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Veröffentlicht am 15.04.2023

Die Ungleichheit spüren

Die spürst du nicht
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Daniel Glattauers Roman „Die spürst du nicht“ überrumpelt, schüttelt durch und entlässt einen fassungslos sowie hoffentlich auch im Inneren verändert. Dieses zunächst mit recht einfacher Sprache und stilistisch ...

Daniel Glattauers Roman „Die spürst du nicht“ überrumpelt, schüttelt durch und entlässt einen fassungslos sowie hoffentlich auch im Inneren verändert. Dieses zunächst mit recht einfacher Sprache und stilistisch auffällig berichtartig daherkommende Werk entpuppt sich mit der Zeit zu einem schmerzhaft wahrhaftigen Sittengemälde unserer aktuellen Zeit.

Wir bekommen zu Beginn die Familienmitglieder zweier gehobener, österreichischer Familien - ja man könnte fast sagen – geschildert, welche zusammen in die Toskana in den Urlaub gefahren sind. Da ist die Winzerfamilie mit dem überdreht optimistischen Winzer und seiner Frau, die mal Ambitionen zur Schauspielerin hatte, es aber nur zur Marillen-Königin geschafft hat, und ihrem gemeinsamen, zurückgezogenen Sohn. Da ist die Politikerinnen-Familie mit der viel beschäftigten Grün-Politikerin, dem besserwisserischen Akademiker, der unkontrollierbaren kleinen Tochter und der 14-jährigen dauergelangweilten Tochter, deren Lebensinhalt ihr Social Media Auftritt zu sein scheint. Ach ja, und da ist ganz ruhig und fast kaum wahrnehmbar auch noch eine Schulkameradin der Tochter mit im Urlaub dabei. Aayana, ein somalisches Flüchtlingsmädchen, welches auf Drängen der Tochter, um ihrer eigenen Langeweile entgegenzuwirken, mit in den Urlaub genommen wurde. Fast wie in der Regieanweisung zu einem Theaterstück oder – wenn man es heftiger formulieren möchte – wie in einer Versuchsanordnung zu einem Experiment, wird die Ausgangssituation mit all ihren Elementen und Variablen eingangs geschildert, nur um dann alle in einer Villa in der Toskana aufeinandertreffen zu lassen. Was herauskommt ist ein dramatisches Unglück, welches den Fortgang des gesamten Buches bestimmen wird.

Was verwundert: Dieses Unglück geschieht schon ziemlich zügig im Verlauf des Buches und in der Hauptsache sind wir nun Rezipienten der Auswirkungen dieses schweren Unglücks. Mit verschiedenen Stilmitteln arbeitet sich nun Glattauer an der Reaktion einer (Medien-)Gesellschaft auf die Geschehnisse vom Beginn des Buches ab. Mit präziser Sprache und authentisch wirkenden Medienreaktionen entwirft der Autor ein Sittengemälde unserer modernen Welt, in dem so gut wie niemand gut dasteht und alle letztlich Verlierer sind. Er scheint zunächst die Personalliste mit stereotypen Figuren zu bestücken, nur um sie im Verlaufe des Buches mitunter (nicht immer) die antizipierten Annahmen der Leser:innen über den Haufen zu werfen und sie ganz anders als erwartet handeln zu lassen. So einfach die Sprache wirkt, so brillant nutzt sie Glattauer, um in wahnwitzigen Dialogen große Fragen nach Moral und ethisch richtigem Handeln zu stellen. Der Text liest sich dabei leichtfüßig und kurzweilig, obwohl er inhaltlich keinesfalls ein Leichtgewicht darstellt. Denn es handelt sich um eine eindeutige Gesellschaftskritik, die recht offensichtlich das haarsträubende Verhalten von selbstsüchtigen Personen herausstellt, soziale Ungerechtigkeiten anprangert aber auch zwischen den Zeilen und manchmal in einem kurzen Internetkommentar verpackt die Abgründe heutiger Einstellungen aufzeigt. Letztlich geht es darum, denen eine Stimme zu geben, die unserer Sprache nicht mächtig sind und sich dadurch in unserer westlichen Gesellschaft nicht wahrnehmbar machen geschweige denn ihr Recht durchsetzen können.

