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Veröffentlicht am 24.03.2023

Eine schonungslose Milieustudie aus den Betonblöcken des Ruhrgebiets

Keine gute Geschichte
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Mit Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ begeben wir uns mit der Ich-Erzählerin Arielle zurück zu ihren Wurzeln in einen Essener „Problemstadtteil“, wie wohl einige Politiker:innen es nennen würden. ...

Mit Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ begeben wir uns mit der Ich-Erzählerin Arielle zurück zu ihren Wurzeln in einen Essener „Problemstadtteil“, wie wohl einige Politiker:innen es nennen würden. Dort leben in den Betonsünden der Nachkriegszeit ein großer Anteil von Menschen mit nicht deutsch klingenden Namen und Hauttönen, die eher an Beyoncé als an Helene Fischer denken lassen. Arielle ist eine von ihnen, sie weiß, ihre dunklen Haare und Augen stammen von ihrem Vater, den sie nie kennengelernt hat. Ihre Mutter ist nicht mehr da, verschwunden, wie wir zügig erfahren, denn Arielle richtet ihre Erzählung an ein „Du“, welches sich als die verschwundene Mutter herausstellt. Nun ist ihre Großmutter mütterlicherseits frisch aus dem Krankenhaus entlassen und nach mehr als zehn Jahren kehrt sie das erste Mal zurück an ihren Ursprung, dem sie den Rücken gekehrt hatte, um – mittlerweile – ihrem erfolgreichen Leben als Social Media Managerin in Düsseldorf nachgehen zu können. Ihre Heimkehr überschneidet sich mit dem Verschwinden zweier neunjähriger Mädchen, die ebenso aus dem Stadtteil stammen und deren Mütter mit Arielle in die Schule gegangen sind. Gezwungenermaßen quartiert sich Arielle eine Weile bei ihrer Großmutter ein, in deren Wohnung Arielle aufwuchs und in der ihr Mädchenzimmer von damals immer noch genauso existiert, wie sie es verlassen hat.

Lisa Roy entwirft mithilfe der hippen Sprache ihrer Ich-Erzählerin das Bild eines Milieus in der Armut von heute. Ungeschönt gibt sie uns Lesenden einen Einblick in die unterste Schicht der Gesellschaft, in der, wie an einer Stelle angemerkt, die Mietverträge in den abgeranzten Wohnungen des Viertels ebenso von einer Generation an die nächste weitervererbt werden wie die Armut und das Übergewicht. Hinter solchen saloppen Feststellungen stecken natürlich gut erforschte soziologische Erkenntnisse, die sich in den letzten Jahren immer mehr bewahrheitet haben: Wer einmal in der Armut steckt, hat kaum Chancen einen sozialen Aufstieg zu schaffen; im Gegenteil geht die Spirale im Zweifel eher abwärts. Arielle ist da eine Ausnahme, sie hatte Glück, war als junge Frau mit ihrem miesen Assistentinnenjob in einer Werbefirma zufällig am Puls der Zeit, als sich die Werbung ins Internet und zu den Influencer:innen bewegte. Nur konnte sie nie das Gefühl abschütteln, eine Hochstaplerin zu sein, die man irgendwann bloßstellen, ihr ihre Herkunft anmerken würde. So zeichnet Roy mithilfe von Erinnerungen Arielles an ihre Kindheit, Jugend und die Zeit in Düsseldorf nach, wie sich diese junge Frau in immer stärker in eine Depression hineinbewegt hat und erst kurz vor dem Anruf, welcher sie in die Wohnung der Großmutter holte, von einem mehrmonatigen Psychiatrieaufenthalt entlassen wurde. Von dort ist sie keinesfalls wie neu geboren zurückgekommen, leidet weiterhin an depressiven Episoden, verkriecht sich nun in ihrem alten Mädchenzimmer mitunter für Tage, oder geht hinaus ins Viertel, macht Bekanntschaft mit John, dem Vater von Ashanti, einer der verschwundenen Mädchen.

