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Veröffentlicht am 28.03.2023

In 22 Bahnen zum Highlight

22 Bahnen
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Im Debütroman der 1995 geborenen Autorin Caroline Wahl schwimmt eine junge Frau gegen ihre schwierigen Familienverhältnisse an und einem unabhängigeren Leben entgegen.

Die Ich-Erzählerin Tilda ist Mitte ...

Im Debütroman der 1995 geborenen Autorin Caroline Wahl schwimmt eine junge Frau gegen ihre schwierigen Familienverhältnisse an und einem unabhängigeren Leben entgegen.

Die Ich-Erzählerin Tilda ist Mitte Zwanzig, studiert Mathematik und hat einen Nebenjob, um etwas hinzuzuverdienen und geht zum Ausgleich jeden Abend 22 Bahnen ins Freibad schwimmen. Klingt erst einmal ganz durchschnittlich. Ganz so durchschnittlich sieht ihr Leben bei genauerer Betrachtung gar nicht mehr aus. Denn Ihre Mutter ist Alkoholikerin und schon seit vielen Jahren nicht mehr fähig die Familienangelegenheiten am Laufen zu halten. Die 10jährige Halbschwester Ida lebt in sich zurückgezogen, malt Bilder von Mensch-Tier-Monstern und hat nur ihre große Schwester, die sie beschützt. Der Vater von Tilda verließ die Familie früh, Idas Vater ist nicht bekannt, war noch nie anwesend. Mit dem Nebenjob finanziert Tilda nicht nur ihr Studium sondern auch noch ihre Familie, welche am unteren Existenzminimum lebt.

Nun könnte man meinen, dass es sich hierbei um eine weitere stereotypische Betrachtung einer bildungsfernen Familie in der untersten sozioökonomischen Schicht handelt. Aber weit gefehlt, die Mutter stand kurz vor ihrem Magisterabschluss im Literaturstudium, als sie mit Tilda schwanger wurde, das Studium abbrach und seitdem die meiste Zeit zu Hause blieb; zunächst für das Kind, später aufgrund des Alkohols. Der Vater war damals Doktorand im Germanistischen Seminar und ist mittlerweile Professor. Trotzdem lässt er sich in seiner ersten Familie nicht mehr blicken, seit er eine neue Familie mit neuen Kindern hat. Tilda lernte schnell den Unterschied zwischen ihrer Familie und der Familie ihrer besten Freundin Marlene, die aus der gut situierten Mittelschicht stammt, denn bei ihnen gab es immer einen Abendbrottisch, an dem alle zusammen aßen und sich unterhielten. Diese intakten Familien nennt sie seitdem nur noch „Abendbrottisch-Familien“.

Wirklich unglaublich mitreißend inszeniert Caroline Wahl nun Tildas und Idas Leben, ihren Zusammenhalt und auch ihre Abhängigkeit voneinander, die Tilda daran hindert mit ihrem eigenen Leben voranzukommen. Das macht die Autorin über eine klare Sprache mit Bildern, die hängen bleiben, wie eben die „Abendbrottisch-Familie“ und Sätzen, die sich einbrennen. Zunächst ist man erst einmal verwundert, wenn die Autorin alle Zahlwörter als Ziffern schreibt. Man fragt sich, ob sich hier nun die neumodische Kurznachrichtenschreibweise eingeschlichen hat, wenn die Erzählerin zum Beispiel meint, dass sie 3-mal jemanden getroffen hat. Aber dann wird es klar, die Ich-Erzählerin ist Mathematikstudentin, seit sie ein Kind ist, denkt sie in Zahlen und Ziffern, zählt alles und jeden ab, rechnet automatisch zusammen, stellt Analysen aufgrund dessen her. So auch, wenn sie an der Supermarktkasse sitzt, nicht aufsieht und die Artikel auflistet, die sie gerade über den Scanner zieht, dann entwirft sie im Kopf einen kurzen Steckbrief zur vermuteten Person und überprüft ihre Hypothese dann durch Anschauen der Person. Meist liegt sie richtig.

