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Veröffentlicht am 20.04.2023

Von Eva zu Eva

Eva
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In ihrem zweiten Roman nach „Die Gespenster von Demmin“, in dem es unter anderem um die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ging, befasst sich Verena Keßler (Jahrgang 1988) nun mit einem Thema, mit ...

In ihrem zweiten Roman nach „Die Gespenster von Demmin“, in dem es unter anderem um die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ging, befasst sich Verena Keßler (Jahrgang 1988) nun mit einem Thema, mit welchem sicherlich viele Frauen aus ihrer Generation derzeit hadern: dem Kinderkriegen. Nun liegt hier keine Geschichte vor, die man in den vergangenen Jahren schon zuhauf auf den Veröffentlichungslisten vorgefunden hat. Es geht nicht um die Innenansicht einer einzelnen Frau, die das Für und Wider der Mutterschaft abwägt, während sie versucht bestmögliche Work Life Balance zu halten.

In „Eva“ betrachtet Keßler vier Frauen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen und mit ganz unterschiedlichen Einstellungen zum Thema Mutterschaft. Da ist Sina, eine Journalistin, die zusammen mit ihrem Partner verzweifelt versucht schwanger zu werden, während in ihrem sozialen Umfeld gerade jede Frau entweder einen prallen Babybauch oder das schon geschlüpfte Küken vor ebenjenem stolz herumträgt. Da ist Eva, eine Lehrerin, die sich herausgenommen hat, einen provokativen Artikel zu veröffentlichen, in welchem sie darlegt, warum es für das Weltklima das Beste wäre, erst gar nicht mehr ein Kind in die Welt zu setzen, und dafür stark angefeindet wird, vor allem nach einem plakativ inszenierten Interview durch Sina. Da ist Mona, die Schwester von Sina, welche sich unverhofft und überrumpelt in einem anstrengendem Leben mit drei Kindern wiederfindet. Und die vierte Protagonistin, welche einem unsagbaren Verlust gegenübersieht.

Alle vier Protagonistinnen bekommen episodenhaft zusammenhängend in ihrem eigenen Kapitel den Raum, den sie benötigen, um als Leser:in ihrer Geschichte und ihren Einstellungen näher zu kommen. Wobei alle bis auf Eva aus der Ich-Perspektive heraus erzählen dürfen. Ausnahmslos allen Figuren kommt man durch den ungekünstelten und klaren Erzählstil Keßlers unglaublich nahe, ob man nun ihre Lebensentwürfe und Einstellungen grundsätzlich befürworten würde oder nicht. Es entsteht ein tiefes Verständnis und eine Nachvollziehbarkeit für sie und man fiebert mit jeder von ihnen mit. Die äußerst authentische Darstellung der Personen sorgt dafür, dass man unvoreingenommen ihre Geschichten erleben kann, ohne dass von Seiten der Autorin eine moralische Wertung vermittelt wird.

Der Facettenreichtum dieses Romans hat mich sehr begeistert, wenngleich mir zum Ende hin die Fäden zu stark auseinanderdrifteten, sodass ich das Gefühl hatte, es fehlt noch irgendetwas. Letztlich gibt es keine eindeutigen Lösungen für die angesprochenen Probleme, mit einer konkreteren Nachverfolgung der vier Leben hätte sich hier vielleicht ein runderes Bild ergeben. Ich weiß es nicht genau. Letztlich handelt es sich für mich um ein äußerst gelungenes Buch, welches sprachlich sehr solide geschrieben ist, in welchem ich mir aber auch keine ganz, ganz besonderen Sätze markiert habe, bei welchen ich dachte: „Mensch, da steckt jetzt so unglaublich viel in diesen wenigen Worten drin. Den Satz muss ich einer Freundin vorlesen.“ Zuletzt empfand ich es als nicht wirklich nachvollziehbar, warum Eva als einzige Protagonistin ein Kapitel aus der personalen Erzählperspektive heraus bekommen hat. Nahe kommt man ihr unzweifelhaft trotzdem, aber literarisch wurde mir die Entscheidung der Autorin hier nicht ganz klar.