Trotz des mitunter hingerotzten, mit zeitgemäßen Anglizismen und auch Sarkasmus gespickten Tons von Arielles Beschreibungen, verdeutlicht Roy sehr klug, wie dieses Milieu, aus dem Arielle stammt, funktioniert. Welche ungeschriebenen Gesetze es gibt, welche vorgezeichneten Lebenswege. Dabei handelt es sich nicht um eine happy-go-lucky Geschichte, in welcher die Großmutter eine warmen, altersweise Funktion einnimmt. Nein, es ist vielmehr relativ schnell klar, dass sich Arielle bestmöglich von dieser Person befreien muss. Aber dafür muss sie zurück gehen, zurück an den Ort ihrer Herkunft aber auch zurück in ihren Erinnerungen. Die Erinnerungen an die Mutter, die mit sechs Jahren enden, die aber durchgängig positiv sind. Eine Spannung des Romans wird nicht nur durch die Annäherung Arielles an die Frage, was damals wirklich mit ihrer Mutter, sondern auch, was in der Gegenwart mit den verschwundenen Mädchen passiert ist, angetrieben. So sagt Arielle an einer Stelle:

„Wenn das hier ein Krimi und nicht mein Leben wäre, würde ich über dich und dein Verschwinden als Puzzle nachdenken. Ich habe ein paar Teile, ein paar sind für immer verloren, aber irgendwo muss es auch noch welche geben, und wenn ich die fände, wäre vielleicht genug vom Puzzle zusammen, um das Bild zu erkennen, auch wenn es ein unvollständiges bleibt.“

Gegen Ende nimmt die Erzählung, die sich zuvor wirklich sehr differenziert mit dem Milieu beschäftigt und Arielles Aufwachsen hat, tatsächlich immer mehr an Spannung zu, fühlt man sich fast in einem Thriller, in dem sich immer mehr Indizien auftun. Leider gibt es hier für mich den einzigen Kritikpunkt am ansonsten wirklich erfrischenden, klugen, mutigen Roman Roys: Arielle bekommt Kenntnis von einem ungeheuerlichen Umstand, der mit dem Verschwinden der Mädchen zusammenhängt, und alles was sie tut, ist wieder in ihr altes Muster zurückzufallen, sie verkriecht sich in ihrem Mädchenzimmer für mehrere Tage und hat Sex mit John. Das wirkt an dieser Stelle aber so abwegig, auch wenn man sich das passive, desinteressierte Verhalten mit der depressiven Grunderkrankung der Protagonistin erklären könnte. Vielleicht wollte die Autorin hier ein Zeichen setzen, dass es sich eben nicht um einen Krimi oder Thriller handelt, trotzdem konnte ich bei dem Fortgang der Geschichte nicht mehr so richtig mitgehen.

Trotz dieses einen Kritikpunktes ist der Debütroman der Autorin über das Aufwachsen in den grausten und rausten Ecken des Ruhrgebiets mit seinem Blick auf den Zusammenhang von Armut und Abstammung ein fraglos empfehlenswertes Buch. Mit erfrischend junger Sprache stellt es den Fokus scharf und regt zum Nachdenken über diese scheinbar fest zementierten Lebenswege an.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 17.03.2023

Southern trees bear strange fruit

Die Bäume
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Würde man einen cineastischen Vergleich zu diesem Buch ziehen wollen, könnten sich Leser:innen bei der Lektüre von „Die Bäume“ von Percival Everett auf einen wilden Genremix einstellen. Man nehme die Südstaaten-Atmosphäre ...

Würde man einen cineastischen Vergleich zu diesem Buch ziehen wollen, könnten sich Leser:innen bei der Lektüre von „Die Bäume“ von Percival Everett auf einen wilden Genremix einstellen. Man nehme die Südstaaten-Atmosphäre der ersten Krimi-Serienstaffel von „True Detective“, inklusive der mysteriösen Mordfälle, und vermische dies mit dem bissigen Humor von Spike Lee-Filmen wie „Blackkklansman“ und deren immer vorhandenen, ernsten Anklage an den aktuellen US-amerikanischen Rassismus und der immer noch nicht aufgearbeiteten diesbezüglichen Historie. Man erhält einen vollkommen überraschenden, kreativen Roman, mit filmreifen Dialogen, interessanten Figuren und knallharter Sozialkritik.

