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Veröffentlicht am 27.05.2023

„Von den falschen Taten die allerfalschesten.“

Baby Jane
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Mit „Baby Jane“ erscheint dieser Tage der zweite Roman der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen, ins Deutsche übersetzt von Angela Plöger. Dieser 2005 erstmals auf Finnisch erschienene Roman enthält ...

Mit „Baby Jane“ erscheint dieser Tage der zweite Roman der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen, ins Deutsche übersetzt von Angela Plöger. Dieser 2005 erstmals auf Finnisch erschienene Roman enthält bereits alle Bestandteile späterer Werke der Autorin. Es geht um die toxische Beziehung eines lesbischen Paares, verwebt darin das Leben mit und den sozialen Abstieg aufgrund von psychischen Erkrankungen, wirft einen Blick auf den Broterwerb im Zwielicht der Gesellschaft und verortet das Ganze in der Homosexuellenszene Helsinkis.

Wie auch schon in ihrem aktuellstem Werk „Hundepark“ erfahren wir gleich zu Beginn, in welchem Zeitraum sich die Romanhandlung abspielen wird. So legt die Autorin die Handlung von 1995 bis 2005 an. Die Ich-Erzählerin berichtet uns von ihrem Ankommen in der Gay Szene Helsinkis Mitte der 1990er Jahre. Dort initiiert wird sie durch die burschikose Piki. Eine Beschützerin, die die sehr feminine Erzählerin aufnimmt und mit Haut und Haaren in eine leidenschaftliche, lesbische Beziehung umschließt. Doch das Glück beginnt nach und nach zu bröckeln. Durch einen Zeitsprung nach nur wenigen Seiten des Buches ans Ende des genannten Zeitraums erfahren wir, dass diese Liebesbeziehung nicht gut ausgehen wird.

Oksanen nimmt uns ganz selbstverständlich mit in die lesbische Beziehung der beiden Protagonistinnen, führt uns ein in die Szene Helsinkis, die noch halb in verborgenen Nachtclubs stattfindet und mit den Ausläufern der AIDS-Epidemie zu kämpfen hat. Sie hebt das Tabu um die Beschreibung lesbischer Sexualität auf und beschreibt intensiv die erste, leidenschaftlich-sexuelle Phase der Liebesbeziehung. Und genauso ungeschönt bewegen sich die Frauen auf eine Katastrophe zu und wir erkennen nach und nach die toxischen Anteile der Beziehung. Denn die Ich-Erzählerin, selbst an Depressionen erkrankt, erfährt nicht nur immer mehr über die stark einschränkenden psychischen Erkrankungen ihrer Geliebten und verstrickt sich in (CAbhängigkeiten zu ihr, sondern findet sie auch heraus, dass eine längst verflossene Ex-Freundin Pikis, Bossa, ebenso in einer Abhängigkeit zu Piki steht und sie durch Aufrechterhaltung wiederum einer Abhängigkeit von Piki zu ihr ein gefährliches Beziehungsgeflecht heraufbeschwört. Immer stärker gewinnt die Phrase „Leidenschaft, die Leiden schafft“ hier an Bedeutung und lässt bei den Leser:innen schlimme Vorahnungen aufkommen. Es ist dabei hervorzuheben, dass die Autorin nicht einem Narrativ folgt, indem nur eine Person in der Beziehung zu deren Untergang beiträgt, sondern alle Beteiligten Fehler machen. So sagt die Erzählerin über sich selbst an einer Stelle, die habe „von den falschen Taten die allerfalschesten“ begangen. Das Aufschlüsseln dieser Beziehungsdynamiken und der entsprechenden Mechanismen gelingt der Autorin einfach ganz hervorragend.