Wenn verschiedene Generationen im Debütroman der Autorin schon eine wichtige Rolle spielten, so tauchen diese auch im vorliegenden Roman – thematisch in anderer Weise – wieder auf, wenn sie in Evas Kapitel schreibt:

„Wenn sie ehrlich war, gefiel ihr die Vorstellung sogar: eine Ahnenkette, die sich über Millionen von Jahren fortgesetzt hatte und nun endete – mit ihr. Sie würde sich nicht einreihen, sie bildete den Schlusspunkt, sie war diejenige, auf die alles hinausgelaufen war. Von Eva zu Eva.“

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 16.04.2023

Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.

Kleines Land
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Der Rapper und Autor Gaël Faye schreibt in seinem ersten Roman über die eigene Kindheit und beginnende Jugend in Burundi, einem kleinen Nachbarstaat von Ruanda, auf den sich der Konflikt und später Völkermord ...

Der Rapper und Autor Gaël Faye schreibt in seinem ersten Roman über die eigene Kindheit und beginnende Jugend in Burundi, einem kleinen Nachbarstaat von Ruanda, auf den sich der Konflikt und später Völkermord zwischen Hutu und Tutsi ebenso katastrophal auswirkte, wie auf den bekannteren Nachbarn Ruanda.

Wir begleiten den Ich-Erzähler Gabriel, kurz Gaby, der das Alter Ego von Gaël Faye darstellt, in seine Kindheit, die zunächst von sehr alltäglichen Beobachtungen geprägt ist. Seine Mutter ist als Tutsi vor vielen Jahren mit ihrer Familie aus Ruanda geflohen, der Vater ist Franzose, der als weltoffener junger Hippie in das kleine afrikanische Land Burundi reiste, sich in Gabys zukünftige Mutter verliebte und blieb. Schritt für Schritt drängt sich in den unbeschwerten Alltag des Jungen der Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen, immer stärker radikalisieren sich Personen im sozialen Umfeld Gabys. Mit unserem heutigen Wissen sehen wir die politisch-gesellschaftliche Katastrophe herannahen und müssen miterleben wie Gaby und seine Familie davon überrollt wird, bis er dann zusammen mit der Schwester ins französische „Mutterland“ ausgeflogen wird.

Äußerst eindrücklich erzählt Faye in seinem autobiografisch inspirierten Roman wie eine unbeschwerte Kindheit mit der Weltpolitik kippen kann und Kinder durch äußere Einwirkungen viel zu schnell erwachsen werden müssen, um in der gewalttätigen Welt um sich herum überleben zu können. Sprachlich ist der Roman jedoch mitunter eine Hängepartie. So gibt der Autor dem Jungen zu Beginn eine sehr naiv-kindliche Sprache, obwohl durch ein einleitendes Kapitel klar wird, dass der Ich-Erzähler als Mitte 30jähriger Mann auf sein Leben zurückblickt. Die Ausdrucksformen erscheinen dadurch zunächst nicht konsistent. So sind die Schilderungen aus der Ich-Perspektive heraus so kindlich, Gespräche zwischen den Erwachsenen mit politischem Inhalt werden jedoch haargenau in eloquenter, informierter Erwachsenensprache wiedergegeben. Das stößt stilistisch beim Lesen auf, erscheint es doch so, dass Faye die Gespräche zwischen den Erwachsenen eher ungeschickt einbaut, um die Lesenden davon in Kenntnis zu setzen, worum sich der Konflikt damals drehte. Auch haben die Erwachsenen sehr viel Wissen, was zu diesem Zeitpunkt politisch hinter den Kulissen geschieht und sehen in ihren Gesprächen politische Entscheidungen und Abläufe voraus, die wir zwar aus der heutigen Sicht kennen, aber sehr wahrscheinlich nicht den Menschen im Land vor der Eskalation bekannt waren. Es wird der Eindruck vermittelt, die Menschen hätten bereits zwei Jahre vor dem Völkermord genau gewusst, dass Frankreich indirekt Partei ergreifen wird, dass die Blauhelme mit Beginn eines bewaffneten Konflikts abgezogen und nicht eingreifen werden, dass ausländische Regierungen ihre Mitarbeiter abziehen werden und dass der Großteil der Tutsi von den Hutu flächendeckend abgeschlachtet werden wird. Hier hat sich Faye scheinbar dazu hinreißen lassen, seine Protagonist:innen mehr wissen zu lassen, als sie hätten wissen können. Aber vielleicht irre ich mich und für die Bevölkerung war ihr Schicksal damals tatsächlich so genau vorhersehbar. Um auf die Sprache zurückzukommen, so ist noch anzumerken, dass trotz der zunächst sehr kindlichen Wortwahl Gabys, er in Briefen an seine französische Brieffreundin übermäßig eloquent und poetisch schreiben kann. Das verwirrt und schafft eine noch größere Kluft zwischen den erzählten Passagen. Im Verlauf des Buches wird dann auch die Wortwahl Gabys reifer, was sicherlich seiner vorgezogenen Reifung durch die konfliktreiche Lage des Landes entsprechen soll. Dass er dann wiederum als 11Jähriger recht knifflige psychologische Überlegungen anstellt, wirkt schon wieder too much. Es hätte demnach schlüssiger gewirkt, wenn sich Faye dazu entschieden hätte, durchgängig die Erinnerungen als Erzählung eines erwachsenen Gabys anzulegen. Auch erscheint die Übersetzung von Brigitte Große und Andrea Alvermann in der ersten Hälfte des Romans noch ein wenig holprig. Idiome aus dem französischen Sprachraum werden mitunter direkt Wort für Wort ins Deutsche übersetzt und wirken dadurch störend.