So sagt eine von Glattauers Figuren an einer der vielen mitreißenden Stellen: „Sie sind darunter. Unter unserer Wahrnehmung. Unter unserem Interesse. Ihre Geschichte will hier keiner hören. Und sie können sie auch nicht erzählen. Sie werden nicht danach gefragt. Und von sich aus schaffen sie es nicht, sich zu Wort zu melden. Ihnen fehlen die Mittel. Ihnen fehlt unsere Kultur. Ihnen fehlt unsere Bildung, auf die wir uns so viel einbilden. Und es fehlt ihnen vor allem an unserer Sprache. Ohne Sprache kein Verständnis. Ohne Sprache keine Geschichte.“

Dadurch, dass die somalische Familie von Aayana im Buch über weite Strecken nicht zu Wort kommt, sie gar nicht gespürt wird und untergeht, spielt der Autor genau das durch, was auch in der realen Welt millionenfach geschieht. Mit seinem zunächst locker daherkommenden, dann aber schnell zunehmend berührenden Drama frisst sich das Anliegen einer scharfen Gesellschaftskritik tief in das Denken und Fühlen der Lesenden. Mich hat der Roman ergriffen und lange nicht wieder losgelassen, weshalb ich ihn nur eindringlich für eine Lektüre weiterempfehlen kann. Um eine Urlaubslektüre handelt es sich keinesfalls, hier sollte man sich nicht täuschen lassen.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 14.04.2023

Geiz in Zeiten historischer Umbrüche

Das Fräulein
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In seinem 1944 geschriebenen und 1945 erstmals veröffentlichten Roman „Das Fräulein“ nimmt der einzige Literaturnobelpreisträger Jugoslawiens nicht nur das titelgebende „Fräulein“ in den Fokus, sondern ...

In seinem 1944 geschriebenen und 1945 erstmals veröffentlichten Roman „Das Fräulein“ nimmt der einzige Literaturnobelpreisträger Jugoslawiens nicht nur das titelgebende „Fräulein“ in den Fokus, sondern auch die Umbrüche im gesellschaftspolitischen Gefüge rund um den Ersten Weltkrieg und die Goldenen Zwanziger auf dem Balkan.

Im Zentrum des Romans steht Rajka, deren Vater, ein angesehener Kaufmann Sarajevos, stirbt als sie selbst erst 15 Jahre alt ist. Er nimmt ihr am Sterbebett das Versprechen ab, ihr Leben lang sparsam zu sein. Sie solle ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft auf ihre Sparsamkeit richten. Sie müsse gegen sich und andere unbarmherzig sein, „all die sogenannten höheren Rücksichten in sich abtöten, die noblen Gewohnheiten wie inneren Edelmut, Großzügigkeit und Empfindsamkeit.“ Und genau das macht daraufhin Rajka, „das Fräulein“ wie sie von den Bewohnern Sarajevos genannt wird, auch wortgetreu. Sie legt all diese „Schwächen“ ab und wird eine unbarmherzige junge Frau.

Gleich zu Beginn erfahren wir, dass es mit dem Fräulein nicht gut ausgehen wird, wie begleiten sie nun durch die Augen des auktorialen Erzählers, welcher sich als Teil der Bevölkerung Sarajevos sieht, ca. 30 Jahre lang bis zu ihrem Ende als „alte Jungfer“ mit 45 Jahren. Historisch deckt dieser Roman gerade die Zeitspanne kurz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg ab und endet 1935.

Diese historische Episode scheint vom Autor keinesfalls willkürlich gewählt, war er doch selbst zu Beginn des Ersten Weltkriegs – welcher bekanntermaßen mit dem „Attentat von Sarajevo“ auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand seinen Anfang nahm – Mitglied der revolutionären Organisation Mlada Bosna und verbrachte ein Jahr im Gefängnis aufgrund von Verwicklungen mit Drahtziehern des Attentats. Später sollte er als angesehener Diplomat für den jungen Vielvölkerstaat Jugoslawien tätig sein.

