach weglassen kann. Das provoziert die Autorin leider durch ihre Themen- und Plotwahl. Ich hätte gern mal ein ganz anderes Buch dieser vielversprechenden Autorin gelesen.

3,5/5 Sterne

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