Profilbild von GAIA_SE

GAIA_SE

Lesejury Star
offline

GAIA_SE ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit GAIA_SE über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 14.10.2024

Nachhilfe im indischen Unabhängigkeitskampf

Antichristie
0

Mithu Sanyal erschafft in ihrem zweiten Roman „Antichristie“ einen wilden Ritt der historischen, literarischen und popkulturellen Bezüge, bei dem man letztlich sehr viel hinzulernt, man darf aber auch ...

Mithu Sanyal erschafft in ihrem zweiten Roman „Antichristie“ einen wilden Ritt der historischen, literarischen und popkulturellen Bezüge, bei dem man letztlich sehr viel hinzulernt, man darf aber auch nicht zwischen den Jahrhunderten verloren gehen.

Der Plot von „Antichristie“ ist schwer kurz zusammenzufassen, hier also nur ein Versuch: Durga ist eine Drehbuchautorin für Science Fiction und Costume Drama um die Fünfzig, deren deutschstämmige Mutter, zu welcher sie nach der Trennung der Eltern ein angespanntes Verhältnis hatte, vor kurzem verstorben ist. Den indischstämmigen Vater, bei dem Durga nach der Trennung aufwuchs, lernen wir erst einmal nur kurz bei der „Bestattung“(dem Verstreuen) der Asche kennen. Eine ruhige Trauerverarbeitung scheint für Durga kaum in Sicht, muss sie doch direkt nach London weiterreisen, da sie den Auftrag hat, an einer anti-rassistischen Neuverfilmungsserie zu Agatha Christies Detektiv-Figur Hercule Poirot mitzuarbeiten. Sie ist Spezialistin für sogenannte Locked-Room-Mysteries und im Laufe des Romans wird sie einem solchen auch selbst gegenüberstehen. In London angekommen dauert es nicht lange und die designierte Doctor Who-Autorin reist unfreiwillig aus dem Todesjahr der britischen Königin Elisabeth II. 2022 zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Selber Ort, andere Zeit. Und: Anderer Körper, denn nun befindet sie sich im Körper eines jungen Anfang Zwanzig jährigen Inders, der gerade aus der indischen Kolonie nach London gekommen ist. Als diese Person schließt sie/er sich der indischen Unabhängigkeitsbewegung an, die auch von London aus geführt wird, und kommt in Kontakt mit wichtigen intellektuellen Vertretern der Bewegung, unter denen eine hitzige Diskussion herrscht, ob ein Widerstand gewaltfrei oder mit Mitteln der Gewalt geführt werden soll und darf. Mit der Zeit wird klar, dass es sich weniger um eine Zeit- als vielmehr um eine Astralreise handelt und die Person Durga/Sanjeev (wie sie/er sich im historischen London nennt) mehrfach zwischen den Zeiten hin und her wechselt.

Es ist schon unglaublich ambitioniert gemacht, wie Sanyal hier so viele Themen miteinander verbindet. Da ist nicht nur die Fragestellung, wie zu einer Königsfamilie stehen, die noch viele Jahre koloniale Gräueltaten billigte, sondern auch, wie rassistisch und von kolonialen Mustern geprägt literarische Klassiker sein können und ob dies neu interpretiert werden sollte. Auch geht es in einem großen Schwerpunkt um den indischen Unabhängigkeitskampf von der Kolonialmacht Groß Britannien. Und gleichzeitig muss sich Durga ihrer eigenen Lebensgeschichte, ihren Eltern, deren Lebenserfahrungen sowie der Trauer um die verstorbene Mutter stellen. Stilistisch kommt es dann auch noch zu einem im Roman eingebauten Querverweis auf die Krimis von Agatha Christie, indem im Vergangenheitsstrang ein Locked-Room-Mystery geschieht, welches mithilfe eines berühmten Detektivs aufgeklärt werden soll. Und mit dem Trick der Astralreise gibt die Autorin der zeitgenössischen Figur Durga die Chance, die damaligen Diskussionen um den moralisch „richtigen“ Weg eines Widerstands aus unserer heutigen Sicht immer wieder zu reflektieren und zu bewerten.