In der Quintessenz geht es im Familie und vor allem Schwesternschaft in diesem Buch. Die Liebe zwischen diesen beiden Halbschwestern ist so wunderbar, dass sie die Lesenden über die schrecklichen Passagen, in welchen die Mutter mal wieder beweist, was für eine miese Mutter sie ist, wenn sie gewalttätig wird und von Tilda nur noch „das Monster“ genannt wird, hinwegrettet. Aber auch die Protagonistin und ihre Schwester rettet diese Liebe. Einmal sagt Tilda über ihre Beziehung zu Ida:

„Wir sind eine Familie. Wir sind ein intakter Organismus, wir funktionieren zusammen. Gestört werden wir nur durch den letzten Teil unserer Familie [die Mutter]. Also eigentlich sind wir eine überwiegend intakte Familie. Zu 66,67 Prozent. Wir sind intakte Schwester. Zu 100 Prozent.“

Dadurch lastet aber auch schon seit Jahren eine große Verantwortung auf Tilda und wie sie damit im Laufe des Buches lernt umzugehen und sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse dabei nicht zu vergessen, darum geht es hier auch.

Mich hat das Buch vollkommen in seinen Bann gezogen. Ich bin diesem Schwesternpaar so unglaublich gern gefolgt, obwohl hier alles andere als Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung herrscht. Bei folgender Gleichung kann es nur eine logische Schlussfolgerung geben: Wenn ich nichts am Buch auszusetzen habe + es innerhalb von einem Tag gespannt eingesogen habe + mich die Geschichte sowie die Figuren emotional sehr berührt haben + ich kaum abwarten kann zu lesen, was die Autorin nach diesem starken Debüt schreibt = 5,0 Sterne. Zu 100 Prozent sicher.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 06.03.2023

Ein erschütternd eindrücklicher Roman über die Liebe und das Leben

Liebewesen
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Mit ihrem Debüt legt die 1992 geborene Caroline Schmitt einen eindrücklichen Roman zur Bindungsfähigkeit von Menschen mit Kindheiten in dysfunktionalen Familien vor, das wie ein Leichtgewicht beginnt und ...

Mit ihrem Debüt legt die 1992 geborene Caroline Schmitt einen eindrücklichen Roman zur Bindungsfähigkeit von Menschen mit Kindheiten in dysfunktionalen Familien vor, das wie ein Leichtgewicht beginnt und mit zunehmenden Verlauf zu einem echten Schwergewicht wird.

Lio wird von ihrer besten Freundin Mariam über eine Dating-App mit Max verkuppelt. Zunächst scheint die ansonsten fast zwanghaft auf ihr Studium und ihre darauffolgende Forschungsarbeit als Biologin fixierte Lio mithilfe dieser frischen und gleichzeitig ihrer ersten Liebesbeziehung immer mehr aufzutauen. Locker leicht gehen die Verliebten miteinander um, passen zusammen, können sich eloquent in Gesprächen die Bälle zuspielen. Nur zeigt sich mit der Zeit, dass Max immer wieder depressive Phasen und Lio eine Kindheit und sexuelle Erfahrung hat, die einem einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Als die dreißigjährige Lio schwanger wird, muss sie nicht nur entscheiden, ob es dafür der richtige Zeitpunkt in ihrem Leben ist, sondern auch ob sie überhaupt mit Max zusammen ein Kind haben möchte, ob sie überhaupt eine Mutter seine möchte.

Caroline Schmitt lässt uns durch ihren direkten, ungeschönten und mitunter lakonischen Erzählstil ganz entgegen der Erwartung, die solche Beschreibungen eines Schreibstils aufkommen lassen, sehr nah an ihre Protagonistin und ihr soziales Umfeld herankommen. Zunächst wird man durch die lockere Art, wie Lio mit ihrer Freundin Mariam und dann auch mit ihrem Partner Max umgeht, auf die falsche Bahn geleitet. Denkt man doch, dass sie eine witzige, unbedarfte junge Frau ist. Aber umso tiefer fällt man, wenn man dann durch Rückblicke Details aus ihrer Vergangenheit erfährt. Und umso verständlich wird es den Lesenden gemacht, warum diese Frau mit dem in ihr wachsenden Leben und auch der Beziehung zu Max hadert.