So bekommen wir im ersten und letzten Drittel des Romans ein ausgefeiltes und sprachlich grandioses Psychogramm einer jungen Frau gezeigt, die durch ein verhängnisvolles Versprechen am Sterbebett des Vaters von einfacher Sparsamkeit in eine „Sucht des Geizes“ abdriftet. Dieses Leben dessen Sinn und Ziel der Geiz ist, bekommen wir unglaublich plastisch und detailliert beschrieben. So wird das Fräulein sogar durch ihre krankhafte Rigidität bis in den Tod getrieben. Im Mittelteil wartet der Roman jedoch mit einer Überraschung auf: in der Peripherie, neben den zwielichtigen Geldgeschäften von Rajka und ihrem Untergang mit Ansage, erleben wir das Attentat von Sarajevo, die Folgen des Attentats für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Menschen der Stadt, die Zeit des Krieges, die Idee von einer anderen Gesellschaftsordnung sowie die überschwänglichen „Zwischenkriegsjahre“ der Goldenen Zwanziger mit.

Gerade diese Kombination aus Psychogramm einer ungewöhnlichen Frau und gesellschaftlichen Zuständen in dieser Zeit an diesem Ort (neben Sarajevo wird auch Belgrad eine Rolle spielen) empfand ich während der Lektüre als unglaublich bereichernd. Sprachlich wie auch inhaltlich konnte mich Ivo Andric mit seinem Roman so sehr erreichen, dass ich nach weiteren Werken des Autors nun die Augen offen halten werde.

Ergänzt wird diese Ausgabe von Zsolnay von einem Nachwort Michael Martens‘, welches sich genauer mit dem zentralen Thema „Geiz und Ehrgeiz“ beschäftigt. Hier zieht Martens Parallelen zwischen der Protagonistin Rajka und ihrem Autor Ivo Andric. Dieser sei damals als geizig verschrien gewesen, was es jedoch zu überprüfen gilt. Auch wird ein Blick auf die Sonderrolle Rajkas als krankhaft geizige Frau in der Literaturgeschichte geworfen und „Das Fräulein“ in einen Kontext zu den anderen beiden Romanen der inoffiziellen „Balkan-Trilogie“ gesetzt. Andric habe zwischen 1941 und 1944 drei Romane während der deutschen Besetzung Belgrads geschrieben, wovon „Das Fräulein“ das letzte und auch damit nächste zum damals aktuellen Weltgeschehen gewesen ist. Das Nachwort ist durchaus informativ und interessant zu lesen, wenngleich ich mir an dieser Stelle doch eher eine Einordnung in die eigenen gesellschaftspolitischen Bestrebungen des Autors zur beschriebenen Zeit gewünscht hätte. Da er selbst ein Protagonist in diesem welthistorischen Geschehen gewesen ist, hätte es sich angeboten, das Nachwort für eine biografische Erörterung im Zusammenhang mit den geschilderten Szenen im Buch zu nutzen.

Somit kann ich die Lektüre dieses sprachlich hervorragend präzisen, psychologisch interessanten und historisch durchaus relevanten Romans uneingeschränkt empfehlen. Der Roman für sich genommen ist für mich ein 5-Sterne-Buch, allein das nicht hundertprozentig zufriedenstellende Nachwort führt zu minimalem Abzug.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 28.03.2023

In 22 Bahnen zum Highlight

22 Bahnen
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Im Debütroman der 1995 geborenen Autorin Caroline Wahl schwimmt eine junge Frau gegen ihre schwierigen Familienverhältnisse an und einem unabhängigeren Leben entgegen.

Die Ich-Erzählerin Tilda ist Mitte ...

Im Debütroman der 1995 geborenen Autorin Caroline Wahl schwimmt eine junge Frau gegen ihre schwierigen Familienverhältnisse an und einem unabhängigeren Leben entgegen.

