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Veröffentlicht am 06.02.2023

Ein kleiner, aber mächtiger Roman

Macht
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In diesem Roman der norwegischen Schriftstellerin und Fotografin dreht sich alles um Macht. Aber eben nicht um politische Macht, sondern um die Macht über den eigenen Körper. Denn die namenlose Ich-Erzählerin ...

In diesem Roman der norwegischen Schriftstellerin und Fotografin dreht sich alles um Macht. Aber eben nicht um politische Macht, sondern um die Macht über den eigenen Körper. Denn die namenlose Ich-Erzählerin hat vor 15 Jahren eine Vergewaltigung erleben müssen und kämpft seitdem um diese Macht, nachdem sie sie an einem Abend komplett verloren hatte.

Mit lakonischer Sprache schildert uns die Erzählerin ihre aktuelle Lebenswelt. Sie ist Krankenpflegerin, verheiratet und hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, ist mittlerweile gut situiert. Diese finanzielle Unabhängigkeit nutzt sie, um durch luxuriöse Kleidung sowie teure Pflege- und Kosmetikprodukte ihren Körper nach den eigenen Vorstellungen formen zu können. Alles muss perfekt sein. Oder zumindest so scheinen. Denn sie meint auf der Straße anderen Frauen ansehen zu können, ob sie in ihrem Leben auch schon vergewaltigt worden sind. Eine von zehn Frauen in Norwegen hat diese Erfahrung machen müssen. Nun möchte Sie mit aller Macht die Kontrolle über ihren Körper zurück, hätte sie am liebsten nie abgegeben.

Anhand kleinster, alltäglicher Situationen macht Furre deutlich, wie sich die Vergewaltigung ganz ohne Verfallsdatum noch viele Jahre nach dem Vorfall auf das Leben ihrer Protagonistin auswirkt. Der Gang zur Zahnärztin, das damit verbundene an die Decke starren und warten, dass es endlich vorbei ist. Einmal Angst gehabt zu haben, durch die Hand eines Mannes zu sterben und nun jede Nacht neben einem solchen im Ehebett zu liegen. Ständig der Bedrohung einen Schritt voraus sein zu wollen, ob beim Weg nachhause vom Bus oder bei der Krebsvorsorge. Immer die Kontrolle, die Macht behalten. „Ich bügele meine Blusen und reinige meine Haut. Das ist mein Überlebensmodus.“

Der eigentliche Akt der Vergewaltigung wird dabei nicht detailliert von Furre geschildert. Das braucht es nicht, um den Horror einer solchen Tat zu verdeutlichen. Dabei hadert die Protagonistin doch auch stark mit sich selbst. Zweifelt in Gedanken noch Jahre später an, ob es überhaupt „definitionsgemäß“ eine Vergewaltigung war, ob sie sich nicht hätte mehr wehren sollen, ob es nicht doch ihre eigene Schuld war. Ganz meisterhaft lotet die Autorin mithilfe der Gedanken ihrer Erzählerin aus, was in unzähligen #metoo-Debatten seit dem Herbst 2017 zur Sprache kam. Sie ermöglicht es dabei ihrer Erzählerin den Vorfall und die Konsequenzen aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Wobei uns Leser:innen durchaus bewusst wird, dass diese Abwägungen für die Erzählerin mitunter eher Vermeidungsstrategien darstellen und sie in ihrer Heilung behindern. Sie berichtet uns von ihren mal mehr, mal weniger adäquaten Bewältigungsstrategien und wir dürfen sie ein Stück auf ihrem Weg der Bewältigung begleiten.

Sprachlich ist der Roman sehr nüchtern aber dadurch auch immer unglaublich präzise formuliert. Auf den nur 170 Seiten finden sich unzählige prägnante Sätze, die lange nachhallen. Ebenso wie die ganze Geschichte dieses Romans, oder besser: dieser Frau. Denn es ist leider die Geschichte von so vielen Frauen (und weniger, aber auch Männern). Jede Person hat eigene Bewältigungsstrategien, hier bekommen wir eine Auswahl davon zu lesen. Das ist unglaublich aufschlussreich und einprägsam. Und letztlich vielleicht sogar aufgrund der lakonischen Sprache besonders erschütternd.

Auch wenn die Autorin zum Ende hin ein wenig diese knackige Art der Beschreibungen aus den Augen verliert, finde ich den Roman einfach nur großartig. Dünn aber ungemein gehaltvoll, weshalb ich die Lektüre dieses Buches nur dringend empfehlen kann.

Zum Abschluss noch ein Wort zur Gestaltung des Buches. Die Covergestaltung ist wirklich überwältigend treffend in seiner Mehrdeutigkeit. Erwähnenswert sind aber auch die beiden Fotografien auf dem Vor- und Nachsatz. Diese stammen von der Künstlerin Niki de Saint Phalle aus dem Jahre 1961. Eine Künstlerin, die sich Zeit ihres Lebens mit den Folgen einer Vergewaltigung auseinandergesetzt hat. Und sie spielt auch eine gewisse Rolle für die Erzählerin, sodass bei dieser Ausgabe des DuMont Buchverlags wirklich von vorn bis hinten alles durchdacht gestaltet wurde. Toll!

4,5/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.02.2023

Interessanter familienbiografischer Roman auf Deutsch - Russisch - Kasachisch

Sibir
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Sabrina Janesch, selbst Tochter einer polnischen Mutter und eines Vaters, der – ebenso wie der Protagonist ihres Romans, Josef – als Kind mit seiner Familie aus dem Wartheland in die Steppe Kasachstans ...