Percival Everett schickt seine schwarzen Ermittler in das Pulverfass Mississippi, genauer in den Ort Money, um sie (zunächst nur) einen skurrilen Mord an einem weißen Redneck im White Trash-Stadtteil „Small Change“ untersuchen zu lassen. Dort wurde nämlich neben der Leiche des Weißen ebenso die Leiche eines unbekannten schwarzen Mannes gefunden. Für die Bewohner ist schnell klar: Nur der tote (!) Schwarze kann der Mörder des Weißen gewesen sein. Keine Frage, keine Logikfehler ersichtlich. Merkwürdig wird das Ganze zusätzlich dadurch, dass die Leiche dem in 1955 gelynchten Jungen Emmett Till stark zu ähneln scheint und - noch merkwürdiger - als die Leiche des schwarzen Jungen dann auch noch plötzlich verschwindet. Neben einer weiteren frischen Leiche eines Rednecks wieder auftaucht und gleich wieder verschwindet. Mit viel hintergründigem Witz entspinnt der Autor nun eine mysteriöse Geschichte, die sich mit der Historie der Lynchjustiz an afroamerikanischen und asiatischstämmigen Menschen in den USA sowie dem immer noch tief verwurzelten Rassismus zur heutigen Zeit beschäftigt.

Wenn man Beschreibungen zu dem vorliegenden Roman liest, kann man kaum glauben, dass das zusammenpasst. Diese „Hommage an die Opfer der Lynchjustiz“ und „Rachefantasie“ soll „witzig, surreal und absurd“, ja eine Satire, sein. Funktioniert das denn? Kann man eine Satire auf dieses schreckliche Themengebiet schreiben? Und darf man das? Ja, Percival Everett kann und darf das. Das wird schon nach wenigen Seiten der Lektüre klar. Er entwirft mit wenigen Pinselstrichen vollkommen authentisch wirkende Charaktere, die stellvertretend für Typen bestimmter Personengruppen stehen können, und hier aufeinandertreffen. Diese packt er in ein Szenario, welches an sich schon ungewöhnlich ist: Schwarze Ermittler:innen bewegen sich im Milieu von (mehr oder nur geringfügig weniger) überzeugten Rassisten im diesbezüglich geschichtsträchtigen Südstaate Mississippi. Die Geschichte, so sehr sie auch zunehmend mit magischen Elementen spielt, basiert auf der realen, historischen Person Emmett Till sowie dessen Mördern und unzähligen weiteren Fällen brutalster Lynchmorde. Das ist eine heikle Konstruktion, aber dem Autor gelingt das Wagnis bravourös. Durch klugen Witz enttarnt er die Dummheit, die hinter dem tief verwurzelten Hass der Rassisten steckt und lässt diese gnadenlos auflaufen.

Der Schreibstil Everetts ist knackig und flott. Die kurzen Kapitel lesen sich wie ein Pageturner fast von allein, die Dialoge sind rasant und einfach nur filmreif. Die Wortspiele und doppelten Böden in den Formulierungen laden dazu ein, das Buch im englischsprachigen Original zu lesen, denn nur dann kommt die sprachliche Raffinesse des Autors vollkommen zum Tragen. Leider schafft es die Übersetzung von Nikolaus Stingl nicht an den Originaltext heran. Manche Formulierungen sind entweder gar nicht übersetzt und nicht nachvollziehbar im Englischen belassen, andere werden wörtlich übersetzt und klingen dadurch einfach nur falsch. Hierbei handelt es sich um ein mir bekanntes Problem mit den Übersetzungen von Nikolaus Stingl. In allen Büchern, die ich in seiner Übersetzung gelesen habe/lesen musste, treten dieselben Probleme auf. Es wundert mich daher sehr, dass der Verlag weiterhin an ihm festhält, wird doch der Lesefluss durch seine merkwürdigen Übersetzungsentscheidungen mitunter sehr gestört. Zum Glück ist Herr Stingl nicht auf die Idee gekommen, den im Buch eingebunden Liedtext des Billie Holiday-Klassikers „Strange Fruit“, worauf sich auch der Titel dieser Rezension bezieht und welcher sich bildgewaltig mit den Opfern der Lynchmorde beschäftigt, zu übersetzen. Denn dieser Songtext kann seine erschütternde Kraft im vollen Umfang nur im englischen Original entfalten.