Die Ich-Erzählerin Tilda ist Mitte Zwanzig, studiert Mathematik und hat einen Nebenjob, um etwas hinzuzuverdienen und geht zum Ausgleich jeden Abend 22 Bahnen ins Freibad schwimmen. Klingt erst einmal ganz durchschnittlich. Ganz so durchschnittlich sieht ihr Leben bei genauerer Betrachtung gar nicht mehr aus. Denn Ihre Mutter ist Alkoholikerin und schon seit vielen Jahren nicht mehr fähig die Familienangelegenheiten am Laufen zu halten. Die 10jährige Halbschwester Ida lebt in sich zurückgezogen, malt Bilder von Mensch-Tier-Monstern und hat nur ihre große Schwester, die sie beschützt. Der Vater von Tilda verließ die Familie früh, Idas Vater ist nicht bekannt, war noch nie anwesend. Mit dem Nebenjob finanziert Tilda nicht nur ihr Studium sondern auch noch ihre Familie, welche am unteren Existenzminimum lebt.

Nun könnte man meinen, dass es sich hierbei um eine weitere stereotypische Betrachtung einer bildungsfernen Familie in der untersten sozioökonomischen Schicht handelt. Aber weit gefehlt, die Mutter stand kurz vor ihrem Magisterabschluss im Literaturstudium, als sie mit Tilda schwanger wurde, das Studium abbrach und seitdem die meiste Zeit zu Hause blieb; zunächst für das Kind, später aufgrund des Alkohols. Der Vater war damals Doktorand im Germanistischen Seminar und ist mittlerweile Professor. Trotzdem lässt er sich in seiner ersten Familie nicht mehr blicken, seit er eine neue Familie mit neuen Kindern hat. Tilda lernte schnell den Unterschied zwischen ihrer Familie und der Familie ihrer besten Freundin Marlene, die aus der gut situierten Mittelschicht stammt, denn bei ihnen gab es immer einen Abendbrottisch, an dem alle zusammen aßen und sich unterhielten. Diese intakten Familien nennt sie seitdem nur noch „Abendbrottisch-Familien“.

Wirklich unglaublich mitreißend inszeniert Caroline Wahl nun Tildas und Idas Leben, ihren Zusammenhalt und auch ihre Abhängigkeit voneinander, die Tilda daran hindert mit ihrem eigenen Leben voranzukommen. Das macht die Autorin über eine klare Sprache mit Bildern, die hängen bleiben, wie eben die „Abendbrottisch-Familie“ und Sätzen, die sich einbrennen. Zunächst ist man erst einmal verwundert, wenn die Autorin alle Zahlwörter als Ziffern schreibt. Man fragt sich, ob sich hier nun die neumodische Kurznachrichtenschreibweise eingeschlichen hat, wenn die Erzählerin zum Beispiel meint, dass sie 3-mal jemanden getroffen hat. Aber dann wird es klar, die Ich-Erzählerin ist Mathematikstudentin, seit sie ein Kind ist, denkt sie in Zahlen und Ziffern, zählt alles und jeden ab, rechnet automatisch zusammen, stellt Analysen aufgrund dessen her. So auch, wenn sie an der Supermarktkasse sitzt, nicht aufsieht und die Artikel auflistet, die sie gerade über den Scanner zieht, dann entwirft sie im Kopf einen kurzen Steckbrief zur vermuteten Person und überprüft ihre Hypothese dann durch Anschauen der Person. Meist liegt sie richtig.

In der Quintessenz geht es im Familie und vor allem Schwesternschaft in diesem Buch. Die Liebe zwischen diesen beiden Halbschwestern ist so wunderbar, dass sie die Lesenden über die schrecklichen Passagen, in welchen die Mutter mal wieder beweist, was für eine miese Mutter sie ist, wenn sie gewalttätig wird und von Tilda nur noch „das Monster“ genannt wird, hinwegrettet. Aber auch die Protagonistin und ihre Schwester rettet diese Liebe. Einmal sagt Tilda über ihre Beziehung zu Ida:

„Wir sind eine Familie. Wir sind ein intakter Organismus, wir funktionieren zusammen. Gestört werden wir nur durch den letzten Teil unserer Familie [die Mutter]. Also eigentlich sind wir eine überwiegend intakte Familie. Zu 66,67 Prozent. Wir sind intakte Schwester. Zu 100 Prozent.“

Dadurch lastet aber auch schon seit Jahren eine große Verantwortung auf Tilda und wie sie damit im Laufe des Buches lernt umzugehen und sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse dabei nicht zu vergessen, darum geht es hier auch.