Besonders eindrücklich schafft es Oksanen - mal wieder - sehr gut recherchierte, gesellschaftliche Themen in den Romanplot einfließen zu lassen, ohne dass es belehrend wirkt. So erfahren die Lesenden sehr viel über psychische Erkrankungen, deren Behandlung und der, wenn nicht genügend finanzielle Ressourcen vorhanden sind, soziale Abstieg, der damit in Verbindung stehen kann. Somit verbindet sie nicht nur den Themenbereich „class“ mit psychischer Gesundheit sondern auch sexueller Orientierung. So müssen sich die Protagonistinnen einen Broterwerb (rund um sexuelle Fetische) im Zwielicht der Gesellschaft suchen, ein Themenkomplex, der immer wieder in den Werken Oksanens eine Rolle spielt. So packt sie nicht einfach nur aktuelle Problemthemen in einen Roman und erwähnt diese Probleme nur am Rande, um sie in den Ring zu werfen und en vogue zu sein. Nein, sie verhandelt ausgesuchte Bereiche, die wie oben bereits erwähnt, sehr ausführlich und gut recherchiert sind. So ist dieser Roman nicht nur erzählerisch interessant sondern auf jeden Fall ebenso intellektuell anregend.

Sprachlich geht die Autorin gewohnt schonungslos und rasant vor. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und das muss man mögen. Ich mag ihre Sprache, in der tollen Übersetzung von Angela Plöger, ebenso sehr, wie den Aufbau des Romans mit seinem zu Beginn angedeutetem Unheil, welches aber en detail erst ganz zum Schluss zutage gefördert wird und überrascht. So avanciert der Roman zu einem echten Pageturner mit Niveau. Ich wurde in die Geschichte dieser Frauen, die nicht mit aber auch nicht ohne einander sein können, hineingezogen und habe entsprechend das Buch kaum weglegen können. Wegen mir hätte der Roman gern den Umfang von „Hundepark“ haben können. So bleibt es aber ein kleiner, rasant erzählter Roman, der mich trotzdem vollkommen überzeugt hat vom schriftstellerischen Können der Autorin.

Wer also den Sprung in eine ungemütliche, schonungslose und gleichzeitig literarisch ansprechende Geschichte wagen möchte, dem empfehle ich diesen Roman aus dem Frühwerk von Sofi Oksanen sehr. Ein kleines Highlight in diesem noch jungen Jahr 2023.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Die Früchte von Salomés Zorn

Salomés Zorn
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Salomé ist die Tochter einer niederländischen Mutter und eines kamerunischen Vaters. Sie ist den Niederlanden geboren und aufgewachsen, wird aber seit dem Bau eines Flüchtlingsheims im Dorf plötzlich automatisch ...

Salomé ist die Tochter einer niederländischen Mutter und eines kamerunischen Vaters. Sie ist den Niederlanden geboren und aufgewachsen, wird aber seit dem Bau eines Flüchtlingsheims im Dorf plötzlich automatisch als „ausländisch“ wahrgenommen. Mit dem Wechsel auf das Gymnasium beginnt ihr Martyrium unter dem Mobbing weißer Jungs, die sie auch körperlich angreifen. So schafft ihr der Vater einen Punchingball an und zeigt ihr, wie sie sich verteidigen kann. Sie solle hart arbeiten und sich nicht beklagen, sich aber auch nicht zum Opfer machen lassen, im Zweifel durch den Feind durchschlagen. Als viele Faktoren zusammenkommen übertreibt es Salomé mit der Verteidigung und begeht eine Körperverletzung. Ausgangspunkt des Buches ist nun ihr Einzug in ein Jugendgefängnis. Nach und nach erfahren wir die Umstände ihrer Handlung aber auch die Ursachen, die dazu geführt haben.

Simone Atangana Bekono lässt ihre Protagonistin als jugendliche Ich-Erzählerin auftreten. Wir lesen ihren Gedankenstrom rund um die Inhaftierung und erleben ihren holprigen Weg zum Wandel mit. Das ist sprachlich nicht schlecht gemacht, wähnt man sich doch noch während der ersten Hälfte des Romans in einem Jugendroman. Wobei Salomé sich sehr differenziert ausdrücken kann, ist sie doch eigentlich eine sehr intelligente Schülerin gewesen, bevor es bergab mit ihr ging. Manchmal dreht sie aber auch durch und das spiegelt sich dann in ihrem Gedankenstrom adäquat wieder.