So kommt die Ich-Erzählerin Lio immer wieder in ihren Gedanken, an denen wir teilhaben dürfen, zu Feststellungen, die ihre Prägung und ihre Beziehungsschwierigkeiten mit Max auf den Punkt bringen, wie: „Als wäre es in der Geschichte von Beziehungen jemals eine gute Idee gewesen zusammenzubleiben, um einander in Krisen beizustehen, die man ohne die andere Person nicht hätte.“ Oder auch die alles sagende Frage: „Wie konnte irgendjemand, der dort aufgewachsen, wo ich herkam, guten Gewissens Kinder bekommen?“. Psychologisch vollkommen nachvollziehbar und korrekt leitet die Autorin die entstandenen Probleme in der Liebe von Lio und Max mithilfe der erlernten Muster und gemachten Erfahrungen her. Die Figuren handeln schlüssig und wirken mit all ihren Problemen trotzdem insgesamt äußerst authentisch. Die Autorin schafft es nicht nur in diese Liebesbeziehung hineinzuziehen, sondern auch die Verbindung zu den Eltern sehr gut herauszuarbeiten. Der Stil von Schmitt pack zu und kann gleichzeitig die eigenen Erinnerungen und Gefühle berühren.

Ich bin schlussendlich von diesem Roman überrollt und mitgerissen worden, wie es nur eine Welle von gekonnter Schonungslosigkeit und klarer Aussprache von Zusammenhängen vermag. Deshalb bekommt dieses ganz hervorragende Debüt eine klare Leseempfehlung von mir. Ein weiteres Highlight aus dem Bereich der jungen, deutschsprachigen Autor:innen, die kein Blatt vor den Mund nehmen und gleichzeitig nie auf Krawall gebürstet sind sondern Sichtbarkeit und Aufklärung mit viel Empathie für ihre weiblichen Figuren erreichen. Das grandiose Cover des Buches mutet wie eine Kampfansage an, soll aber sicherlich - ebenso wie der Roman - aufrütteln und einen Perspektivwechsel anstoßen. Es zeigt ein Gemälde des 1950 geborenen, amerikanischen Künstlers Mark Tennant, nicht etwa einer jungen feministischen Malerin. Soll heißen: Hier wird mit Erwartungen gebrochen. Ein rundum tolles Paket, welches daran erinnert, dass wir nicht nur Lebewesen sondern auch Liebewesen sind, die das Wesen der Liebe, sowohl zwischen Partner:innen als auch zwischen Eltern und ihren Kindern, immer wieder ergründen müssen.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 24.02.2023

Immer mehr geben als nehmen

Wovon wir leben
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In Birgit Birnbachers neustem Roman geht es nicht nur darum wie wir leben, sondern eben vor allem wovon wir leben. Wir leben nicht nur von der Erwerbsarbeit, sondern müssen auch mit einer erzwungenen Arbeitslosigkeit ...

In Birgit Birnbachers neustem Roman geht es nicht nur darum wie wir leben, sondern eben vor allem wovon wir leben. Wir leben nicht nur von der Erwerbsarbeit, sondern müssen auch mit einer erzwungenen Arbeitslosigkeit leben. Und - besonders Frauen – müssen auch noch zusätzlich mit der ihnen auferlegten Care-Arbeit leben. Welche Auswirkungen das auf die eigene Gesundheit, den Lebensentwurf und letztlich das eigene Ich haben kann, damit beschäftigt sich Birnbacher verdichtet auf nur knapp 190 Buchseiten.

Julia ist Mitte Dreißig und war bis vor kurzem noch Krankenschwester auf der Inneren Station eines Kreiskrankenhauses in Österreich. Nach einem fatalen Fehler kann sie nicht mehr atmen, im übertragenen wie auch wörtlichen Sinne. Sie wird arbeitsunfähig und steht zu Beginn des Romans vor ihrer Entlassung. Da sie in einer Betriebswohnung lebt, zieht sie kurzerhand zurück in ihren Heimatort zu den Eltern. Nur erwarten sie dort neben der Nachricht, dass die Mutter gar nicht mehr zuhause lebe, noch weitere Neuigkeiten und Neulinge. Die nahegelegene Schokoladenfabrik hat geschlossen und nun ist der halbe Ort arbeitslos, hinzu gesellt sich der Städter Oskar, der kürzlich einen kleinen Herzinfarkt erlitt, einen sogenannten „Luxusinfarkt“, aber Glück im Unglück hatte und ein einjähriges Grundeinkommen gewonnen hat. So treffen nun diese verschiedenen Welten aufeinander und es entsteht des Bild einer Gesellschaft, die sich durch Arbeit definiert, in dieser Arbeit die sogenannte Care-Arbeit aber gar nicht mitgedacht wird. Julia muss einen Weg und ihren Weg finden, sich neu zu definieren, und trifft dabei auf diverse Widerstände in der Gemeinschaft aber auch in sich selbst.