Mich hat das Buch vollkommen in seinen Bann gezogen. Ich bin diesem Schwesternpaar so unglaublich gern gefolgt, obwohl hier alles andere als Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung herrscht. Bei folgender Gleichung kann es nur eine logische Schlussfolgerung geben: Wenn ich nichts am Buch auszusetzen habe + es innerhalb von einem Tag gespannt eingesogen habe + mich die Geschichte sowie die Figuren emotional sehr berührt haben + ich kaum abwarten kann zu lesen, was die Autorin nach diesem starken Debüt schreibt = 5,0 Sterne. Zu 100 Prozent sicher.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.03.2023

Räume der Unabhängigkeit aber auch einer massiven Überforderung

Räume des Lichts
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Mit „Räume des Lichts“ hat die 1947 geborene und 2016 verstorbene, japanische Schriftstellerin Yuko Tsushima 1979 einen für diese Zeit sicherlich hochmodernen und gleichermaßen schonungslosen Roman über ...

Mit „Räume des Lichts“ hat die 1947 geborene und 2016 verstorbene, japanische Schriftstellerin Yuko Tsushima 1979 einen für diese Zeit sicherlich hochmodernen und gleichermaßen schonungslosen Roman über eine alleinerziehende Mutter, deren Unabhängigkeit aber auch großer Überforderung veröffentlicht.

Die Ich-Erzählerin betritt zu Beginn des Romans ihre neue Wohnung. Eine Dachgeschosswohnung in einem Geschäftshaus in Tokio, welche durch die vielen Fenster lichtdurchflutet und strahlend hell erscheint. Man beginnt sofort zu hoffen, dass diese Frau mit ihrer knapp gerade noch zweijährigen Tochter in diesen Räumen einer frohen, leuchtenden Zukunft entgegensieht. Denn ihr Ehemann, der sie bereits mehrfach betrogen hat und auf finanzieller Ebene nichts auf die Reihe bekommt, hat sich von ihr getrennt, um mit der neuen Freundin zusammen sein zu können. Das Sorgerecht will sich die Erzählerin nicht mit ihm teilen, allein sucht sie sich diese Wohnung aus für einen Neustart. Nur leider gelingt ihr dieser Neustart nicht so gut, wie sie es sich vielleicht erhofft hat. Sie geht ihrer Arbeit in einem Archiv weiterhin nach, muss sich um den Haushalt und vor allem um die kleine Tochter kümmern, welche zunehmend unter den zerrütteten Familienverhältnissen zu leiden scheint; an Alpträumen und Wutausbrüchen leidet.

Auf dem Weg des etwas mehr als ersten Jahres als alleinerziehende Mutter begleiten wir nun die Protagonistin und ihre Tochter. Dabei lässt uns Yuko Tsushima ungefiltert an allen vorteilhaften wie auch unvorteilhaften Gedanken der Mutter teilhaben. Wir bekommen zunehmend die Überforderung der Mutter zu spüren, ihre Einsamkeit innerhalb der Zweisamkeit mit der infantilen Tochter. Eine Auszeit ist so gut wie nie möglich und wenn diese, zum Beispiel in Form von einem Barbesuch am Abend passiert, so nur dadurch, dass sie ihre Tochter alleinlassen muss. Obwohl sich die Mutter Mühe gibt, den Ansprüchen dieses Lebens gerecht zu werden, driftet sie immer mehr hin zu einer Vernachlässigung der Tochter ab. Auch erfahren wir, was in ihren Träumen vonstattengeht, nicht selten träumt sie vom Tod ihrer Tochter. Auch in den Wachphasen scheint sie immer mehr der Tod zu begleiten. Im Umfeld nimmt sie immer mehr Todesfälle wahr.