Unabhängig von der Übersetzung, empfinde ich nur zwei Kapitel, in denen auch der damalige US-Präsident Donald Trump in persona auftritt, als kritikwürdig. Hat der Autor noch im vorherigen Kapitel Trump durch mehrere treffsichere, subtile Andeutung gekonnt aufs Korn genommen, wird er im nächsten Kapitel durch wirklich unterirdisch platten Klamauk vorgeführt. Fraglos animiert die reale Person zum gnadenlosen Bloßstellen. Aber wir alle wissen, dass es sich hier schon von allein um eine niveaulose Witzfigur handelt, weshalb mir dieser Klamauk ein etwas zu billiger und auch in den letzten Jahren einfach zu häufig ausgetretener Zug ist. Hier verlässt Everett sein ansonsten immer sehr hohes Niveau an messerscharfer Satire zugunsten einer zu simpel gehaltenen Parodie. Schade.

Die mangelhafte Übersetzung möchte ich diesem ansonsten über weite Strecken grandiosen Werk nicht negativ anlasten und runde deshalb bei 4,5 Sternen auf die volle Punktzahl auf. Es handelt sich hierbei um einen absolut lesenswerten Roman, der durch seinen Stil und die abstruse Handlung überrascht. Fast erkennt man den Autor des Vorgängerromans „Erschütterung“ hier kaum wieder, was aber zeigt, dass er viele Spielarten beherrscht und für Überraschungen in der Zukunft sorgen kann. Eine klare Leseempfehlung für dieses „Highlight mit Abstrichen“!

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 11.03.2023

Lichte Tage - leichte Lektüre?

Lichte Tage
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Um über diesen Roman reden zu können, muss man mehr offenbaren, als es der sehr grob gezeichnete Klappentext vermag. Wer darüber hinaus also nichts erfahren möchte, überspringe diese Rezension.

Vieles ...

Um über diesen Roman reden zu können, muss man mehr offenbaren, als es der sehr grob gezeichnete Klappentext vermag. Wer darüber hinaus also nichts erfahren möchte, überspringe diese Rezension.

Vieles dreht sich in „Lichte Tage“, um eine erste Liebe und die große Liebe, was nicht für jeden immer zusammenfällt, aber auch die Freundschaft und alles, was dazwischen liegt und vielleicht nicht definiert werden kann. Wir begleiten die Jungen aus einem Arbeiterviertel Ellis und Michael und sehen Annie später zu ihnen stoßen. Wir begleiten Kinder und Jugendliche aus ihrem trostlosen, gewalttätigen Alltag hinein in die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Und wir begleiten aber auch homosexuelle Männer in ihr Leben und Leiden mit AIDS, denn der vorliegende Roman spielt in einem Zeitraum zwischen den 1950ern und Mitte der 1990er.