Durch ihre nüchterne, mitunter lakonische Sprache erschafft Birnbacher in ihrem Roman das realitätsnahe Bild einer Dorfgemeinschaft mit den ganz individuellen Nöten der dort lebenden Menschen. Während sie ganz präzise Beschreibungen findet, schwingen in den meist einfach anmutenden Sätzen, tiefgründige Erkenntnisse mit. Gleich auf der ersten Seite lese von wir von der Ich-Erzählerin, dass sie aufgrund ihrer schweren asthmatischen Erkrankung, durch welche sie „nur knapp am Sauerstoff vorbei“ geschrammt ist (soll heißen, der Sauerstoffflasche zur Erleichterung der Atmung), die „vollständige Atmung“ hat erlernen müssen: Immer mehr aus als ein. Ziemlich einfach zu merken: immer mehr geben als nehmen.“ Dieses „immer mehr geben als nehmen“ scheint die Überschrift über dem Leben so vieler Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft zu sein und auch dem von Julia und ihrer Mutter. Zu ihrem Vater und seiner Rolle in der Familie macht sie sich folgende Gedanken (S. 151):

„Wie hat er sich das eigentlich vorgestellt, damals bei der Familiengründung? Er macht eine Skizze, einen Grundriss vom Haus, der Werkstatt und dem Garten, das reicht. Fürs Fleisch und Blut, fürs Gebären, fürs Großziehen, die Sauberkeit und den Dreck, für die Exkremente, die Tränen und den Schweiß waren immer die Frauen zuständig.“

Julia hadert aber auch mit ihrer Rolle und versucht einen eigenen Weg zu finden. Der gesamte Roman ist überzeugend, was mich aber schlussendlich vollends für diese unglaublich realitätsnahe Zeichnung der Gefüge innerhalb der Familie, ja innerhalb der Gesellschaft, eingenommen hat, ist das Ende des Romans. Weder ein Happy noch ein Sad Ending ist es geworden. Nein, ein allzu realistisches Ende hat Birgit Birnbacher ihrem Roman gegeben. Nach dem Zuklappen der Buchdeckel ist man ob der präsentierten Wahrheiten, die man doch eigentlich schon zur Genüge kennt, sprachlos. Hier handelt es sich beileibe nicht um einen happy-go-lucky-Aussteigerroman, aber auch nicht um ein belehrendes Buch, sondern ein nüchternes Abbild der Realität inklusive der Innenansicht einer ganz normalen Frau, die ihr Schicksal nicht hinnehmen kann und will, und gleichzeitig mit sich und den Umständen zu kämpfen hat. Das ist grandios gemacht und damit eins meiner diesjährigen Highlights. Klare Leseempfehlung!

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 18.02.2023

Entlarvend tiefgründige Milieustudie

Die Mütter
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Mit nur 26 Jahren veröffentlichte die afroamerikanische Autorin Brit Bennett ihren überzeugenden Debütroman „Die Mütter“. Darin zeichnet die Amerikanerin das entlarvende Bild einer Gesellschaft, die hohe ...

Mit nur 26 Jahren veröffentlichte die afroamerikanische Autorin Brit Bennett ihren überzeugenden Debütroman „Die Mütter“. Darin zeichnet die Amerikanerin das entlarvende Bild einer Gesellschaft, die hohe moralische Standards propagiert, während sie diese selbst nicht einzulösen vermag.

Die afroamerikanische Nadia Turner ist gerade einmal 17 Jahre alt als sie von ihrem Freund schwanger wird. Die Beziehung zu ihm stellte für sie einen Fluchtpunkt dar, nachdem sich ein halbes Jahr zuvor ihre eigene Mutter mit der Pistole des Vaters das Gehirn weggeschossen hat. Für Luke, Kindsvater und Pastorensohn, sollte eigentlich schon die Beziehung zu Nadia geheim bleiben, eine öffentliche Schwangerschaft wäre somit eine Katastrophe für ihn aber vor allem für das Pastorenehepaar. Die einzige Lösung scheint eine Abtreibung. Diese zerstört die Liebesbeziehung der beiden jungen Leute vorerst, und doch wird sich ihr Lebensweg in den nächsten Jahren immer wieder kreuzen. Und immer wieder wird das nicht ausgetragene Kind mal trennend, mal verbindend zwischen diesen beiden Menschen stehen. Nadia verlagert ihren Wunsch nach Nähe auf eine Mädchenfreundschaft mit Aubrey, ein eifriges Kirchengemeindemitglied. Das Geheimnis um die Abtreibung, die Freundschaft der beiden jungen Frauen sowie Liebesverflechtungen mit Luke machen den Plot des Romans nun fast zu einer griechischen Tragödie.