Auch wenn die eben genannte Beschreibung so klingt, als ob es sich hierbei um einen Psychothriller handeln könnte, so trifft dies gar nicht auf den Roman zu. Vielmehr ist er ein knallhartes Psychogramm einer alleinerziehenden Mutter in einer Gesellschaft, welche dieses Konzept (noch) nicht für die einfachen Menschen umsetzbar gemacht hat. Wir bekommen hier nicht die Erfolgsgeschichte einer perfekten Mutter und Powerfrau präsentiert, sondern viel eher die einer fehlbaren Mutter, die trotzdem ihr Bestes gibt. Eines ist diese Frau aber allemal: modern, was man nicht nur an ihrer Entscheidung zum Alleinleben und -erziehen merkt, sondern auch daran, dass sie sich immer mal wieder ein Bier oder einen Whiskey gönnt, dann sich auch erlaubt ausschweifend und laut zu werden. Das ist ein Bild, welches so gar nicht passen will zu dem Bild der stereotypen, immer leisen und höflichen japanischen Frau, welches häufig andernorts vermittelt wird. Mit dieser vollkommenen Offenheit kann der Roman definitiv überzeugen.

Leider endet der als Episodenroman damals in einer japanischen Literaturzeitschrift veröffentlichte Text sehr abrupt und wenig nachvollziehbar in seinen letzten beiden Kapiteln. Als hätte die Autorin gemerkt, dass sie ja nun nur noch zwei Abschnitte veröffentlichen kann und den Sack schnell zumachen muss. Dies ist der einzige Punkt, der das Lektüreerlebnis dieses ansonsten äußerst lesenswerten Romans ein wenig mindert. Sehr aufschlussreich hingegen ist das ergänzende Nachwort der Übersetzerin Nora Bierich, welche nicht nur den Roman hervorragend in ein zeitgemäßes Deutsch überführt, sondern auch die schicksalhafte Verquickung des Romans mit dem Lebensweg der Autorin herausgestellt hat. Eine insgesamt wirklich gelungene Veröffentlichung des Arche Verlags, welcher für uns damit einen japanischen Klassiker für die Wiederentdeckung vorbereitet hat.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.03.2023

Kann man sich ansehen, muss man aber nicht

Seht mich an
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Der Eisele Verlag hat die 1928 geborene und 2016 verstorbene Anita Brookner, welche mit „Hotel du Lac“ 1984 den Booker Prize gewonnen hat, für den deutschen Markt wiederentdeckt und bringt nun – einheitlich ...

Der Eisele Verlag hat die 1928 geborene und 2016 verstorbene Anita Brookner, welche mit „Hotel du Lac“ 1984 den Booker Prize gewonnen hat, für den deutschen Markt wiederentdeckt und bringt nun – einheitlich mit vorangegangenen Veröffentlichungen – den Roman „Seht mich an“ aus dem Jahre 1983 heraus.

Wie einige andere Romane der Autorin beschäftigt sich auch dieser mit der Einsamkeit einer alleinstehenden Frau, jungen bis mittleren Alters, die wohl recht nah an der Autorin selbst angelegt ist. Frances arbeitet als Mitarbeiterin einer medizinischen Bibliothek, welche sich auf die Darstellung von Erkrankungen und Tod in vergangenen Jahrhunderten beschäftigt. Sie lebt allein in der Wohnung ihrer bereits verstorbenen Eltern. Die Mutter pflegte sie noch bis vor zwei Jahren zusammen mit der Haushälterin Nancy, welche die Bedienstetenkammer bewohnt, bis zum Tod. Nun ist nur noch Nancy als Mitbewohnerin in dieser dunklen, altmodischen Wohnung in London übrig. Frances‘ Familie erwirtschaftete „neues“ Geld, weshalb Frances auch jetzt noch recht wohlhabend ist. Trotz allem fühlt sie sich in ihrem Alltag allein und findet erst Kontakt zur Welt, als das schillernde Ehepaar Nick und Alix, welche „altes“ Geld durch die Kolonialgeschichte Großbritanniens besitzen, sie auserwählt, um ihrer Freundschaft würdig zu sein.