Für mich kamen diese Themen recht überraschend in der Geschichte auf, weshalb ich den Roman durchgängig mit Interesse gelesen habe. Es handelt sich eben nicht um eine „konventionelle“ Dreiecksbeziehung, sondern um eine, in der homo-, bi- und heterosexuelle und/oder platonische Liebe vorkommt. Es handelt sich nicht um einen Wohlfühlroman, denn wir werden mit einigen Schicksalsschlägen der Protagonisten konfrontiert und erleben hautnah die Scheußlichkeit der AIDS-Erkrankung mit. Das macht meines Erachtens den Roman erst so richtig interessant. Denn die Schreibe an sich ist eher einfach gehalten und weist mitunter Schwächen auf. Dazwischen blitzen immer wieder poetische Gedanken auf, die sehr schön sind und so für sich stehend herausstechen. Was die Autorin auf jeden Fall kann, ist das atmosphärische Beschreiben und damit auch Herausarbeiten der Unterschiede zwischen einem britischen Arbeiterquartier innerhalb der Universitätsstadt Oxford und der Wärme, dem Licht und der Natur Südfrankreichs. Denn dorthin zieht es immer wieder die Protagonisten des Romans, zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen Vorzeichen.

So richtig greifen kann man letztlich aber sowohl die Geschichte als auch die Gefühle der Protagonisten zueinander nicht. So schreibt auch Winman: „Wer waren wir, Ellis, ich, und Annie? So oft habe ich versucht, uns zu erklären, aber jedes Mal bin ich gescheitert. Wir waren alles, und dann zerbrachen wir.“

Man möchte gern diese außergewöhnliche Beziehung verstehen können. Im Verlauf des Buches gibt es immer mehr Hinweise darauf, wer diese Menschen sind und waren und was sie zusammen oder auseinandergebracht hat. Das ist gut gemacht. Nur leider blieben mir mitunter die Figuren trotzdem noch zu fern. Ich hätte mir hier einen Roman mit etwas mehr Volumen gewünscht, um tiefgründigere Beschreibungen der Figuren zu bekommen, um in gewisse Themen tiefer eintauchen zu können. Manches wirkt noch wie ein Entwurf einer viel facettenreicheren, umfangreicheren Geschichte.

Da ich den Roman trotz seiner kleinen Makel sehr gern gelesen habe, entscheide ich mich bei 3,5 Sternen als Bewertung zu einem Aufrunden auf die 4 Sterne. Leicht ist also die Lektüre aufgrund der Sprache schon, aber man sollte keinen inhaltlich „leichten“ Roman erwarten. Hier werden knallharte Themen angeschnitten.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 06.03.2023

Ein erschütternd eindrücklicher Roman über die Liebe und das Leben

Liebewesen
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Mit ihrem Debüt legt die 1992 geborene Caroline Schmitt einen eindrücklichen Roman zur Bindungsfähigkeit von Menschen mit Kindheiten in dysfunktionalen Familien vor, das wie ein Leichtgewicht beginnt und ...

Mit ihrem Debüt legt die 1992 geborene Caroline Schmitt einen eindrücklichen Roman zur Bindungsfähigkeit von Menschen mit Kindheiten in dysfunktionalen Familien vor, das wie ein Leichtgewicht beginnt und mit zunehmenden Verlauf zu einem echten Schwergewicht wird.

Lio wird von ihrer besten Freundin Mariam über eine Dating-App mit Max verkuppelt. Zunächst scheint die ansonsten fast zwanghaft auf ihr Studium und ihre darauffolgende Forschungsarbeit als Biologin fixierte Lio mithilfe dieser frischen und gleichzeitig ihrer ersten Liebesbeziehung immer mehr aufzutauen. Locker leicht gehen die Verliebten miteinander um, passen zusammen, können sich eloquent in Gesprächen die Bälle zuspielen. Nur zeigt sich mit der Zeit, dass Max immer wieder depressive Phasen und Lio eine Kindheit und sexuelle Erfahrung hat, die einem einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Als die dreißigjährige Lio schwanger wird, muss sie nicht nur entscheiden, ob es dafür der richtige Zeitpunkt in ihrem Leben ist, sondern auch ob sie überhaupt mit Max zusammen ein Kind haben möchte, ob sie überhaupt eine Mutter seine möchte.

Caroline Schmitt lässt uns durch ihren direkten, ungeschönten und mitunter lakonischen Erzählstil ganz entgegen der Erwartung, die solche Beschreibungen eines Schreibstils aufkommen lassen, sehr nah an ihre Protagonistin und ihr soziales Umfeld herankommen. Zunächst wird man durch die lockere Art, wie Lio mit ihrer Freundin Mariam und dann auch mit ihrem Partner Max umgeht, auf die falsche Bahn geleitet. Denkt man doch, dass sie eine witzige, unbedarfte junge Frau ist. Aber umso tiefer fällt man, wenn man dann durch Rückblicke Details aus ihrer Vergangenheit erfährt. Und umso verständlich wird es den Lesenden gemacht, warum diese Frau mit dem in ihr wachsenden Leben und auch der Beziehung zu Max hadert.

So kommt die Ich-Erzählerin Lio immer wieder in ihren Gedanken, an denen wir teilhaben dürfen, zu Feststellungen, die ihre Prägung und ihre Beziehungsschwierigkeiten mit Max auf den Punkt bringen, wie: „Als wäre es in der Geschichte von Beziehungen jemals eine gute Idee gewesen zusammenzubleiben, um einander in Krisen beizustehen, die man ohne die andere Person nicht hätte.“ Oder auch die alles sagende Frage: „Wie konnte irgendjemand, der dort aufgewachsen, wo ich herkam, guten Gewissens Kinder bekommen?“. Psychologisch vollkommen nachvollziehbar und korrekt leitet die Autorin die entstandenen Probleme in der Liebe von Lio und Max mithilfe der erlernten Muster und gemachten Erfahrungen her. Die Figuren handeln schlüssig und wirken mit all ihren Problemen trotzdem insgesamt äußerst authentisch. Die Autorin schafft es nicht nur in diese Liebesbeziehung hineinzuziehen, sondern auch die Verbindung zu den Eltern sehr gut herauszuarbeiten. Der Stil von Schmitt pack zu und kann gleichzeitig die eigenen Erinnerungen und Gefühle berühren.

Ich bin schlussendlich von diesem Roman überrollt und mitgerissen worden, wie es nur eine Welle von gekonnter Schonungslosigkeit und klarer Aussprache von Zusammenhängen vermag. Deshalb bekommt dieses ganz hervorragende Debüt eine klare Leseempfehlung von mir. Ein weiteres Highlight aus dem Bereich der jungen, deutschsprachigen Autor:innen, die kein Blatt vor den Mund nehmen und gleichzeitig nie auf Krawall gebürstet sind sondern Sichtbarkeit und Aufklärung mit viel Empathie für ihre weiblichen Figuren erreichen. Das grandiose Cover des Buches mutet wie eine Kampfansage an, soll aber sicherlich - ebenso wie der Roman - aufrütteln und einen Perspektivwechsel anstoßen. Es zeigt ein Gemälde des 1950 geborenen, amerikanischen Künstlers Mark Tennant, nicht etwa einer jungen feministischen Malerin. Soll heißen: Hier wird mit Erwartungen gebrochen. Ein rundum tolles Paket, welches daran erinnert, dass wir nicht nur Lebewesen sondern auch Liebewesen sind, die das Wesen der Liebe, sowohl zwischen Partner:innen als auch zwischen Eltern und ihren Kindern, immer wieder ergründen müssen.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 04.03.2023

Vom alltäglichen Leben in der amerikanischen Provinz um 1930

Draußen die Welt
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Die erstmals in den 1940ern veröffentlichten Romane der amerikanischen Autorin Janet Lewis (1899-1998) wurden für den deutschsprachigen Markt wiederentdeckt und der vorliegende Roman von Sylvia Spatz nun ...

Die erstmals in den 1940ern veröffentlichten Romane der amerikanischen Autorin Janet Lewis (1899-1998) wurden für den deutschsprachigen Markt wiederentdeckt und der vorliegende Roman von Sylvia Spatz nun ins Deutsche übersetzt.

Wir begleiten in dieser Geschichte die Familie Perrault mit ihrem stillen Zentrum Mary, der Mutter von vier Kindern. Die Familiengeschichte trägt sich Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre in der kalifornischen Provinz zu und wird zunächst äußerst beschaulich erzählt. Mary und ihre Familie kommen während der Weltwirtschaftskrise und der darauffolgenden Depression relativ gut über die Runden, aber der Alltag wird immer stärker durchbrochen durch verschiedene Schicksalsschläge, die das nähere und fernere soziale Umfeld der Familie betreffen, beginnend mit dem Unfalltod von Marys bester Freundin.

Der Text zeichnet sich meines Erachtens vor allem durch die atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen der Autorin aus. Sie bringt die sengende Hitze Kaliforniens ausdrucksstark rüber und lässt ein ausführliches Bild des Lebens vor einhundert Jahren in dieser damals erst relativ frisch gegründeten, fiktiven Gemeinde South Encina vor dem inneren Auge entstehen. Über die 366 Seiten hinweg nehmen aber auch diese Beschreibungen zur Umgebung, technischen Errungenschaften oder Bootstouren mitunter auch Überhand und wirken bisweilen recht langatmig. Da die Figuren fast naturalistisch mit ihren alltäglichen Sorgen und Nöten eher oberflächlich beschrieben werden, blieben sie mir sehr fern. Der Text konnte bei mir bis kurz vor Schluss leider keine Empathie evozieren oder Emotionen der Figuren glaubhaft vermitteln. Immer wieder geschieht etwas, über das sich die Familie austauscht, dann wird die Thematik aber ziemlich schnell wieder fallen gelassen und taucht entweder gar nicht oder viel später nur kurz wieder auf. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit angeschnittenen Themen, wie soziales Handeln innerhalb einer Nachbarschaft, der Umgang mit Trauer, junge Liebesbeziehungen, soziale und finanzielle Unterschiede etc. geschieht leider nicht im Detail. So wirkte der Roman für mich über weite Strecken belanglos, obwohl wichtige Themen darin durchaus vorkommen. So plätscherte der Roman für mich größtenteils so dahin, Schicksalsschläge fühlen sich nicht wie solche an und die durch den Klappentext des Verlags angestachelten Erwartungen, erfüllen sich leider nicht. Dort heißt es nämlich: „Aber dann bricht 1929 die New Yorker Börse zusammen: Der Kampf ums nackte Überleben bringt das Fundament der Gesellschaft ins Wanken und bedroht auch das innere Gleichgewicht der Familie Perrault.“ Das ist äußerst dramatisch formuliert und findet sich so keinesfalls im Text. Ein weniger effekthascherischer Infotext hätte dem Buch und meiner Rezeption dessen gutgetan. Das Cover des Buches hingegen ist grandios gewählt und lässt auf den zweiten Blick die Vieldeutigkeit der Alltäglichkeit erkennen.

Der Roman ist durchaus solide geschrieben und meines Erachtens sehr gut von Sylvia Spatz übersetzt. Man merkt der Übersetzung an, dass es sich um einen 80 Jahre alten Text handelt. Das bekommt dem lesenden Auge gut, freut man sich doch über solch kleine Wörtchen wie „obgleich“ im Text. Obgleich mir grundsätzlich der Schreibstil der Autorin zugesagt hat, konnte mich der vorliegende Roman leider nicht davon überzeugen, zukünftig weitere Werke der Autorin lesen zu wollen.

Für mich charakterisiert ein kurzes Zitat, welches Marys Handeln beschreibt, dieses Buch recht knackig: „Trotz Krieg, Mord und plötzlichem Tod, dachte sie bei sich, spülen muss man trotzdem." Recht hat sie. Mit einigem nachträglichem Suchen kann man durchaus auch subtile moralische Ideen im Text finden, leider konnte mein Interesse dafür nur eingeschränkt geweckt werden.

3/5 Sterne

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