Aber nicht nur der Plot legt den Vergleich mit der griechischen Tragödie nahe. Auch die grandiose Struktur des Romans lässt daran denken und gibt ihm eine weitere Dimension. So beginnt der Roman quasi mit einem „Chorgesang“, denn die ältesten Damen der Kirchengemeinde, genannt „Die Mütter“, kommentieren durch ihren Klatsch und Tratsch, welcher immer in der Pluralform „Wir“ formuliert wird, die Geschehnisse um die drei jungen Leute. Über das gesamte Buch hinweg vervollständigen die Kommentarszenen die Handlungsszenen des Romans, ohne in die Handlung als solche einzugreifen.

Die Handlung ist nicht nur spannend und präzise konstruiert, sondern auch doppelbödig und entlarvend für die amerikanische Gesellschaft. Wenn wir durch die Mütter erfahren, dass die Kirchengemeinde damals bei der Eröffnung der Abtreibungsklinik vor zehn Jahren massiven Protest angewendet hat und gleichzeitig auf der Handlungsebene Lukes Eltern als Pastorenehepaar dieser Gemeinde die Kosten für die Abtreibung übernehmen, um ihrem Sohn „aus der Patsche“ zu helfen, wird das Ausmaß der Perfidität erst so richtig deutlich. Auch deckt Bennett durch das Aufeinandertreffen verschiedenster Figuren mit verschiedenen ethnischen Hintergründen nicht nur den Alltagsrassismus der Weißen gegenüber den Schwarzen auf, sondern auch gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen sowie dieser Minderheiten untereinander. All das verbindet Bennett durch ihren hervorragenden, gelassenen, nicht übermäßig dramatisierenden Schreibstil, der auf den Punkt genau die gewünschten Erkenntniseffekte erzielt.

So entspinnt sich nicht nur eine Geschichte um Verrat und Lügen auf persönlicher Ebene, sondern auch um die Emanzipation einer Frau aus ihrem Milieu in einem Kaff in San Diego County, welches außer einer Laufbahn auf dem nahen Militärstützpunkt oder als Football-Nachwuchs kaum Aufstiegschancen für eine Person aus einer marginalisierten Gruppe bietet, erst recht nicht für eine weibliche (!). Ein ganz großartiger Roman, welchen ich vorbehaltlos für eine aufschlussreiche Lektüre empfehlen kann.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 09.06.2024

Vielschichtiges und Jahrzehnte umspannendes Bild einer persischen Oberschichtsfamilie

Die Perserinnen
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Sanam Mahloudji nimmt eine interessante Perspektive ein, wenn sie über einen Zeitraum von fast 80 Jahren hinweg die weibliche Seite einer iranischen Familiengeschichte erzählt. Denn sie nähert sich in ...

Sanam Mahloudji nimmt eine interessante Perspektive ein, wenn sie über einen Zeitraum von fast 80 Jahren hinweg die weibliche Seite einer iranischen Familiengeschichte erzählt. Denn sie nähert sich in ihrem Debütroman „Die Perserinnen“ den Frauen einer Familie, die vor der Islamischen Revolution 1979 zur Oberschicht des Iran gehörte. Elisabeth ist schätzungsweise in den 1930ern als Enkelin des „Großen Kriegers“ geboren. Ein Mann, der laut Familiengeschichte sein Leben im Kampf für einen demokratischen Iran ließ. Das Familienvermögen und -prestige basiert auf diesem Vorfahr. Während Elisabeth in ihrer Kindheit und Jugend wie eine Prinzessin von der Bevölkerung Teherans behandelt wurde, gab sie später dieses Bewusstsein für Stellung an ihre Kinder weiter. Zwei davon sind Sima und Shirin, welche - ebenso wie ihr Bruder Nadar - im Zuge der Islamischen Revolution über Südfrankreich in die USA „flüchteten“. Deren Kinder Bita und Mo wuchsen dann in den USA auf, während Shirins älteste Tochter Niaz bei Elisabeth im Iran zurückblieb und dort aufwuchs.