Sabrina Janesch, selbst Tochter einer polnischen Mutter und eines Vaters, der – ebenso wie der Protagonist ihres Romans, Josef – als Kind mit seiner Familie aus dem Wartheland in die Steppe Kasachstans verschleppt wurde, führt im vorliegenden Roman familienbiografische Hintergründe und Recherchen zu einem spannenden Porträt einer Familie über Generationen hinweg zusammen.

Josef ist zehn Jahre alt, als er 1945 mit seiner in Galizien (Ukraine) angesiedelten, deutschstämmigen Familie bestehend aus seinem Bruder, seiner Mutter, der Tante und den Großeltern von russischen Soldaten nach Sibirien verschleppt wird. In die BRD kommt die Familie zehn Jahre später durch Verhandlungen von Bundeskanzler Adenauer mit weiteren zehntausenden Kriegsgefangenen – hauptsächlich Soldaten. Bekannt sind die Geschichten von Wehrmachtssoldaten, die in die russischen Gulags für viele Jahre verschwanden und in stark reduzierter Anzahl erst Jahre später freikamen. Von sogenannten „Zivilverschleppten“ hörte man bisher jedoch nur wenig. Als Vergeltung für Taten Nazideutschlands im Krieg wurden deutsche Zivilisten, die in östlichen Gebieten lebten, u.a. in die kasachische Steppe zum Arbeitsdienst verschleppt.

Josefs Geschichte lesen wir nun nur deshalb, weil seine Tochter Leila beginnt seine im Alter von über 80 Jahren schwindenden Erinnerungen aufzuschreiben. So gelingt der Einstieg in diesen Roman und überraschenderweise bleibt die Erzählung fortan jedoch nicht nur im Jahre 1945/46 in der kasachischen Steppe sondern springt im Verlauf des Buches zeitlich und örtlich immer wieder ins Jahr 1990/91, als die Sowjetunion zusammenbrach und erneut deutschstämmige Menschen, sog. „Russlanddeutsche“ in die BRD übersiedelten. Hier begleiten wir nun Leila, in etwa im selben Alter nun wie damals ihr Vater Josef, als er verschleppt wurde. So erfahren wir nicht nur etwas über das Leben des kleinen Josefs in der „Gelber-Rücken-Steppe“, Sary Arka, und seiner Freundschaft mit dem kasachischen Jungen Tachawi, sondern auch über das Leben des erwachsenen Josef sowie seiner Tochter Leila und ihrer Freundschaft zu Arnold, einem Jungen mit ähnlicher Familiengeschichte, und Pascha, dem Sohn einer Spätaussiedler-Familie.

Durch diesen geschickten Schachzug der Gegenüberstellung zweier Kindheiten fächert die Autorin die Familiendynamiken unter unterschiedlichen Vorzeichen auf und bringt uns Lesenden gleich zwei historische Phänomene näher. Das ist psychologisch wie auch sprachlich sehr gut umgesetzt. Mithilfe weniger Sätze baut sie die Atmosphäre der einen und der anderen Lebenswelt in unserem Kopf auf und zieht uns in diese aufregende Familiengeschichte hinein. Besonders die Beschreibungen um die durch die Sowjets zusammengewürfelte Dorfgemeinschaft Nowa Karlowka in Kasachstan überzeugen ohne Abstriche. Sie schreibt:

„Erst wesentlich später wurde ihm klar, dass die Tscherkessen, Armenier, Ukrainer, Polen, Esten, Finnen, Tschetschenen, Koreaner und Kalmücken, die in Nowa Karlowka lebten, schon vor Jahren aus allen möglichen und unmöglichen Ecken des sowjetischen Imperiums zusammengetrieben worden waren und in die Steppe geschafft. Nichts davon war freiwillig geschehen, die bunte Dorfgemeinschaft war brutal erzwungen, und sie alle, alle waren Gefangene, zurückgehalten nicht von Mauern, sondern von Leere.“

Dieser kulturellen und sprachlichen Mischung verleiht die Autorin gekonnt Ausdruck, indem sie immer wieder Vokabeln, welche an der Stelle des Buches für die Geschichte wichtig sind, in den drei Sprachen Deutsch, Russisch und Kasachisch auftauchen lässt. Denn Josef ist es verboten Deutsch zu sprechen, er will die Sprache aber nicht vergessen, in Russisch muss er sich im Dorf ausdrücken und mit seinem Freund Tachawi kann er sich nur auf Kasachisch verständigen.

Zugegebenermaßen empfand ich den Erzählstrang in der Steppe um den jungen Josef über die Länge des Buches hinweg ein wenig interessanter als der um 1990/91. Auch wenn ich die literarische Entscheidung der Autorin, jeweils nur etwa ein Jahr aus dem Leben der jeweils etwa zehnjährigen Kinder Josef und auch Leila zu erzählen, sehr gut nachvollziehen kann, so hätte ich mir doch noch mehr und Weiterführendes aus Josefs Kindheit und Jugend erhofft. Zuletzt tauchen im Erzählstrang 1990/91 außerdem ein paar zu viele Handlungswendungen auf und machen diesen ein wenig zu wuselig. Das Ende des Buches ist dann wieder erfrischend und konnte mich überzeugen.

Insgesamt handelt es sich bei „Sibir“ als um ein äußerst lesenswertes Buch, welches ich allen Interessierten ans Herz legen möchte. Da die Autorin ja bereits in der Vergangenheit literarisch ihre Familiengeschichte aufgearbeitet hat, bleibt noch die kleine Hoffnung erhalten, dass wir doch noch einmal zur Figur „Josef“ in einem Roman zurückkehren können, um mehr über seine Jugend und junges Erwachsenenalter zu erfahren.

4,5/5 Sterne

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