Nichtsdestotrotz habe ich mit großer Sympathie die Geschichte von Gaby/Gaël verfolgt und wurde gerade in der zweiten Hälfte des Romans tief berührt und dadurch auf stark erschüttert durch die Beschreibung der Gräueltaten der Hutu an den Tutsi (und auch umgekehrt aus Rachegefühlen heraus, etwas, was Faye nicht unter den Teppich kehrt). Vieles erklärt Faye mithilfe der Worte Gabys, vieles kann aber auch nicht erklärt werden.

So sagt Gaby an einer Stelle: „Ich hatte keine Antwort auf die Frage meiner kleinen Schwester. Ich hatte keine Erklärung für den Tod der einen und den Hass der anderen. Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.“

Ein eindrucksvolles Buch, welches ich trotz sprachlicher Schwächen definitiv für eine Lektüre empfehlen kann, um sich durch einen hautnahen, zutiefst menschlichen Einblick in den verheerenden Konflikt zwischen Hutu und Tutsi und dem daraus hervorgegangenem Völkermord anzunähern.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 16.04.2023

Vom American Way of Life und Schreibmaschinen

Schräge Typen
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Der bekannte und mehrfach ausgezeichnete Schauspieler Tom Hanks ist nicht nur eben das sondern auch ein Autor. Nach Veröffentlichungen in verschiedenen amerikanischen Zeitungen und Magazinen ist dies nun ...

Der bekannte und mehrfach ausgezeichnete Schauspieler Tom Hanks ist nicht nur eben das sondern auch ein Autor. Nach Veröffentlichungen in verschiedenen amerikanischen Zeitungen und Magazinen ist dies nun sein erste Buchveröffentlichung in Form einer Kurzgeschichtensammmlung.

Hier gibt es Geschichten zu entdecken, die in ihrer Ausrichtung uramerikanisch daherkommen. Es geht um die einfachen Menschen, wie sie sich mit den Werten des freien Amerikas durch ihr Leben schlagen. Da kommen die frisch Eingebürgerten vor, die Bowling als klassisch amerikanische Sportart entdecken, da ist der WWII-Veteran, der an Weihnachten 1953 ein besinnliches Fest mit seiner Familie in der wirtschaftlich gut aufgebauten Existenz feiern möchte, da ist die Schauspielerin aus der Provinz, die im New York der 1970er ihren eigenen Weg zum Erfolg gehen will. Die insgesamt elf Kurzgeschichten werden von vier Kolumnentexten des fiktiven Reporters Hank Fiset unterbrochen, welche sich mit Alltäglichem aus dem Zeitungswesen und dem Leben von Hank beschäftigen.