Gerade der letzte schriftstellerische Trick von Sanyal ist für mich der stärkste Pluspunkt an diesem Roman. Denn wird ein historischer Roman geschrieben, steht es einem nicht zur Verfügung, eine zeitgenössisch-wertende Figur daran teilhaben zu lassen. Schreibt man einen Roman, der in der Gegenwart spielt, können die Figuren gar nicht nachempfinden, wie es sich zur damaligen zeit für die realen Protagonist:innen angefühlt haben muss. Diese Gegenüberstellung löst die Autorin hier äußerst kreativ.

Der Schreibstil von Sanyal ist immer wieder von witzigen Kommentaren und Hinweisen durchsetzt, sodass sich der Text oft mit einer gewissen Leichtigkeit lesen lässt, obwohl er sehr schwere Themen behandelt. Allerdings schweift die Autorin auch deutlich aus und man muss ein großes Interesse an der Geschichte des indischen Unabhängigkeitskampfes mitbringen, um hier bei der Stange bleiben zu können. Nicht viel anfangen konnte ich mit den nun auch noch zusätzlich zu jedem Kapitelbeginn eingeschobenen Regieanweisungen für einen möglichen Filmset. Um was es sich handelt, wird schnell klar, aber trotzdem sind diese Anweisungen plus die darauf folgenden Zitate aus verschiedenen (pop-)kulturellen Quellen meines Erachtens einfach zu viel zu all den anderen stilistischen und inhaltlichen Mitteln. In der Struktur ist der Roman also wirklich sehr komplex.

Letztlich wirkte mir der Roman auf literarischer Ebene aufgrund der unglaublich vielen Ideen, die Mithu Sanyal hineingepackt hat, doch zu überladen. Im Vergleich hat mir „Identitti“ diesbezüglich mehr gefallen, da der Roman stringenter ausgeführt wirkte. So schwanke ich sehr zwischen 3 und 4 Sternen in der abschließenden Bewertung. Der Roman ist unterm Strich - mit den entsprechenden Ambitionen und Durchhaltevermögen der Leser:innen - äußerst lehrreich und dadurch durchaus lesenswert.

3,5/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.09.2024

Hier ist der Weg das Ziel

Das große Spiel
0

In Richard Powers richtet in seinem neuen Roman „Das große Spiel“ den Blick auf die technischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte aber auch wohin es in der nahen Zukunft gehen könnte. Dafür versammelt ...

In Richard Powers richtet in seinem neuen Roman „Das große Spiel“ den Blick auf die technischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte aber auch wohin es in der nahen Zukunft gehen könnte. Dafür versammelt er verschiedene Protagonist:innen, deren Lebenswege nachgespürt werden und die letztlich alle zusammenführen. So geht es inhaltlich nicht nur um das große, durch den Menschen ausgelöste Artensterben vor allem in den Weltmeeren, sondern auch um die Entwicklung von Computertechnik bis hin zur KI.

Wer hier einen actiongeladenen Umweltthriller erwartet, wird eventuell enttäuscht werden, denn Powers konzentriert sich über viele hunderte Seiten hinweg hauptsächlich drauf, die einzelnen handelnden Personen des Romans vorzustellen. Bis man dann irgendwann merkt, dass es gar nicht um die Einführung von Figuren geht, sondern dass in diesem Roman der Weg das Ziel ist. Es geht um genau diese verschiedenen Lebensentwürfe und wie sie mit einander und mit dem Schicksal des Planeten verschränkt sind. Da haben wir den hochbegabten Todd Keane, der aus guten hause stammt und sich schon zu Schulzeiten mit dem ebenso hochbegabten Schwarzen Rafi Young anfreundet. Während das Programmieren Todds Steckenpferd ist, stellt dies bei Rafi das Schreiben, die Lyrik dar. Und da gibt es noch die Meeresbiologin Evie Beaulieu, welche schon als Kind tauchen lernt und sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Frau in der Feldforschung behaupten muss. Sowie Ina Aroita, eine Künstlerin, welche schon immer auf Inseln lebte und deren Identität von den Vorfahren des Meeres geprägt ist.