Die Grundidee zu diesem Roman finde ich hochinteressant: Eine jugendliche, weibliche Gewalttäterin, mit dunkler Hautfarbe, aus der Arbeiterschicht kommend. Allem voran ist der Aufenthaltsort der Jugendstrafanstalt etwas Besonderes. Hinzu kommt ein Therapeut, der versucht Salomé bei der Aufarbeitung ihrer Tat zu helfen. Nur ist dieser Therapeut oder vielmehr seine Hintergrundgeschichte unglaublich abstrus. Dieser hat ein Jahr zuvor bei einer Reality-TV-Show mitgemacht, in welcher er mit seiner Partnerin in ein afrikanisches Dorf geschickt wurde. Obwohl er es gut meint mit allem, verhält er sich aber naiv-rassistisch und merkt es nicht mal. Dieses Thema wird in der ersten Hälfte des Buches äußerst stark ausgebreitet, ist einfach nur skurril. In der zweiten Hälfte spielt die ganze Sache aber plötzlich keine Rolle mehr, ja, eigentlich spielt der Therapeut an sich keine Rolle mehr, ohne eine Herleitung, warum das jetzt im Plot so angelegt wurde. Dieses Stilmittel auf der Handlungsebene wirkt somit nicht zielorientiert und obsolet. Ebenso eingeworfen wirkt ein Stilmittel, welches häufiger in der zweiten Hälfte des Romans auftritt. Salomé hat auf dem Gymnasium den Griechischunterricht besucht und bindet daher stets griechische Sagen- und Tragödienfiguren in ihre Gedanken ein. Diese wirken aber mitunter nicht wirklich passend und scheinen nur da zu sein, um etwas cooles Intellektuelles in den Text einzuweben.

Nachdem mich der Roman zu Beginn nicht packen konnte, habe ich ab der Mitte sehr interessiert die Geschichte um Salomé verfolgt. Gerade die Abläufe im Jugendgefängnis sowie der Umgang der jugendlichen Straftäterinnen mit Impulskontrollstörungen untereinander waren sehr realitätsnah erzählt. Nur das Ende wirkte dann wieder vollkommen wirr und auch nicht wirklich nachvollziehbar. Irgendwie ein insgesamt „unrundes“ Lektüreerlebnis, dem eine interessanten Konstellation zugrunde liegt, aber in der Gesamtheit mich nicht wirklich überzeugen konnte. Wäre der schräge Therapeut nicht im Buch aufgetaucht und hätte den Fokus von Salomés abgelenkt, hätte mir die Geschichte vielleicht insgesamt besser gefallen. Die Geschichte hat Potential, welches allerdings nicht vollständig ausgeschöpft wurde.

3/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Zündet leider nicht so richtig

Idol in Flammen
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Für Akari, eine Teenagerin in Japan, steht ihr Idol Masaki, ein Mitte 20jähriger J-Popstar, metaphorisch in Flammen, nachdem er sich einem medialen Shitstorm stellen muss. Er hat nämlich angeblich einen ...

Für Akari, eine Teenagerin in Japan, steht ihr Idol Masaki, ein Mitte 20jähriger J-Popstar, metaphorisch in Flammen, nachdem er sich einem medialen Shitstorm stellen muss. Er hat nämlich angeblich einen weiblichen Fan geschlagen. Für Akari endet damit nicht etwa ihr Fanatismus für Masaki, nein, sie möchte ihn nun mehr denn je unterstützen und füllt damit eine Leere, die sich in ihr selbst schon seit längerem breitmacht.

Die junge japanische Autorin Rin Usami gewann mit diesem Debüt im Alter von nur 21 Jahren bereits einen angesehenen, japanischen Literaturpreis. Doch kann sie mit diesem Roman um die Fankultur, ja man kann sagen den Fanatismus einer Teenagerin, in Japan, die massive Konsumorientierung des Pop-Universums und die emotionalen Nöte der Protagonistin auch hier überzeugen?

Mich hat der Roman besonders zu Beginn stark gefangen genommen. Die Prämisse eines weiblichen Fans, dessen Leben sich tatsächlich ausschließlich um ihr Idol zu kreisen scheint, welcher potentiell ins Schwanken geraten könnte, durch die Enthüllungen um das angebetete Idol bietet viel Sprengkraft. Sehr genau und eindrücklich schildert Rin Usami, wie stark in Japan die Fankultur im Kapitalismus angekommen ist. Dass Fans für ihre Idole all ihr Geld ausgeben. Dass psychologisch geschickte Taktiken angewandt werden, um ihnen noch mehr Geld, mehr als sie vielleicht besitzen, auszugeben. Diese Vereinnahmung der Fans durch die verhängnisvollen Strategien der Pop-Industrie ist aber leider auch das einzige, was mir aus diesem Roman relevant vorkam und auch während und nach der Lektüre in mir weitergearbeitet hat. Diesbezüglich hätte ich mir allerdings auch einen Artikel zum Thema oder eine Doku anschauen können.