Der Roman beginnt mit hochinteressanten Betrachtungen zu Bildnissen von Wahnsinn, Depressionen und Tod in der Kunstgeschichte, sowie einer kurzen Vorstellung der Figuren, welche sich in der besagten Bibliothek herumtreiben. Mit einer sehr präzisen und literarisch niveauvollen Sprache beschreibt Brookner nicht nur diese Bildnisse sondern auch Frances und ihr Umfeld. Atmosphärisch bekommt mein ein Gefühl für ihre beklemmende Wohnung aus einem vorherigen Jahrhundert wie auch für ihre beklemmende Lebenssituation und dem Hadern mit der Einsamkeit sowie dem Wunsch nach sozialer Anerkennung ihrer Person. Nach diesen ersten ca. 70 Seiten verfällt jedoch der Roman leider in eine ständige Wiederholung Frances‘ hadern mit sich und der Welt. Sprachlich zwar weiterhin brillant aber inhaltlich zunehmend nervig gestaltet Brookner die Innenansicht der Ich-Erzählerin Frances. Diese hat in ihrem sozialen Umfeld einige „prototypische“ Einsame und möchte keinesfalls so enden wie diese, weshalb sie sich den auf den ersten Blick unsympathischen und ausnutzenden Nich und Alix anbiedert. Zwischenzeitlich analysiert sie sogar immer wieder, wie falsch diese beiden handeln und wie falsch sie auch für Frances sind, trotzdem sucht sie immer wieder den Kontakt, möchte sie unbedingt von diesen beiden Menschen gesehen werden. Kurze Erleichterung beim lesen kommt auf, als ein potentieller Liebespartner für Frances auftaucht, nur leider entwickelt sich auch daraus nichts Gutes.

So bewegt sich dieser Roman über mindestens die restlichen 200 Seiten immer wieder vor und zurück. Wie bei einer Flimmerbewegung kreist Frances immer wieder um dieselben Probleme, kommt aber nicht vom Fleck. Eine Entwicklung macht die Figur Frances also leider nicht durch, sie zeigt keinerlei Veränderungspotential. Und so wie die Figur Frances in ihrer Position als alleinstehende „alte Jungfer“ scheinbar eingefroren erscheint, so eingefroren erscheint auch sie und ihr Umfeld in der Zeit. Der Roman wurde 1983 geschrieben, spielt aber schätzungsweise – und wie man aus dem Nachwort von Daniel Schreiber entnehmen kann – Mitte/Ende der 1960er Jahre, den Swinging Sixties, der Zeit kurz bevor und während junge Menschen den Mief der alten Zeit abschütteln wollten und dann sogar politisch aktiv wurden und auf die Straße gingen. Davon merkt man diesem Roman überhaupt gar nichts an; nicht einmal dem schillernden Ehepaar Nick und Alix. Alle Figuren ebenso wie das Wohnumfeld und die gesellschaftlichen Normen scheinen hier wie aus der Zeit gefallen. In Kombination mit der altbackenen - wie gesagt, wenn auch tollen, präzisen - Schreibe der Autorin wirkt es so, als würde man einen Roman aus dem 19. Jahrhundert lesen. Auch wenn das Thema Einsamkeit grundsätzlich zeitlos ist, da es in jeder Generation, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen und mit anderen Belastungen, auftritt, so erscheint der vorliegende Roman hingegen nicht zeitlos, sondern hingegen wirklich nicht gut gealtert. Trotz der scharfsinnigen Sätze der Autorin bin ich ob der stillstehenden Handlung mitunter eingenickt beim Lesen. Das ist leider nie ein gutes Zeichen bezüglich einer Lektüreerfahrung.

Das Nachwort von Daniel Schreiber, Autor des kürzlich veröffentlichten Essaybandes „Allein“, ist durchaus lesenswert, da es den Romaninhalt mit der Biografie Anita Brookners in Zusammenhang bringt. Mit manchen seiner Deutungen des Romans, sowie seiner Idee im Roman finde sich „kühler Humor“, gehe ich zwar nicht konform. Trotzdem handelt es sich bei dem Text um eine gute, mitunter erhellende Ergänzung zum Roman.

Ich hätte sehr gern mit dem sehr klug ausformulierten Schreibstil der Autorin ein inhaltlich interessanteres, also ein anderes, Buch gelesen. So kann ich abschließend „Seht mich an“ nicht unbedingt empfehlen, wenngleich ich es nicht unglaublich schlecht finde. Das Buch ist okay, wird aber das letzte sein, welches ich von der Autorin gelesen habe, gerade weil sich ihre Werke inhaltlich recht stark ähneln sollen.

3/5 Sterne

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