All diese Leben sind miteinander verwoben. Immer wieder gibt uns Powers durch Rückblicke Hinweise, auf welche Art und Weise und letztlich können wir das Gesamtbild mit dem Clou der Geschichte erst zum Ende hin vollständig greifen. Diesen besagten Clou habe ich bezogen auf sein Auftauchen zwar erwartet, aber inhaltlich nicht vorhersehen können, was für mich ein massiver Pluspunkt des Buches ist. Wer schon viele Geschichten zum Thema KI gelesen hat, kann nur noch selten überrascht werden. Powers ist dies hier gelungen.

Des Weiteren eröffnet er ein unglaublich wissenswertes Themengebiet um die vielen Inseln mitten im Ozean von Französisch-Polynesien. Inseln mit all ihrer Natur und ihren Bewohnern, die von den französischen Eroberern bis weit in die 1960er Jahre hinein und bis heute ausgeraubt werden. Auf deren Atollen man meinte, Atomtests durchführen zu können. Speziell Makateas Phosphatvorkommen wurden rücksichtslos abgebaut und eine geschundene Insel hinterlassen. Auf dieser Insel spielt die „Gegenwartshandlung“, welche nur leicht in die Zukunft versetzt wurde. Man weiß schnell, dort wird es zum Showdown kommen. Und man wird nicht enttäuscht. Nur die Art des Showdowns ist wirklich eine Nummer für sich.

Insgesamt liest sich „Das große Spiel“ wirklich sehr süffig weg. Wenn man die knapp 510 Seite gelesen hat, wundert man sich, wie man durch sie hindurchgeflogen ist. Für mich gab es nur selten die ein oder andere Länge in den Geschichten. Letztlich fügte sich hier aber alles zusammen, sodass ich gern eine Leseempfehlung für den Roman ausspreche. Allein schon für die leicht verständliche Darstellung der Entwicklungsstufen von Künstlicher Intelligenz lohnt eine Lektüre, aber natürlich auch für das eindringliche Aufzeigen der menschlichen Zerstörungskraft und den Appell unseren Planeten mit all seinen Lebewesen nicht noch mehr zugrunde zu richten, sondern die Kehrtwende zu forcieren.

4,5/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 31.08.2024

Konnte mir nichts geben

Aus dem Haus
0

Die Ich-Erzählerin in Miriam Böttgers Debütroman wählt DAS HAUS ihrer Familie, in dem sie Jahre ihrer Kindheit und Jugend verbracht hat, um anhand von thematischen Ausflügen ein Porträt ihrer Familie und ...

Die Ich-Erzählerin in Miriam Böttgers Debütroman wählt DAS HAUS ihrer Familie, in dem sie Jahre ihrer Kindheit und Jugend verbracht hat, um anhand von thematischen Ausflügen ein Porträt ihrer Familie und Verwandtschaft zu erstellen.

Zusammen mit dem ansprechenden Klappentext des Buches könnte man nun eine witzig-selbstironische Betrachtung der Eigenheiten einer Familie erwarten. Leider erfüllt der Roman von Böttger dieser Erwartung nicht. Es fehlt dem Text eindeutig am nötigen Humor bzw. an der Selbstironie, um diese Nabelschau interessant zu gestalten. Auf hohem Niveau wird sich in dieser Familie über ihr HAUS und das Unglück im Allgemeinen beschwert. Bei dem HAUS handelt es sich um ein 300 Quadratmeter großes Herrenhaus, welches die Familie in Kassel bauen ließ, nachdem sie in einer echten Luxusvilla zur Zwischenmiete wohnte. Nun ist alles schlechter als man es sich wünscht, die Mutter leidet an einer depressiven Verstimmung und Kassel muss man auch noch ertragen.

