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Veröffentlicht am 27.05.2023

Solide Endzeit-Novelle

Die Nacht danach
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In Nikodem Skrobisz‘ nur 99 Seiten dünnen eBook „Die Nacht danach“ entwickelt er eine Versuchsanordnung für den Moment kurz nach einem Atomkrieg. In einem nicht näher benannten westlichen Land entdecken ...

In Nikodem Skrobisz‘ nur 99 Seiten dünnen eBook „Die Nacht danach“ entwickelt er eine Versuchsanordnung für den Moment kurz nach einem Atomkrieg. In einem nicht näher benannten westlichen Land entdecken Scott und Sarah, ein Ehepaar ein einem Trailerpark, und Henry und Celine ein Pärchen, was sich nur für einen One-Night-Stand in der Luxusstrandvilla von Henrys Vater getroffen hat, Blitze am nächtlichen Himmel. Die darauffolgenden roten Atompilze in der Ferne lassen auf einen nuklearen Angriff schließen und bringen die beiden Paare zu ganz unterschiedlichen Schutzmaßnahmen. Scott, ein Afghanistan-Veteran, schaltet schnell und schleppt seine Ehefrau schnellstmöglich in die zumindest ein wenig Schutz bietende Kanalisation. Henry muss mit Celine nicht auf das Abwassersystem zurückgreifen, hat ihm doch sein Vater unter dem Haus einen luxuriösen, mit allem was das Prepperherz sich wünscht ausgestatteten, ABC-sicheren Bunker hinterlassen.

Nun schreibt Skrobisz die divergierende Geschichte dieser beiden Paare, die unterschiedlicher in sozioökonomischem Status und Ausgangssituation nicht sein könnten, über einen Zeitraum von grob zwei Wochen fort. Der Überlebenskampf bekommt ganz unterschiedliche Qualitäten und läuft auf einen Showdown hinaus.

Zugegebenermaßen gefiel mir der Einstieg in diese Geschichte tatsächlich nicht sonderlich. Das lag hauptsächlich an den psychologisch eher unrealistischen Reaktionen der verschiedenen Protagonisten auf das Niedergehen der vielen, markerschütternden Atombomben. Da werden währenddessen und kurz danach knackig-coole Sprüche gemacht, die an Action-Filme aus den 90ern erinnern, in denen der Held immer einen flotten Spruch draufhatte, egal in welcher brenzligen Situation er sich befand. Gut, nun wird die Geschichte vom Autor als „Ein (sic) Tragikomödie, die von der Struktur ein Kammerspiel ist, erzählt in Romanform.“ beschrieben. Komödienhaft waren die Kommentare allerdings für mich nicht, eher – wie gesagt – unrealistisch. Und „tragisch“ ist nun einmal die Grundlage dieser Geschichte: ein Atomkrieg. Tragik im Speziellen bietet über die aus diversen Endzeitszenarien in Film- und Buchform bekannten Probleme im Überlebenskampf hinaus, die Geschichte nicht.

Was die Geschichte jedoch zu bieten hat, ist mit Fortlauf der Lektüre eine sehr gute Darstellung der Atmosphäre während den ersten Tagen nach einem Atomkrieg und dem knappen Überleben. So fühlt man sich an Cormac McCarthys Beschreibung der Düsternis einer untergehenden Welt in „Die Straße“ erinnert. Der Vorteil von Skrobisz‘ Buch: Es ist weitaus kürzer und demnach keinesfalls so langatmig, wie es bei McCarthy manchmal der Fall ist. Die für mich aber größten Stärken dieser Veröffentlichung sind die moralischen Fragen, die das Buch im Verlauf aufwirft: Wofür lohnt es sich überhaupt so etwas zu überleben? und Was ist zielführender und moralisch vertretbarer; Kooperation oder seine eigenen Wege gehen, um zu überleben? Auch wird durch die unterschiedlichen finanziellen Voraussetzungen der beiden Paare die Frage der Überlebenschancen im Spannungsfeld „arm vs. reich“ aufgeworfen.