Alle Texte dieses Buches sind solide geschrieben, zeigen stilistisch jedoch wenig Finessen. Inhaltlich sind die meisten gut, nur wenige stechen heraus. So eine Geschichte um die Zeitreise zurück zur Weltausstellung in New York 1939 („Die Vergangenheit ist uns wichtig“). Mir den Kauf einer Schreibmaschine richtig schmackhaft gemacht, hat „Das sind die Betrachtungen meines Herzens“, welche sich um eine junge Hipster-Frau dreht, die auf dem Flohmarkt eine alte, billige Plastikschreibmaschine ersteht und später durch einen kautzigen Schreibmaschinenverkäufer doch von einer sensationellen Hermes 2000 aus der Schweiz der 1950er Jahren überzeugt wird. Schreibmaschinen kommen übrigens immer wieder in den Geschichten vor. Und der Titel „Die Vergangenheit ist uns wichtig“ könnte auch Titel des Buches sein. Denn Hanks beschwört hier immer wieder das Beste der Vergangenheit herauf, ohne jemals in einem Topf mit den Rückwärtsgewandten der aktuellen Republikanischen Partei zu landen. Denn hier geht es um die Offenheit, auf der der Staat fußt. Aber ein bisschen retro darf es eben auch immer sein. So interessant die ein oder andere Geschichte auch sein mag, so finden sich die, wie durch den deutschen Titel des Buches vermutet, „Schrägen Typen“ eher selten in Hanks Geschichten. Vielmehr könnte man sich bei den Protagonisten vorstellen, dass die ein oder andere Haupt- oder Nebenrolle locker ins Portfolio des Schauspielers Tom Hanks gepasst hätte.

Insgesamt handelt es sich hier um eine gute Geschichtensammlung, die gut bekümmlich ist aber mit nur wenigen Überraschungen aufwarten kann. Ein nettes Buch für Zwischendurch, das einen mit einem wohligen Gefühl im Bauch zurücklässt. Die Amerikaner würden sagen: „Cozy and Wholesome“.

3/5 Sterne

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Veröffentlicht am 15.04.2023

Die Ungleichheit spüren

Die spürst du nicht
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Daniel Glattauers Roman „Die spürst du nicht“ überrumpelt, schüttelt durch und entlässt einen fassungslos sowie hoffentlich auch im Inneren verändert. Dieses zunächst mit recht einfacher Sprache und stilistisch ...

Daniel Glattauers Roman „Die spürst du nicht“ überrumpelt, schüttelt durch und entlässt einen fassungslos sowie hoffentlich auch im Inneren verändert. Dieses zunächst mit recht einfacher Sprache und stilistisch auffällig berichtartig daherkommende Werk entpuppt sich mit der Zeit zu einem schmerzhaft wahrhaftigen Sittengemälde unserer aktuellen Zeit.

Wir bekommen zu Beginn die Familienmitglieder zweier gehobener, österreichischer Familien - ja man könnte fast sagen – geschildert, welche zusammen in die Toskana in den Urlaub gefahren sind. Da ist die Winzerfamilie mit dem überdreht optimistischen Winzer und seiner Frau, die mal Ambitionen zur Schauspielerin hatte, es aber nur zur Marillen-Königin geschafft hat, und ihrem gemeinsamen, zurückgezogenen Sohn. Da ist die Politikerinnen-Familie mit der viel beschäftigten Grün-Politikerin, dem besserwisserischen Akademiker, der unkontrollierbaren kleinen Tochter und der 14-jährigen dauergelangweilten Tochter, deren Lebensinhalt ihr Social Media Auftritt zu sein scheint. Ach ja, und da ist ganz ruhig und fast kaum wahrnehmbar auch noch eine Schulkameradin der Tochter mit im Urlaub dabei. Aayana, ein somalisches Flüchtlingsmädchen, welches auf Drängen der Tochter, um ihrer eigenen Langeweile entgegenzuwirken, mit in den Urlaub genommen wurde. Fast wie in der Regieanweisung zu einem Theaterstück oder – wenn man es heftiger formulieren möchte – wie in einer Versuchsanordnung zu einem Experiment, wird die Ausgangssituation mit all ihren Elementen und Variablen eingangs geschildert, nur um dann alle in einer Villa in der Toskana aufeinandertreffen zu lassen. Was herauskommt ist ein dramatisches Unglück, welches den Fortgang des gesamten Buches bestimmen wird.