Warum die Autorin hier als Rahmenhandlung eine nur kurz angedeutete Gegenwart wählt, in der – wir erfahren es gleich zu Beginn – bereits der Vater der Erzählerin verstorben ist und die Mutter scheinbar vorzeitig gealtert, nur um dann für den Haupttext wieder zurück in die Zeit des Wohneigentums zurückzuspringen und dort unglaublich viele Anekdoten und Befindlichkeiten zu präsentieren, bleib mir unerschlossen. Geärgert hat mich am Text, dass dieser so beliebig wirkt und Belanglosigkeit an Belanglosigkeit reiht. Menschen, die keinen Grund haben sich zu beschweren und es trotzdem durchweg tun, sind, wenn sie nicht mit ebenjener erwähnten Selbstironie ausgestattet werden oder so zumindest beschrieben werden, unglaublich nervtötend.

Hätte es sich hierbei nicht um ein Rezensionsexemplar gehandelt, ich hätte es nach spätestens 40 Seiten abgebrochen und ich hätte nichts weiter verpasst.

Man sollte sich inhaltlich auf 225 Seiten von dem gefasst machen, was hier im Text selbst sogar umschrieben wird:
„Erst allmählich ist mir klar geworden, wie luxuriös und verschwenderisch und wie schön es manchmal war, sein leben in diesem Negativitätstaumel zu verbringen und sich über all die Unzulänglichkeiten zu mokieren, die eigenen, die der anderen und die des Lebens überhaupt, als hätten wir etwas viel besseres verdient, als wäre es unser gutes Recht, uns mit dem, was wir hatten, nicht zufriedenzugeben und unsere Zeit mit Unglücklichsein zu vertun, als stünde uns unbegrenzt Zeit zur Verfügung.“

Diese Versuche der Betrachtung aus Distanz, die hier die Ich-Erzählerin anstellt, führen leider nicht dazu, all diesen Negativitätstaumel besser zu ertragen. Es bleiben leider alle Figuren sehr fern. Diese allgegenwärtige Unzufriedenheit, obwohl es an objektiven Gründen dafür zu fehlen scheint, lässt sich für mich nicht ergründen und bleibt nur auszuhalten.

Da das Buch grundsätzlich recht solide geschrieben ist, bekommt es von mir 2 Sterne. Erreichen konnte es mich kein bisschen. Ich würde es nicht einmal als unterhaltsam bezeichnen, da es mich kaum unterhalten konnte sondern größtenteils nur genervt hat. Sehr schade, war doch der Klappentext und die Leseprobe recht vielversprechend.

2/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.08.2024

Interessante Prämisse, die mir aber zu oberflächlich umgesetzt bleibt

Wir Gespenster
0

In seinem aktuellen Roman setzt Michael Kumpfmüller die Idee um, dass Verstorbene nach ihrem Tod noch weiterhin die Erde mit den Lebenden teilen. Sie existieren neben den Lebenden her und nach einer gewissen ...

In seinem aktuellen Roman setzt Michael Kumpfmüller die Idee um, dass Verstorbene nach ihrem Tod noch weiterhin die Erde mit den Lebenden teilen. Sie existieren neben den Lebenden her und nach einer gewissen Zeit verschwinden sie dann doch von der Erde. In „Wir Gespenster“ trifft Lilli auf Andrä. Sie, frisch verstorben, betrachtet noch ihren toten Körper, der scheinbar gewaltsam umgekommen ist, und er, schon ein alter Hase und seit etwa zehn Jahren tot, hilft als ehemaliger Kommissar der Mordkommission den Verstorbenen dabei, sich selbst und die Umstände des Todes aufzuklären. Denn wenn man als Gespenst wiederkommt, fehlt die Erinnerung an das Leben „davor“, selbst der Name fällt einem nicht mehr ein. So nähern sich Lilli und Andrä auf der Jagd nach ihren Mörder immer weiter an und beweisen, dass auch Gespenster Gefühle entwickeln können.