Bezüglich der Figuren, dem Plot und der Entwicklung dieser beiden Komponenten eines Romans bin ich leider enttäuscht worden. Obwohl Akari in ihrer Besessenheit aus der Ich-Perspektive heraus diese sehr deutlich darstellen kann, so bleibt mir die Figur ansonsten recht blass. Das kann Kalkül sein, wird doch – recht trocken – erwähnt, dass sie an einer Depression leide. Mit welcher Verbissenheit sie ihrem Fan-Dasein jedoch nachgeht, lässt jedoch an einer ausgeprägten depressiven Erkrankung zweifeln. Auch wenn man durchaus das Gefühl bekommt, dass diese Art Fanatismus für ein Pop-Idol nicht gesund sein kann. Er wirkt eher, als ob sie diese Diagnose, wie so viele junge Leute heutzutage, wie ein gelegenes Label vor sich herträgt. Der zunächst recht interessant wirkende Plot verläuft sich im Laufe des mit seinen nur 125 Seiten recht übersichtlichen Romans sehr schnell. Es entsteht kein Konfliktpotential und wir kochen auf kleiner Flamme so dahin, ebenso wie Akari.

Der Schreibstil bleibt ebenso blass und gewöhnlich. Durch große Zeitsprünge innerhalb der Geschichte, hat man das Gefühl hier ganz schnell und eher oberflächlich durch die Geschichte geschickt zu werden, ohne dass eine Bindung zur Figur entstehen kann. So bleibt zwar unterm Strich eine kurzweilige, solide Lektüre aber davon nur wenig letztlich im Kopf hängen. Kann man lesen bei Interesse an den Vermarktungsstrategien der J-Pop-Industrie. Man verpasst allerdings auch nichts, wenn man dieses Buch auslässt.

3/5 Sterne

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Veröffentlicht am 14.05.2023

Alle unsere Lebenden und alle unsere Toten(-gräber)

Als wir Vögel waren
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In ihrer mythischen Liebesgeschichte, die in einer imaginären Stadt, Port Angeles, auf der karibischen Insel Trinidad spielt bringt die 1980 auf Trinidad geborene Autorin Ayanna Lloyd Banwo zwei Menschen ...

In ihrer mythischen Liebesgeschichte, die in einer imaginären Stadt, Port Angeles, auf der karibischen Insel Trinidad spielt bringt die 1980 auf Trinidad geborene Autorin Ayanna Lloyd Banwo zwei Menschen auf einem holprigen Weg zusammen, die kaum zueinander zu passen scheinen. Beide, sowohl Yejide als auch Darwin, tragen eine große familiäre Verantwortung und es wird im Verlauf das Buches immer klarer, dass sie dieser nur zusammen gerecht werden können.

Yejide treffen wir an, als ihre Mutter im Sterben liegt. Nach und nach erfahren wir, dass das ehemalige Plantagengebäude, in dem die Nachkommen ehemaliger Sklaven – die Familie Yejides und weitere Bewohner seit vielen Generationen leben, stets durch ein Matriarchat von Yejides Familie geführt wurde. Da nun ihre Mutter auf der Schwelle zum Tod steht, muss Yejide entscheiden, ob sie diese Bürde annehmen und dem Auftrag ihrer Vorfahren folgen kann. Denn es geht hier nicht nur um die Hausverwaltung, es geht um das spirituelle Erbe. Alle weiblichen Vorfahren von Yejide waren dazu bestimmt, die Sterbenden auf ihrer Reise ins Jenseits und darüber hinaus zu begleiten. Die Transition würde Yejide einfacher fallen, wenn nicht die Beziehung zur Mutter von jeher gestört gewesen wäre. So hadert sie auf mystischer wie auch auf psychologischer Ebene mit sich und ihrem Erbe.

Darwin hingegen ist mit den Ritualen der Rastafari-Religion aufgewachsen, hat gelernt, dass die Lebenden nicht einmal einen Blick auf die Toten werfen dürfen. Nach einem Aufwachsen mit Ressentiments der Umwelt sich selbst und seiner alleinerziehenden Mutter gegenüber aufgrund ihrer Religion, muss er nun schweren Herzens die wichtige Regel der Trennung von Lebenden und Toten brechen. Um seine Mutter und sich ernähren zu können, muss er einen Job als Totengräber auf dem großen Friedhof Port Angeles‘ „Fidelis“ annehmen.

Beide Wege kreuzen sich nun auf Fidelis, ein Friedhof, auf welchem viele ruhelose Seelen - tot und lebendig - umherirren.

Mich hat dieser Roman um Mythen, Bräuche, indigene Schöpfungsgeschichten, Märchen und von den Sklaven aus Afrika mitgebrachte Traditionen in der Karibik immer stärker eingewickelt und in die Geschichte gesogen. Dies war mein erster intensiverer Kontakt außerhalb von popkulturellen Verweisen mit der Rastafari-Religion, ihren christlichen Ursprüngen und alttestamentarischen Bezügen. Hinzu kommen die afrikanischen Mythen, die durch Yejides Familie vermittelt werden. Vieles, besonders zur Rastafari-Religion wird im Buch nur angedeutet, weckt aber dadurch das Interesse, sich ausführlicher mit dem Thema zu beschäftigen.

Der Plot des Romans wird von einer zunächst sehr ruhigen Einführung in die Geschichten der beiden Hauptcharaktere bestimmt und entwickelt sich im Verlauf zunehmend zu einem spannenden Pageturner mit viel Geisteraction aber auch einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Neben diesen Themen werden durchgängig auch die Fragen nach einer Übernahme von Familientraditionen, dysfunktionalen Mutter-Tochter-Beziehungen, Erbe, Klassenunterschiede und der schmale Grat zwischen Leben und Tod verhandelt.

Insgesamt ist das Buch gut geschrieben. Die Übersetzerin Michaela Grabinger (no pun intended) hat gute Arbeit geleistet bei der Übertragung des Textes aus dem trinidad-kreolischen Englisch, indem sie gerade Darwin eine eher lasche, dezent Umgangssprache gegeben hat, um die Formulierungen ins Deutsche zu bringen. Unabhängig von diese gewollten Umformulierungen und Verkürzungen der Sprache hat jedoch eine signifikant hohe Anzahl an Tippfehlern den Weg ins Buch gefunden, weshalb ein genaueres Lektorat diesbezüglich dem Buch gutgetan hätte.

Diese Geschichte die den magischen Realismus Südamerikas mit den Mythen Afrikas verbindet hat mir sehr gut gefallen und sorgt dafür, dass die junge Autorin nach diesem Debütroman definitiv auf dem Radar bleibt.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 10.05.2023

Was der Roman bringt? Keine Ahnung.

Was der Tag bringt
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Felix ist schon vielen berufliche Ideen in seinem Ende 30jährigem Leben nachgejagt. Auch seine letzte Unternehmung, „Wastefood“ ein kulinarisches Experiment mit entsorgten Lebensmitteln, entwickelt sich ...

Felix ist schon vielen berufliche Ideen in seinem Ende 30jährigem Leben nachgejagt. Auch seine letzte Unternehmung, „Wastefood“ ein kulinarisches Experiment mit entsorgten Lebensmitteln, entwickelt sich nicht so, wie er sich das noch vor der Corona-Pandemie überlegt hatte. Wie viele kleine Unternehmen geht auch dieses den Bach hinunter und Felix sieht sich als einzigen Besitz auf die schicke, geerbte Altbauwohnung der Großeltern in Berlin zurückgeworfen. Um weiterhin finanziell über die Runden zu kommen, entscheidet er sich dazu, ab sofort einmal im Monat für acht Tage seine Wohnung an Touristen zu vermieten. In diesen Tagen muss er andernorts unterkommen und erlebt hierdurch die ein oder andere Wendung, grundsätzlich geht es aber tendenziell bergab mit ihm.

Der Plot dieses Romans hat zwei Gedanken bei mir ausgelöst: Zum einen fühlte ich mich zunehmend an Knut Hamsuns „Hunger“ erinnert, ein Nobelpreis-Klassiker, in welchem ein Mann Ende des 19. Jahrhunderts in Oslo umherirrt, versucht zu Geld und Essen zu kommen, es aber immer wieder durch eigene Animositäten verspielt und während er immer weiter in den Strudel von Armut und Hunger gerät, im wilden Galopp auf den Wahnsinn zurennt. Man könnte jetzt denken: Oh, ein Vergleich mit einem Klassiker, dann scheint „Was der Tag bringt“ ja großartig zu sein. Nein, denn hier kommt Zweitens: Ich habe schon „Hunger“ nicht sonderlich gemocht, und so ist es auch mit dem vorliegenden Roman. Die Grundprämisse scheint dieselbe. Ein Mensch, der es eigentlich nicht so ganz nötig hat, kämpft gefühlt überdramatisch ums Überleben in der Großstadt. Ein Plot, der mich zu Beginn noch mitnehmen konnte, hat mich im Verlauf immer mehr verloren. Spätestens wenn Felix nach einigem Auf und Ab – zwischenzeitlich kommt er unverhofft zu unendlichem Reichtum – sich einen High End Outdoor Schlafsack kauft, nur um sich dann bei den obdachlosen Menschen unter einer Fußgängerunterführung einzuquartieren, ist das Maß voll. Zwischendurch, oder eigentlich fast immer, wird wild rumphilosophiert, merkwürdige Metaphern überstrapaziert und leider wenig Ironie an den Tag gelegt. Diese Ironie bzw. etwas mehr Humor wären nötig gewesen, um diese Groteske interessant zu machen. Hier wird der Sinn gesucht und nicht viel gefunden. So verliert sich die Geschichte in anstrengenden Überlegungen, die aber nicht sonderlich anspruchsvoll sind, sondern nur etwas affektiert so wirken, wie hier aus Seite 219:

„Er blies den Rauch in Richtung der unscharfen Verläufe des Wasser. Stundenlang hatte er zugesehen, wie es die Scheiben mit einem Netz aus Rinnsalen überzog. Hatte den Rauch beobachtet, der von der Scheibe abgewiesen wurde. Ohne dass es etwas erzählte. Ohne Sinn. Eine leere Wiederholung, die Realität wurde, weil er sie ohne Unterlass exerzierte. Ohne Grund. Außer der Schönheit. Der nutzlosen Schönheit. Die wuchs, je länger er die Geste wiederholte. Die ihn immer weiter wegtrug von sich selbst. Nur noch Betrachter sein. War das der Sinn? Zeuge einer nutzlosen Schöpfung zu werden? Endlich die Schönheit des Nutzlosen genießen. Sich aus der Sklaverei des Zwecks befreien? Der Zweck, der Sinn simulierte. Ein Manöver, das vom Unwesentlichen ablenkte. Das die Magie verbot. Weil sie die Aufmerksamkeit von der Fremdbestimmung befreite.“

Spätestens an dieser Stelle, verließ mich die Lust auf das Buch. Es ist zwar grundsätzlich solide geschrieben, hat auch an der ein oder anderen Stelle eine kreative Idee, was alles Felix zustoßen könnte – nein falsch, das ist zu passiv, besser: in welche Situationen sich Felix hineinbugsiert, wird sogar mal ein wenig zärtlich, wenn es um die Beziehung zwischen Felix und seinem Vater geht, insgesamt fehlt mir aber eine Aussage. Wie kann ich einen Roman ernst nehmen (denn humoristisch scheint er ja nicht angelegt zu sein), in dem ein Mann vor sich hin leidet, während er , die geneigten Leser:innen wissen es nach wenigen Seiten, einfach nur seine schicke Berliner Altbauwohnung verkaufen müsste, um wieder aus den roten Zahlen zu kommen. Etwas, was er sowieso tun müsste, wenn er Hartz IV – ähm Pardon – Bürgergeld beantragen würde. Doch er schlägt objektiv nie auf dem harten Boden der Realität auf, sondern immer nur subjektiv und wird dabei immer verrückter.

Was der Tag bringt? Was der Roman bringt? Ich weiß es wirklich nicht. Er hält als Momentaufnahmen durchaus das ein oder andere post-pandemische Szenario der mitteleuropäischen Mittelschicht fest, mehr aber auch nicht.

2,5/5 Sterne

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