Was verwundert: Dieses Unglück geschieht schon ziemlich zügig im Verlauf des Buches und in der Hauptsache sind wir nun Rezipienten der Auswirkungen dieses schweren Unglücks. Mit verschiedenen Stilmitteln arbeitet sich nun Glattauer an der Reaktion einer (Medien-)Gesellschaft auf die Geschehnisse vom Beginn des Buches ab. Mit präziser Sprache und authentisch wirkenden Medienreaktionen entwirft der Autor ein Sittengemälde unserer modernen Welt, in dem so gut wie niemand gut dasteht und alle letztlich Verlierer sind. Er scheint zunächst die Personalliste mit stereotypen Figuren zu bestücken, nur um sie im Verlaufe des Buches mitunter (nicht immer) die antizipierten Annahmen der Leser:innen über den Haufen zu werfen und sie ganz anders als erwartet handeln zu lassen. So einfach die Sprache wirkt, so brillant nutzt sie Glattauer, um in wahnwitzigen Dialogen große Fragen nach Moral und ethisch richtigem Handeln zu stellen. Der Text liest sich dabei leichtfüßig und kurzweilig, obwohl er inhaltlich keinesfalls ein Leichtgewicht darstellt. Denn es handelt sich um eine eindeutige Gesellschaftskritik, die recht offensichtlich das haarsträubende Verhalten von selbstsüchtigen Personen herausstellt, soziale Ungerechtigkeiten anprangert aber auch zwischen den Zeilen und manchmal in einem kurzen Internetkommentar verpackt die Abgründe heutiger Einstellungen aufzeigt. Letztlich geht es darum, denen eine Stimme zu geben, die unserer Sprache nicht mächtig sind und sich dadurch in unserer westlichen Gesellschaft nicht wahrnehmbar machen geschweige denn ihr Recht durchsetzen können.

So sagt eine von Glattauers Figuren an einer der vielen mitreißenden Stellen: „Sie sind darunter. Unter unserer Wahrnehmung. Unter unserem Interesse. Ihre Geschichte will hier keiner hören. Und sie können sie auch nicht erzählen. Sie werden nicht danach gefragt. Und von sich aus schaffen sie es nicht, sich zu Wort zu melden. Ihnen fehlen die Mittel. Ihnen fehlt unsere Kultur. Ihnen fehlt unsere Bildung, auf die wir uns so viel einbilden. Und es fehlt ihnen vor allem an unserer Sprache. Ohne Sprache kein Verständnis. Ohne Sprache keine Geschichte.“

Dadurch, dass die somalische Familie von Aayana im Buch über weite Strecken nicht zu Wort kommt, sie gar nicht gespürt wird und untergeht, spielt der Autor genau das durch, was auch in der realen Welt millionenfach geschieht. Mit seinem zunächst locker daherkommenden, dann aber schnell zunehmend berührenden Drama frisst sich das Anliegen einer scharfen Gesellschaftskritik tief in das Denken und Fühlen der Lesenden. Mich hat der Roman ergriffen und lange nicht wieder losgelassen, weshalb ich ihn nur eindringlich für eine Lektüre weiterempfehlen kann. Um eine Urlaubslektüre handelt es sich keinesfalls, hier sollte man sich nicht täuschen lassen.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 14.04.2023

Geiz in Zeiten historischer Umbrüche

Das Fräulein
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In seinem 1944 geschriebenen und 1945 erstmals veröffentlichten Roman „Das Fräulein“ nimmt der einzige Literaturnobelpreisträger Jugoslawiens nicht nur das titelgebende „Fräulein“ in den Fokus, sondern ...

In seinem 1944 geschriebenen und 1945 erstmals veröffentlichten Roman „Das Fräulein“ nimmt der einzige Literaturnobelpreisträger Jugoslawiens nicht nur das titelgebende „Fräulein“ in den Fokus, sondern auch die Umbrüche im gesellschaftspolitischen Gefüge rund um den Ersten Weltkrieg und die Goldenen Zwanziger auf dem Balkan.

Im Zentrum des Romans steht Rajka, deren Vater, ein angesehener Kaufmann Sarajevos, stirbt als sie selbst erst 15 Jahre alt ist. Er nimmt ihr am Sterbebett das Versprechen ab, ihr Leben lang sparsam zu sein. Sie solle ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft auf ihre Sparsamkeit richten. Sie müsse gegen sich und andere unbarmherzig sein, „all die sogenannten höheren Rücksichten in sich abtöten, die noblen Gewohnheiten wie inneren Edelmut, Großzügigkeit und Empfindsamkeit.“ Und genau das macht daraufhin Rajka, „das Fräulein“ wie sie von den Bewohnern Sarajevos genannt wird, auch wortgetreu. Sie legt all diese „Schwächen“ ab und wird eine unbarmherzige junge Frau.

Gleich zu Beginn erfahren wir, dass es mit dem Fräulein nicht gut ausgehen wird, wie begleiten sie nun durch die Augen des auktorialen Erzählers, welcher sich als Teil der Bevölkerung Sarajevos sieht, ca. 30 Jahre lang bis zu ihrem Ende als „alte Jungfer“ mit 45 Jahren. Historisch deckt dieser Roman gerade die Zeitspanne kurz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg ab und endet 1935.

Diese historische Episode scheint vom Autor keinesfalls willkürlich gewählt, war er doch selbst zu Beginn des Ersten Weltkriegs – welcher bekanntermaßen mit dem „Attentat von Sarajevo“ auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand seinen Anfang nahm – Mitglied der revolutionären Organisation Mlada Bosna und verbrachte ein Jahr im Gefängnis aufgrund von Verwicklungen mit Drahtziehern des Attentats. Später sollte er als angesehener Diplomat für den jungen Vielvölkerstaat Jugoslawien tätig sein.

So bekommen wir im ersten und letzten Drittel des Romans ein ausgefeiltes und sprachlich grandioses Psychogramm einer jungen Frau gezeigt, die durch ein verhängnisvolles Versprechen am Sterbebett des Vaters von einfacher Sparsamkeit in eine „Sucht des Geizes“ abdriftet. Dieses Leben dessen Sinn und Ziel der Geiz ist, bekommen wir unglaublich plastisch und detailliert beschrieben. So wird das Fräulein sogar durch ihre krankhafte Rigidität bis in den Tod getrieben. Im Mittelteil wartet der Roman jedoch mit einer Überraschung auf: in der Peripherie, neben den zwielichtigen Geldgeschäften von Rajka und ihrem Untergang mit Ansage, erleben wir das Attentat von Sarajevo, die Folgen des Attentats für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Menschen der Stadt, die Zeit des Krieges, die Idee von einer anderen Gesellschaftsordnung sowie die überschwänglichen „Zwischenkriegsjahre“ der Goldenen Zwanziger mit.

Gerade diese Kombination aus Psychogramm einer ungewöhnlichen Frau und gesellschaftlichen Zuständen in dieser Zeit an diesem Ort (neben Sarajevo wird auch Belgrad eine Rolle spielen) empfand ich während der Lektüre als unglaublich bereichernd. Sprachlich wie auch inhaltlich konnte mich Ivo Andric mit seinem Roman so sehr erreichen, dass ich nach weiteren Werken des Autors nun die Augen offen halten werde.

Ergänzt wird diese Ausgabe von Zsolnay von einem Nachwort Michael Martens‘, welches sich genauer mit dem zentralen Thema „Geiz und Ehrgeiz“ beschäftigt. Hier zieht Martens Parallelen zwischen der Protagonistin Rajka und ihrem Autor Ivo Andric. Dieser sei damals als geizig verschrien gewesen, was es jedoch zu überprüfen gilt. Auch wird ein Blick auf die Sonderrolle Rajkas als krankhaft geizige Frau in der Literaturgeschichte geworfen und „Das Fräulein“ in einen Kontext zu den anderen beiden Romanen der inoffiziellen „Balkan-Trilogie“ gesetzt. Andric habe zwischen 1941 und 1944 drei Romane während der deutschen Besetzung Belgrads geschrieben, wovon „Das Fräulein“ das letzte und auch damit nächste zum damals aktuellen Weltgeschehen gewesen ist. Das Nachwort ist durchaus informativ und interessant zu lesen, wenngleich ich mir an dieser Stelle doch eher eine Einordnung in die eigenen gesellschaftspolitischen Bestrebungen des Autors zur beschriebenen Zeit gewünscht hätte. Da er selbst ein Protagonist in diesem welthistorischen Geschehen gewesen ist, hätte es sich angeboten, das Nachwort für eine biografische Erörterung im Zusammenhang mit den geschilderten Szenen im Buch zu nutzen.

Somit kann ich die Lektüre dieses sprachlich hervorragend präzisen, psychologisch interessanten und historisch durchaus relevanten Romans uneingeschränkt empfehlen. Der Roman für sich genommen ist für mich ein 5-Sterne-Buch, allein das nicht hundertprozentig zufriedenstellende Nachwort führt zu minimalem Abzug.

4,5/5 Sterne

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