Mit recht simpler Sprache nähert sich Kumpfmüller geduldig dem Thema des Lebens nach dem Tod und neben den Lebenden an. Dabei werden Themen gestreift, die durchaus sehr interessant sind. Zum Beispiel wie so ein totes Leben neben den tatsächlich Lebenden aussehen kann, wo ruhen Tote, wenn die Welt doch von Lebenden besetzt ist. Das sind die rein praktischen Fragen. Aber auch psychologisch geht es beispielsweise darum, wie relevant es überhaupt ist, dass man herausfindet, wer einem in einem nun vergangenen Leben etwas angetan hat. Ist dies notwendig zu wissen, um im Tod weiterleben zu können? Auch streift er das Themengebiet des Suizids und wie die Verstorbenen nach ihrer Tat über die Entscheidung denken. Das sind alles interessante Gedankengänge, die durch den Roman angeregt werden, darin allerdings recht oberflächlich umgesetzt scheinen. Hier hätte ich mir mehr Tiefe erhofft.

Letztlich wirkte für mich der Roman nach dem Schließen der Buchdeckel als ob er sich nicht recht entscheiden kann. Will er ein literarischer Roman sein, der kriminalistische Elemente enthält und Denkanstöße gibt? Dafür ist er mir ehrlich gesagt nicht literarisch genug ausgefallen. Oder trifft es nicht besser zu, dass es sich um einen tiefgründigeren Krimi mit einem eher unkonventionellen Setting handelt? Ich hatte ersteres erhofft und zweiteres bekommen.

Die Figuren bleiben mir zu „durchscheinend“, wenn man beim Thema Gespenster bleiben möchte, zu flach und damit auch wenig damit identifizierbar. Das kann auch genau so von Kumpfmüller gewollt sein, keine Frage, mich konnte es allerdings nicht mitreißen durch diesen Schreibstil.

So könnte ich mir gut vorstellen, das Krimileser:innen, die mal einen ganz anderen Ansatz für eine Kriminalgeschichte suchen, hier voll und ganz auf ihre Kosten kommen. Mich hat der Roman allerdings nur in einzelnen Facetten ansprechen können, die ich gern noch besser ausgeleuchtet gesehen hätte. Letztlich konnte mich die Sprache von Kumpfmüller nicht überzeugen, wobei ich nicht sagen kann, ob dies seinem Stil im Allgemeinen entspricht, da dies die erste Lektüre eines seiner Werke für mich ist.

Insgesamt handelt es sich meines Erachtens also um ein gutes, solides Buch, welches einer interessanten Prämisse folgt, aber leider in seiner Gesamtheit nicht meinen Geschmack treffen konnte.

Abschließend möchte ich allerdings noch anmerken, dass ich die Covergestaltung bezogen auf den Inhalt des Buches wirklich sehr gelungen finde!

3/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.08.2024

Ein fast dokumentarischer Roman über die Ausrottung (eines) Lebewesens

Das Wesen des Lebens
0

Die Finnin Iida Turpeinen dokumentiert in ihrem Debütroman, der von Maximilian Murmann ins Deutsche übertragen wurde, das Aussterben der Stellerschen Seekuh, ein wunderbares, riesiges Meeressäugetier, ...

Die Finnin Iida Turpeinen dokumentiert in ihrem Debütroman, der von Maximilian Murmann ins Deutsche übertragen wurde, das Aussterben der Stellerschen Seekuh, ein wunderbares, riesiges Meeressäugetier, welches von Menschenhand ausgerottet wurde. Dabei folgen wir in fünf Buchabschnitten Menschen, die auf die ein oder andere Weise mit der Seekuh oder deren Skelett in Kontakt gekommen sind. Der Roman erstreckt sich bei einer Anzahl von nur 315 Seiten über einen Zeitraum von 1741 bis ins Jahre 2023. Chronologisch sortiert erfahren wir dabei, wie Georg Wilhelm Steller zusammen mit dem Kapitän Vitus Bering und der Besatzung der Swjatoi Pjotr von Kamtschatka nach Alaska segelt, um für die russische Kaiserin dieses Gebiet zu kartieren. Dabei „entdeckt“ der Naturforscher Steller die sagenumwobene Seekuh und hinterlässt erste naturwissenschaftliche Aufzeichnungen zu dieser. Mit jedem der fünf Buchteile lernen wir ein neues Szenario bzw. ein neues Personal kennen. Darunter immer wieder naturwissenschaftlich Interessierte, die jedoch durch ihren Wissens- und Sammeldrang diese von ihnen so geliebte Natur eher zerstören als bewahren.