Meines Erachtens handelt es sich hierbei um eine solide Novelle, die als Ausgangspunkt das Szenario eines Atomkrieges wählt, und kurz und knapp den ein oder anderen Denkanstoß geben kann. Das ist sicherlich am besten für Leser:innen geeignet, die sich zuvor gedanklich eher wenig mit dem Thema beschäftigt haben und nun damit erstmals in Berührung kommen. Für Leser:innen, die sich schon eingehender diesbezüglich belesen haben, wird das Buch keine signifikant neuen Erkenntnisse bieten können. Somit also ein guter Startpunkt, der durchaus noch Potential nach oben hat. Ausgehend von den zuvor veröffentlichten Werken des 23jährigen Autors ist definitiv von diesem Potential auszugehen und seine zukünftigen Veröffentlichungen sollten im Auge behalten werden.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Eine Odyssee durch das Los Angeles des Jahres 1965

Graffiti Palast
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„Wie in Selma!“ rufen die Demonstranten 1965 im Stadtteil Watts. Das Getto in Los Angeles fängt metaphorisch und tatsächlich Feuer, als durch die öffentliche, brutale Verhaftung von zwei schwarzen Jugendlichen ...

„Wie in Selma!“ rufen die Demonstranten 1965 im Stadtteil Watts. Das Getto in Los Angeles fängt metaphorisch und tatsächlich Feuer, als durch die öffentliche, brutale Verhaftung von zwei schwarzen Jugendlichen und die Mutter des einen eine Kette von Ereignissen ins Rollen gebracht wird, die die stete Spannung den Frust der Diskriminierten zum Überlaufen bringt. Über mehrere Tage hinweg bestimmen die Unruhen und Kämpfe zwischen schwarzen Anwohnern und weißen Polizisten das Leben in diesem Gebiet L.A.s. Mittendrin befindet sich Monk. Er ist ein selbsternannter Semiologe und wandert durch die Stadt auf der Suche nach neuen Graffitis und Tags, die Auskunft geben über Bandengebiete, Gesellschaftskritik üben oder einfach nur ästhetisch schön sind. All das notiert er in seinem Notizbuch, welches so zu einer inoffiziellen Landkarte des aktuell umkämpften Gebiets wird. Während Monk immer wieder von seinem Weg zurück nachhause abgebracht wird, wartet dort seine schwangere Partnerin auf ihn und bangt um dessen Sicherheit in einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint.

A. G. Lombardo schafft in seinem Roman „Graffiti Palast“ etwas ganz Außergewöhnliches. Er vermischt die aufgeheizte Stimmung in den schwarzen Communities der 1960er Jahre, anhaltende Polizeigewalt gegenüber Minderheiten, aber auch den Jazz der Straße und der Clubs mit der Geschichte von Odysseus, dem Held der griechischen Mythologie, dessen zehnjährige Irrfahrt auf der Heimreise aus den Trojanischen Kriegen sagenumwoben ist. Monk ist hier unser Odysseus, er versucht zu seiner Penelope heimzukehren, die währenddessen auf einer nicht enden wollenden Hausparty, welche einer Belagerung gleicht, von angeblichen Freunden Monks umworben wird, sich ihren Annäherungsversuchen entziehen muss und sehnlichst auf die sichere Rückkehr des Vaters ihres noch ungeborenen Kindes wartet. Monk in der Zwischenzeit wird von verschiedensten Personengruppen und Verlockungen, abgeschnittene Wege durch die Unruhen und mysteriöse Zufälle von seinem Heim ferngehalten. Mal schnappen ihn sich die militarisierten Fruits of Islam, die Mitglieder der Nation of Islam, um ihn anzuwerben. Mal wird er von der Polizei verhaftet, mal landet er in der Hand der einen Gang mal in der der anderen. So treibt er durch die Stadt, passt sich dem Rhythmus dieser an und passt gleichzeitig irgendwie gar nicht dazu.

Das ist wild und mitunter surreal erzählt. Man hat das Gefühl und Halluzinogenen ein wildes Jazzstück zu hören und mal hierhin und dorthin gezogen zu werden. Das Buch scheint eine unendliche Geschichte und man wähnt schon Monk verloren in den Untiefen von Feuer und Gosse. Währenddessen schafft es jedoch Lombardo gekonnt damals wie heute brandaktuelle Gesellschaftskritik zu üben, fügt knallharte Sätze ein, die die Lebensrealität so vieler Schwarzer damals und heute einfangen. So wundert man sich oft, wie es sein kann, dass diese Welt des Jahres 1965 der Welt des Jahres 2022 so stark ähneln kann. Es werden nicht nur dysfunktionale Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen sondern auch innerhalb der schwarzen Community aufgezeigt. So hebt er die wichtige Rolle der schwarzen Frauen hervor indem er schreibt: „Tausende schwarze Frauen kommen von der Arbeit. Keine Männer – die sind fort, geraubt von Polizei, Drogen, Suff, der Landstraße, Glücksspiel, Zuhälterei, Geliebten, Huren, Billardsalons, oder dem Tod. Die Frauen kehren zurück zu ihren Familien, zu Kindern, die nicht mehr nach Daddy fragen, zu Stille und Leere, die ihre Seelen betäuben und vernichten.“ Ebenso gnadenlos sind die Beobachtungen zu den Mechanismen innerhalb der Polizei während der Unruhen: „Die ganze Nacht ist Jagdsaison, und jeder Abschuss, ob tödlich oder nicht, bedeutet eine Dienstaufsichtsermittlung, die einem ein paar entspannte freie Tage einbringt. […] bis wie immer auf ‚Gefahr im Verzug‘ oder ‚berechtigte Notwehr‘ entschieden wird.“

Und Monk „will doch nur durch die Stadt kommen, unbehelligt von all den Parteien und Interessengruppen, will nur ihre Zeichen studieren und friedlich Wissen über sie ansammeln.“ Stattdessen hängt er fest in immer wieder neuen Verirrungen in dieser endlosen Nacht des Feuers, der Zeichen und der Wunder. Zeit spielt hier keine Rolle mehr, es scheint alles nur eine unendliche Abfolge von Schlaf, Bewusstsein, Traum und Halluzination.

Das ist alles schon grandios gemacht. Man muss aber eine gewisse Toleranz für gefühlt niemals enden wollende Irrfahrten haben, um diesen Roman bis zum Ende interessiert folgen zu können. Zugegebenermaßen fehlte mir manchmal die Geduld mit der Geschichte. Warum sich Monk immer und immer wieder von seinem Weg abbringen lässt, war für mich manchmal kaum auszuhalten. Deshalb erschien mir das Buch während der Lektüre auch einen Tacken zu lang, weshalb ich nicht die volle Punktzahl dafür herausrücke. Trotzdem bleibt dieser ungewöhnliche Roman definitiv eine Leseempfehlung für alle, die sich von den oben genannten Themenbereichen angesprochen fühlen. Das ist ein Roman, wie ich ihn in dieser Form bisher noch nie gelesen habe. Wirklich sehr interessant.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Ein warmherziger Roman mit Tiefgang

Zweckfreie Kuchenanwendungen
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Wer dieses wunderbar gestaltete Buch des Kröner Verlags in die Hand nimmt und zum Lesen aufschlägt, kann sich zweier Dinge sicher sein: Dass man währenddessen ständig Appetit bekommen wird und dass man ...

Wer dieses wunderbar gestaltete Buch des Kröner Verlags in die Hand nimmt und zum Lesen aufschlägt, kann sich zweier Dinge sicher sein: Dass man währenddessen ständig Appetit bekommen wird und dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte, bis man es bis zur letzten Seite inklusive jeder Anmerkung eingesogen hat. Oder sollte ich besser sagen, weg gefuttert hat?

Die Singapurische Autorin Yeoh Jo-Ann erschafft in ihrem ersten Roman eine Welt, die die Lesenden fasziniert, überrascht aber vor allem warm hält. Zunächst bekommen wir den grummeligen Sukhin vorgestellt, welcher als 35jähriger Lehrer irgendwie mit sich und der Welt unzufrieden zu sein scheint. Dem tut er manchmal offen verbal, meist aber nur gedanklich kund und wirkt dadurch unwillkürlich in seiner Grantigkeit urkomisch. Schnell schließt man diesen Menschen ins Herz, wie eigentlich jede andere Figur auch in Yeoh Jo-Anns Roman. Die Handlung der Geschichte kommt ins Rollen, als Sukhin vollbeladen mit Schnickschnack für das Chinesische Neujahrsfest quasi in die Wohnung seiner ehemaligen Schulfreundin und großen Liebe Jinn hineintrampelt. Diese besteht nämlich aus einem Haufen Kartons, da Jinn auf der Straße lebt.

Aus dieser schicksalhaften Begegnung entspinnt sich nun eine über einen längeren Zeitraum hinweg erzählte Geschichte, die sich keineswegs nur um Sukhin und die zaghafte Wiederannäherung an Jinn dreht, sondern ebenso um Themen wie Homosexualität in Singapur, die Ressourcenverschwendung in einer heutigen, modernen Gesellschaft, der Zusammenhalt von Familie oder der selbstgewählten Familie. Mit sehr viel Feingefühl nähert sich die Autorin ihren Figuren durch Rückblicke an und kann dadurch diese facettenreich und wandlungsfähig darstellen. Tiefsinnig beschäftigt sie sich dabei mit ihren Figuren und deren Beziehungen untereinander wie auch den ausgesuchten gesellschaftlichen Themen. Nie wirkt der Roman dabei überfrachtet, immer leicht zu lesen und ausgeglichen. Allein die Darstellung der (offiziell in Singapur nicht vorhandenen) Obdachlosigkeit sowohl selbstgewählt bei Jinn als auch bei anderen auftauchenden Menschen, die auf der Straße leben, erschien mir bisweilen ein klein wenig zu unproblematisch.

Sprachlich besticht der Text durch seinen auflockernden, trockenen und immer ins Schwarze treffenden Humor. So häufig musste ich während der Lektüre schmunzeln, um seiner wahren aber nie zynischen Einschübe. Den Roman außergewöhnlich machen sporadisch eingefügte, kursiv gesetzte Texteinschübe, in welche eine gewisse Melancholie, die man in der Haupthandlung sonst nicht findet, beinhalten und sich sukzessive in das Wissen, welches man während der Lektüre erwirbt, einweben. Diese Passagen muten im Rahmen des ansonsten eher süffig geschriebenen Romans besonders poetisch an und entwickeln ihren ganz eigenen Sog, der einen großen Anteil am Spannungsbogen des Buches hat.

Dieser amüsante, einfühlsame, literarische Unterhaltungsroman verströmt meines Erachtens mit jeder Pore die Atmosphäre, die vergleichbar in der deutschsprachigen Literaturwelt Mariana Leky in ihren Romanen um interessante, liebenswerte Charakterköpfe, die vor ihren ganz eigenen Problemen und den Problemen der Welt stehen und gemeinsam irgendwie einen Weg durch die schweren Zeiten finden, heraufbeschwört. Für mich wäre „Zweckfreie Kuchenanwendungen“ ein guter Anwärter auf den Preis „Lieblingsbuch der Unabhängigen“. Eins meiner Lieblingsbücher des Jahres 2022 ist es schon jetzt geworden. Also lest dieses wunderbare Buch und lernt den multikulturellen Stadtstaat Singapur, seine Einwohner und gleich mit den Verlag Kröner kennen! Denn dieser hat nicht nur ein schön anzusehendes Buch entworfen, sondern auch noch für eine großartige Übersetzung durch Gabriele Heafs und deren Anmerkungen zum Text gesorgt.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Auf zu vielen Gleisen unterwegs

Was dir bleibt
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Der Roman der von mir sehr geschätzten Autorin Jocelyn Saucier verpackt vier Erzählschichten in einem Buch. Laut Klappentext geht es um Gladys, eine 76Jährige, die ihre psychisch kranke Tochter zuhause ...

Der Roman der von mir sehr geschätzten Autorin Jocelyn Saucier verpackt vier Erzählschichten in einem Buch. Laut Klappentext geht es um Gladys, eine 76Jährige, die ihre psychisch kranke Tochter zuhause allein zurücklässt und sich auf eine wirre Zugfahrt durch den Nord-Osten Kanadas aufmacht. Nach und nach soll aufgeklärt werden, was es mit der Zugirrfahrt der älteren Dame auf sich hat. Das ist aber nur ein Teil dieses Buches. Die größere Klammer entsteht dadurch, dass ein Ich-Erzähler berichtet, er sei mit dem Verschwinden der älteren Dame in Kontakt gekommen (wie, wird zunächst nicht erklärt) und gehe nun schon seit mehr als zwei Jahren dem Bedürfnis nach, die Geschichte von Gladys aufzuschreiben bzw. zu recherchieren. Er sei Lehrer und Eisenbahnnarr, daher kein richtiger Autor. Zu diesem Erzähler später mehr. Um diese Klammer des "Wer erzählt hier eigentlich wie und warum" schließt sich noch die Klammer, dass unser Ich-Erzähler gegen Ende des Romans mit seiner eigenen Geschichte ins Zentrum rückt und Gladys verdrängt. Und ganz tief im inneren der gesamten Romangeschichte steckt als zentrales Thema das Reisen mit der Eisenbahn im nur dünn besiedelten Nord-Osten Kanadas.

Für mich machte dieses letzte, zentrale Thema letztlich und eigentlich auch unerwartet den einzigen Reiz der Lektüre aus. Es ist wirklich interessant, was man aus diesem Buch über die Nutzung der Zugstrecken in dieser Region mit (fast) unendlichen Weiten alles erfährt. Man erfährt, dass Züge regelmäßig Verspätungen von einem Tag haben können, da der Personenverkehr dem Güterverkehr nachgestellt wird. Man erfährt, dass es früher "school trains" gab, in denen ein Lehrer mit seiner Familie durch Kanada gefahren wurde, um immer für zwei Wochen am Stück auf einem Abstellgleis zu parken und die Kinder der abgelegensten Regionen zu unterrichten. Wir erfahren, dass ein fast freundschaftlich-familiäres Verhältnis zwischen Zugchefs und regelmäßigen Fahrgästen besteht, dass auch mal auf freier Strecke angehalten wird, um Kanu-Fahrer mitzunehmen. Hm, jetzt habe ich bereits die interessantesten Informationen ausgeplaudert. Lohnt sich also darüber hinaus noch eine Lektüre?

Meines Erachtens nicht zwingend. Denn der Ich-Erzähler geht einfach nur unglaublich auf die Nerven mit seinen ständigen Erklärungen, warum er denn nun wieder einmal etwas nicht gut erzählen kann, warum er nicht zum Punkt kommt und sich immerzu entschuldigen muss. "Sollte meine Erzählung eines Tages Leserinnen und Leser finden, so bitte ich um Vergebung für die Unordnung. Obwohl ich erst ganz am Anfang stehe, merke ich jetzt schon, wie mir die Fäden entgleiten." Soll das eine Warnung an uns Leser:innen sein, dass auch Jocelyn Saucier so ihre Probleme mit ihrem Stoff hatte? Nach Abschluss der Lektüre glaube ich das tatsächlich. Denn sie bekommt ihren Stoff nicht unter eine Decke. Die Geschichte um Gladys wird zur Nebensache, diese Figur ist die, die am wenigsten Form bekommt in diesem Roman. Spätestens auf Seite 196 endet deren Geschichte, verpufft ins Nirwana und wirkt auch nicht nachhaltig nach. Natürlich war es ihre letzte Zugreise, das wird schon nach den ersten Seiten klar. Dann folgen noch 60 Seiten Palaver des Ich-Erzählers und er berichtet uns ausführlichst, wie es mit ihm nach dem Ende der Zugreise von Gladys weitergegangen ist. Dazu hatte ich dann gar keinen Bezug mehr und fühlte mich neuerlich von ihm genervt. So schreibt er zum Ende hin: "Bernie fragt mich häufig, wie weit ich bin. Ich antworte, es würden immer mehr Seiten, aber ein Ende sei nicht in Sicht." AMEN.

Meines Erachtens wurde die Autorin hier von ihren eigenen Ideen überrollt, hat vier Geschichten in eine gepackt und ist dann nicht mehr damit zurecht gekommen. Rund wirkt das Endergebnis für mich leider dadurch gar nicht. Allein die Informationen zum Eisenbahngewerbe in Kanada war nachhaltig. Allerdings habe ich die Vermutung, dass man diese Infos durchaus auch z.B. aus einer ARTE-Dokumentation hätte ziehen können. Dabei hätte der Mehrwert in zusätzlichen schönen Filmimpressionen gelegen.

Leider kann ich eine Lektüre von "Was dir bleibt" nicht ohne weiteres empfehlen. Wenn man einen selbstunsicheren Erzähler, der ständig seinen Fortschritt kommentieren muss, ertragen kann, dann könnte es vielleicht eine kurzweilige Lektüre werden. Ansonsten gilt eher: Finger weg.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

„Woher ich lese“

Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen
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Schon die Übertragung des Originaltitels dieses Buches ins Deutsche ist ein Problem, was thematisch super ins Buch gepasst hätte. So lautet dieser „Where I‘m Reading From“, wenn man es direkt übersetzen ...

Schon die Übertragung des Originaltitels dieses Buches ins Deutsche ist ein Problem, was thematisch super ins Buch gepasst hätte. So lautet dieser „Where I‘m Reading From“, wenn man es direkt übersetzen wollte etwa: „Woher ich lese“. Viel kraftvoller und verständlicher wirkt da der unübersetzte Titel. Die Übersetzerinnen Ulrike Becker und Ruth Keen haben sich mit dem Verlag für „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ entschieden. Inhaltlich bekommt das Ganze damit einen ganz neuen Kontext.

Warum ist die eben geführte Diskussion so relevant? Weil unter anderem auch genau dieses Thema der literarischen Übersetzung in Tim Parks Essays behandelt wird. Tim Parks ist selbst Übersetzer, Autor, Essayist und Kritiker. So beleuchtet er in seiner Essaysammlung verschiedene Themen des globalisierten Literaturwelt. In den vier Teilen des Buches verfolgt er folgende Bereiche: „Die Welt des Buches“ (1) mit Fragen um Copyright, den langweiligen neuen globalen Roman, das Beenden von Lektüren oder der unterschiedlichen Einschätzung ein und desselben Buches durch unterschiedliche Leser:innen. „Das Buch in der Welt“ (2) behandelt sehr aufschlussreich die Vergabe des Literaturnobelpreises und seine Sinnhaftigkeit, die bevorzugten Nationen auf dem Buchmarkt, oder die Glorifizierung von Schriftstellern. „Die Welt des Schriftstellers“ (3) taucht in die Tätigkeit des Bücherverfassens und -veröffentlichens ein. Und zuletzt „Schreiben rund um die Welt“ (4) über die Übermacht des amerikanischen Buchmarktes, die Vereinheitlichung von Übersetzungen und das nachträgliche Ausbügeln von Texten nach den Wünschen des Buchmarktes.

Viel lernte ich in diesem Buch über die Zusammenhänge des globalen Literaturmarktes. Es geht grundsätzlich sowohl um das Lesen als Kritiker, Wissenschaftler, Übersetzer oder auch „einfacher“ Leser als auch um das Schreiben als Romanautor, Essayist und Wissenschaftler. Über weite Strecken verpackt Parks seine Thesen, denen ich nicht immer pauschal folgen würde, äußerst unterhaltsam und kurzweilig. Weniger aufregend erschien mir der Mittelteil des Buches, welcher sich stark um die sog. „Klassiker“ dreht. Hier überwiegend männliche und britisch-englische oder amerikanisch-englische Autoren, die man dem „Kanon“ zuordnen würde (Dickens, Beckett, Hardy). Es wird ausschweifend über deren Autorenpersönlichkeit und die fließenden Übergänge zu ihren Werken gesprochen. Da mein persönliches Interesse an deren Literatur und Persönlichkeiten eher gering ist, war dies ein etwas zäher Abschnitt. Viel besser gefielen mir die übergreifenden Betrachtungen zur Welt der Literatur. Vor allem die dargestellten Ungenauigkeiten, die bei literarischen Übersetzungen entstehen können, waren für mich augenöffnend und verstärkten den Wunsch, viel mehr Originalliteratur zu lesen. Auch werde ich nach dieser Lektüre die Vergabe des Literaturnobelpreises viel kritischer hinterfragen, wenn nicht gar nur noch nebenher wahrnehmen. Manche Einsichten aus der Lektüre können die Wahrnehmung schärfen und die Wachsamkeit als Leser:in positiv beeinflussen.

Insgesamt handelt es sich also meines Erachtens um eine äußerst lesenswerte Essaysammlung. Ich hatte viel Freude damit, sie war aufschlussreich und erhellend. Wer also die „alten weißen Männer“-Klassiker besser tolerieren kann als ich oder sogar besonderes Interesse an den englischsprachigen Klassikern hat, wird hier sicherlich ein Lesehighlight für sich entdecken können. Es wird auf jeden Fall allen gefallen, die selbst gern hinter die Kulissen der Literaturwelt blicken und sich nicht nur von den Endergebnissen in Form von Romanen berieseln lassen wollen.

4/5 Sterne

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