Die Gegenwartshandlung des Romans setzt im Weihnachtsurlaub des US-amerikanischen Teils der persischen Familie in Aspen in 2004/2005 ein. Wir erleben mit, in welch einem Überfluss diese Familie lebt. Und das macht für mich schon einmal einen kreativen Ansatz das Romans aus, werden doch sonst häufig Geschichten von stark benachteiligten und unterdrückten Familien aus dem Iran in der Literatur beschrieben. Auf den ersten Blick scheint diese reiche Familie in einer vollkommen sorgenfreien Sphäre zu leben. So auch Shirin, die mit um die 50 Jahren aufgetakelt in einer Bar verhaftet wird, weil sie angeblich ihre eigenen Prostitution anbahnte. Dabei liegt es eher daran, dass Shirin eine hoch theatralische Persönlichkeit hat und überall, wo sie hinkommt eine Szene machen muss. Sie möchte ununterbrochen im Mittelpunkt stehen und gerät dadurch auch sehr schnell zur anstrengendsten, aber nicht uninteressantesten Person dieses prosaischen Figurenreigens. Allerdings leitet die Autorin das Gehabe von Shirin sehr gut her, weshalb sie zu so einer „unsympathischen Figur“ wird, die man unterm Strich eigentlich doch gern begleitet. Wir folgen in wechselnden Kapiteln immer den einzelnen Frauen der Familie zu unterschiedlichen Zeiten von den 1940ern bis zum gegenwärtigen Plotverlauf, der sich um Shirins Anzeige in 2005 dreht. Dabei spricht eine Figur auch aus einer Zwischenwelt kurz vor dem Jenseits, denn wie wir gleich zu Beginn erfahren, ist Sima - Bitas Mutter - bereits im April 2004 verstorben.

Durch diese multiperspektivische Herangehensweise bekommen die Lesenden ein facettenreiches Bild zur Familiengeschichte aber auch zu den einzelnen Lebensläufen der Frauen. Durch die Figuren Elisabeth und Niaz, die die letzten 25 Jahre im Iran verblieben sind, bekommt man neben den Eindrücken einer reichen, persischen Familie in den kapitalistischen USA auch einen sehr guten Einblick in das Leben von Zurückgebliebenen, die unter den Ayatollahs nicht mehr ihrem Leben in Saus und Braus nachgehen können.

Obwohl ich schon einige informative Texte über die Geschichte und die Menschen des Irans gelesen habe, hat mir „Die Perserinnen“ doch immer wieder noch unbekannt Informationen vermittelt und neue Blickwinkel ermöglicht. Die Figuren werden in ihren Handlungen und Einstellungen sehr gut hergeleitet und man bekommt ein umfangreiches Bild ihrer Sozialisation und ihrer Lebensumstände. Auch zur iranischen Historie wurden politische Zusammenhänge leicht verständlich dargestellt, was das Buch zu eines äußerst lesenswerten Roman macht.

Immer tiefer dringt man in die einzelnen Schicksale und Köpfe der Figuren, was einen starken Sog entwickelt. Allein zum Ende hin wird mir der Roman zu verkopft und zu erklärend. Bis zum Ende wurde mir außerdem nicht klar, warum die „Elisabeth“-Kapitel die einzigen sind, die aus der personalen Perspektive heraus erzählt sind. Alle anderen Frauen berichten aus der Ich-Perspektive, selbst die verstorbene Sima.

Für mich stellt „Die Perserinnen“ ein starkes Debüt dar, welches eine klare Leseempfehlung von mir erhält. Ich freue mich darauf, von der Autorin noch mehr zu lesen.

4,5/5 Sterne

PS: Ein Kuriosum, welches ich so noch nie gesehen habe: Das Buch wurde in englischer Sprache verfasst, da die Autorin schon als Kind aus dem Iran in die USA auswanderte. Die deutsche Übersetzung des Romans ist allerdings die allererste Veröffentlichung des Textes. Der englischsprachige Orignaltext wird erst in 2025 (!) erscheinen, ebenso wie die Veröffentlichungen in anderen Ländern. Siehe sanammahloudji.com:

„Her debut novel THE PERSIANS will be released in February & March 2025 with Fourth Estate (UK) and Scribner (US). It will also come out in translation in Germany (Piper), the Netherlands (Ambo Anthos), Hungary (Europa), Croatia (Fraktura) and Romania (Polirom). The German edition will be released first on May 31, 2024!“

PPS: Falls jemand vom Verlag meine Rezi lesen sollte: Für eine (hoffentlich gedruckte) zweite Auflage: Auf S. 319 heißt es, dass Sima am „1. April 1994“ gestorben sei. Das ist ein Fehler, sie ist in 2004 gestorben. Das könnte beim Lesen so einige irritieren. ;)

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