Ein klarer Pluspunkt dieses Romans ist die Fülle an Informationen, die man hier erhält. Fast dokumentarisch nähert sich die Autorin dem Thema des menschengemachten Artensterbens am Beispiel der Stellerschen Seekuh. Das hat mir sehr gut gefallen, da ich mir immer gern durch eine Lektüre Wissen aneigne. Als Nachteil empfand ich ganz klar den Aufbau bezüglich der Figuren im Roman. Dadurch, dass das Personal ständig komplett gewechselt wird und der Schreibstil sehr berichthaft anmutet, konnte ich mich kaum bis gar nicht den Figuren auf menschlicher Ebene annähern. Mit zunehmenden Verlauf fiel mir dies immer schwerer. Konnte ich noch ein bisschen mit Steller mitfiebern, verlor sich dies zum Ende hin komplett und mit der letzten, ausführlicher beschriebenen Figur, dem Eier-Präparator John Grönvall in den 1950er Jahren, konnte ich mich dann gar nicht mehr verbinden, obwohl dieser gerade erstmals moderne moralische Standards erkennt und ihm aufgeht, dass wir Menschen eine Naturkatastrophe an sich sind, wenn wir ganze Arten vernichten und Millionen an Tieren umbringen – und sei es „für die Wissenschaft“. Ich hatte dann einfach nicht mehr die Kapazität übrig, mich auch noch in ihn hineinzuversetzen.

Das Dankeswort der Autorin hat mich dann wieder zurückgeholt zur Grunderkenntnis des Buches, denn die Autorin nennt nicht nur namentlich rund 20 Arten, die während des Verfassens des Buches ausgestorben sind, sondern erwähnt außerdem, dass ganze 374 weitere Arten in dem selben Zeitraum ausgestorben sind. Überhaupt verdeutlicht die Autorin häufig auch im Romantext durch knallharte Zahlen, wie zerstörerisch der Mensch auf dem Erdball handelt. Diese Angaben sind es, die mir während des Lesens einen kalten Schauer beschert haben. Es verdeutlicht auch, wie viel der Autorin an der Bewusstmachung dieser Vorgänge liegt. Und genau das schafft auch der Roman.

Somit liefert die Autorin einen auf inhaltlicher Ebene äußerst lesenswerten Roman ab, der mit auf literarischer Ebene allerdings dem inhaltlichen Appell hinterherhinkt. Ich musste während des Lesens häufiger an Maja Lunde und ihre Romane denken, die einfach noch einmal eine ganz andere Zugkraft auf der Plotebene haben.

Der vorliegende Roman sei allen Menschen zur Lektüre empfohlen, die von ihrem hohen Ross des „Wir-Menschen-stehen-über-allen-anderen-Lebenwesen“ runterkommen wollen und sich den Konsequenzen auch wissenschaftlichem Handelns stellen wollen. Ich wünsche dem Roman jedenfalls viele Leser:innen.

So ende ich mit einem Zitat aus dem Roman, das treffender nicht sein könnte:

„Für Furuhjelm waren die Knochen der Seekuh ein störendes Rätsel, ihr Verschwinden ein seltsames, Unheil verkündendes Ereignis, doch für Grönvall ist die Seekuh die Verwirklichung von Verlust, und der Gedanke, dass seine eigene Art eine andere auslöschen kann, hat sich von einer Ahnung in eine Prophezeiung verwandelt, die sich ein ums andere Mal verwirklicht.“

3,5/5

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere