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Veröffentlicht am 29.01.2024

The Geschichtenerzähler

Der Storyteller
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Wer Dave Grohl aus Interviews, Dokumentation und bestenfalls von Liveauftritten kennt, kann sich vorstellen, dass diese biografische Geschichtensammlung des Foo Fighters Frontmanns schon einmal nur grundsympathisch ...

Wer Dave Grohl aus Interviews, Dokumentation und bestenfalls von Liveauftritten kennt, kann sich vorstellen, dass diese biografische Geschichtensammlung des Foo Fighters Frontmanns schon einmal nur grundsympathisch ausfallen kann. Auf beachtlichen 460 Seiten trägt Grohl Begebenheiten aus seinem Leben zusammen, die keinesfalls eine lückenlose Biografie ergeben – und auch nicht so gedacht sind – sondern vielmehr zeigen, wie stark sein Leben von Musik beeinflusst wurde und anders herum seine Musik vom Leben.

Der Schreibstil ist dabei ebenso überraschend literarisch verdichtend, wie anspruchsvoll und an anderen Stellen wieder locker leicht dahingetippt. Eine jede der (relativ) chronologisch sortierten 24 Geschichten beginnt mit einer einleitenden Anekdote aus dem späteren Leben des Autors und findet dann gekonnt einen Blick zurück in die Vergangenheit, um zum Schluss den Bogen zurück zur Ausgangsanekdote zu finden. Wenn er zum Beispiel von seiner mittleren Tochter gefragt wird, ob er ihr das Schlagzeugspiel beibringen könne, denn er ist ja von Haus aus Schlagzeuger, nutzt er diese Vorlage, um seinen eigenen Weg zum Schlagzeugspiel und in die Welt der Musik als Kind und Jugendlicher zu erzählen, nur um den Weg zurück zu seiner Tochter zu finden und der Erkenntnis, dass er eigentlich so richtigen Schlagzeugunterricht nicht geben könne, da er ja nie selbst welchen kennengelernt habe, und nun mittlerweile immer mal einen Titel mit seiner ältesten und mittleren Tochter zusammen spiele. Dieses Prinzip wendet Grohl durchgängig an. Und wie bei einem gut geölten Foo Fighters Song funktioniert dieser „Songaufbau“ auch im geschriebenen Buch immer wieder hervorragend.

Inhaltlich bewegt sich Grohl gezielt eher um das große Thema seines Lebens, die wenigen Jahre mit Nirvana und den Selbstmord Kurt Cobains herum. Das finde ich persönlich großartig, denn so erfahren wir Leser:innen mehr vom Menschen und Musiker Grohl als „nur“ die oberflächlichen Schlagzeilen-Infos, die Musikinteressierte sowieso schon damals selbst miterlebt haben oder bei späteren MTV-Dokus noch und nöcher präsentiert bekommen haben. Untermalt werden die Geschichten übrigens von sehenswerten Fotos oder – auch ganz witzig – abgedruckten Postkarten, die der junge David von den frühen Touren an seine Mutter und Schwester geschrieben hat.

Jedoch gibt es auch zwei Kritikpunkte meinerseits am Buch. Der erste wiegt meines Erachtens weniger stark, sollte jedoch benannt werden. Manche Textpassagen, einzelne scheinbar dem Autor (oder Lektorat) wichtige Sätze werden mithilfe einer Schriftart hervorgehoben, welche sich durch durchgängig genutzte, Schreibschrift artige Großbuchstaben auszeichnet. Das ist bei US-Amerikanern - und so auch auf den Postkarten Grohls ersichtlich – weit verbreitet und liest sich für diese sicherlich auch angenehm. Mich haben sie komplett aus dem Lesefluss geworfen und eher geärgert, sodass mir die Wichtigkeit der Aussage eher verloren ging. Bei manchen Passagen fragte ich mich auch, worin eigentlich deren besonders hervorhebenswerter Wert liegt.

Der zweite Kritikpunkt zielt auf die Übersetzung von Dieter Fuchs. Über weite Strecken funktioniert diese ganz gut, aber es gibt einzelne Wörter und Redewendungen, die meines Erachtens zweifelhaft und zwanghaft ins Deutsche übersetzt wurden und dann wieder andere, die im Englischen belassen wurden, obwohl meines Wissens noch nicht im deutschen Sprachgebrauch üblich. So fällt sofort der deutsche Titel des Buches „DER Storyteller“ in den Blick. Die Vermischung des deutschen Artikels mit dem englischen Begriff Storyteller finde ich vollkommen daneben. Entweder „The Storyteller“ wie im Original oder (schlechter) „Der Geschichtenerzähler“. So setzt Grohl in einer Geschichte auch sein „Pokergesicht“ auf; isst eine „Pepperoni-Pizza“ (in den USA ist dies aber eine Salami-Pizza und nicht einfach das Äquivalent zum deutschen Wort Pepperoni); stehen „Performer“ neben einer Bühne, die wie Fallschirmspringer darauf warten, aus einem Flugzeug zu „jumpen“; und seine Frau Jordyn ist „das Gewicht meiner Waagschale, das den Zeiger am Tillen hindert“. Und eine Kuriosität gibt es noch, die aber eigentlich gar kein Übersetzungsfehler sein kann, im Buch aber an zwei Stellen auftaucht und mich an Dave Grohl Musikwissen zweifeln lassen. So wird Death Metal glatt mit Black Metal verwechselt: „das satanische Death-Metal-Zeug“ und „hätte mein Leben allein aus Death Metal und Corpsepaint bestanden“. Kenner werden die unübersehbaren Fehler erkennen! Sehr merkwürdig…

Aber gut. Insgesamt hat mir die Lektüre von Dave Grohls autobiografischen Geschichten sehr gut gefallen, eben weil sie literarisch sehr ansprechend gestaltet und inhaltlich stets interessant sowie aussagekräftig sind. Eine – nicht nur für Musikfans – empfehlenswerte Lektüre.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

"Leben ist Katastrophe", dieses Buch allerdings nicht!

Der Distelfink
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„Leben ist Katastrophe“ zu diesem Schluss kommt Theo Decker am Ende dieses Romans und zu Beginn: „Alles hätte sich zum Besseren gewendet, wenn sie [Theos Mutter] am Leben geblieben wäre.“ Keine Angst, ...

„Leben ist Katastrophe“ zu diesem Schluss kommt Theo Decker am Ende dieses Romans und zu Beginn: „Alles hätte sich zum Besseren gewendet, wenn sie [Theos Mutter] am Leben geblieben wäre.“ Keine Angst, das sind keine Spoiler, denn gleich im ersten Kapitel erfahren wir, dass der erwachsene Theo durchaus in der Klemme steckt, um es nett auszudrücken aber nicht mehr zu verraten.

Dieser Roman entwickelt sich in Richtungen, die man zu Beginn der Geschichte nie geahnt hätte, durch Überschreiben mit mannigfaltigen, neuen Informationen nach dem ersten Kapitel auch gar nicht mehr im Blick hatte, und schafft es doch (fast) immer die Leserin mitzuziehen in diese Richtungen der wilden Wendungen und Kapriolen. So verliert Theo, in seinem Beisein, die eigene, alleinerziehende Mutter bei einem Bombenanschlag auf ein großes New Yorker Kunstmuseum, ur nachdem sie ihm ihr Lieblingsbild aus Kindheitstagen gezeigt hat. Aus Schutt und Asche nimmt er in innerer wie äußerer Verwirrung das Bild „Der Distelfink“ von Carel Fabritius in 1654, dem Jahr seines Todes gemalt, mit nachhause und scheint seit diesem schicksalhaften Tag mit ihm verbunden, versucht es loszuwerden und kann es doch nicht hinter sich lassen, da es so stark mit der Mutter verbunden scheint.

Über die ersten 560 Seiten hinweg begleiten wir den 13jährigen Halbwaisen Theo nun zwei Jahre lang auf seinem Weg von der Upperclass-Pflegefamilie, über den Las Vegas-Spieler-Alptraum, fast White Trash, und durch verschiedenste Drogenräusche, aber auch Freundschaften und Ankommen im scheinbar sicheren Nest. Diese ersten 560 Seiten zeigen die Entwicklung Theos meisterhaft zu einem geschundenen 15-Jährigen auf. Traumatisierungen werden subtil und gleichzeitig unglaublich detailliert gezeigt. Aber die Odyssee Theos endet nicht an dieser Stelle. Das Buch macht einen Sprung von acht Jahren und zeigt die Welt von Kunst, Betrug und moralischem Verfall im nun jungen Erwachsenen Theo. Ab hier hat mich der ausschweifende Plot ein wenig zu stark strapaziert. Der Kapriolen und Wendungen des Schicksals war es mir dann doch ein Tüpfelchen zu viel. Die überbordende Sprache der Autorin wird manchmal ein kleines bisschen zu klischiert. Aber weiterhin schafft sie es, wie auch im ersten Teil des Buches die vorgestellten Milieus meisterhaft zu erfassen und darzustellen. Meines Erachtens, neben der grandiosen Charakterentwicklung Theos und der dreidimensionalen Ausleuchtung der Nebenfiguren, die größte Stärke dieses Romans. Das Ende wirkte mir dann - nach dem bis dahin gelesenen Epos - fast ein wenig zu fad und gefühlt plätschert der Roman zum Ende hin ein wenig in philosophisch-moralische Betrachtungen aus.

Durchhaltevermögen ist bei diesem knapp über 1000 Seiten dicken Roman wirklich vonnöten. Für mich war er insgesamt einen Ticken zu lang und gleichzeitig aber auch nie wirklich langweilig. Die Autorin hätte einfach aus meiner Sicht etwas mehr Erzählökonomie walten lassen und die ein oder andere schicksalhafte, fast thrillerartige Wendung im zweiten Teil weglassen können. Das ist aber alles Meckern auf hohem Niveau, da der Roman im Gesamten definitiv überzeugen kann.

Die Lesung von Matthias Koeberlin ist wirklich sehr angenehm, auch wenn er es nicht besonders gut schafft, weiblichen Charakteren gewisse Eigenarten mitzugeben. So wird z.B. im Text explizit die rauchige Stimme einer Protagonistin beschrieben und dann klingt sie doch wie jede andere weibliche Figur in diesem Hörbuch auch. Gerade die männlichen Figuren gelingen Koeberlin hingegen sehr gut, sodass ich doch seine Arbeit insgesamt als gelungen bezeichnen würde. [Einschränkende Anmerkung: Dies ist mein allererstes Hörbuch, sodass ich keine Vergleichsmöglichkeiten habe.]


Für das Hörbuch: 3,5/5 Sterne = „überdurchschnittlich gut“, aufgerundet auf 4 Sterne „sehr gut“ bei sehr guter Buchvorlage.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Handwerklich leider kein gut gemachtes Buch zu einem eigentlich interessanten Thema

Schwerkraft der Tränen
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Die Autorin Yara Nakahanda Monteiro behandelt im vorliegenden Roman ein Thema, welches vermutlich mit ihrer eigenen Geschichte eng verbunden ist. Sie selbst ist, wie die Protagonistin Vitória, 1979 in ...

Die Autorin Yara Nakahanda Monteiro behandelt im vorliegenden Roman ein Thema, welches vermutlich mit ihrer eigenen Geschichte eng verbunden ist. Sie selbst ist, wie die Protagonistin Vitória, 1979 in der Region Huambo in Angola geboren und als kleines Kind nach Portugal, welches noch bis kurz davor Kolonialherrschaft über Angola besaß, ausgewandert. Im Roman flüchten die Großeltern mit Vitória vor dem Unabhängigkeitskrieg, welcher zu dieser Zeit schon in einen Bürgerkrieg übergegangen ist, nach Portugal, ins „Mutterland“. Eine ihrer drei Töchter, Rosa, die Mutter Vitórias, bleibt zurück, da sie als Soldatin kämpfen will. In 2003 kehrt nun Vitória zurück nach zunächst Luanda (Hauptstadt von Angola) und reist später weiter nach Huambo, um ihre Mutter zu finden. Wie viel davon einen biografischen Hintergrund hat, ist mir nicht bekannt, aber wie gesagt, ist der Autorin sicherlich viel am Thema gelegen.

So gern ich dieses Buch aufgrund der Grundthematik und meinem Interesse dafür gemocht hätte, hat es mich leider mit fortschreitender Lektüre mehr und mehr enttäuscht.

Gleich zu Beginn (und durchgängig bis zum Ende) ärgerte ich mich über den Schreibstil der Autorin. Dieser besteht von Anfang bis Ende aus den banalsten Satzaufbauten (Subjekt, Prädikat, Objekt) ohne gleichzeitig eine gewollte Einfachheit oder Redundanz als Stilmittel an den Tag zu legen. Das Buch klingt von vorn bis hinten wie der Aufsatz einer Schülerin des Abiturjahrgangs (bestenfalls). Als Beispiel diese Passage, obwohl man jede Seite des Buches aufschlagen könnte und eine ähnliche finden würde. Diese habe ich gezielt mit allen Zeilenumbrüchen übernommen:

„Nádia und Katila fragen, ob sie aufstehen dürfen. Sie wollen sich umziehen gehen.

Katila fragt, ob ich mitkommen will, etwas trinken und tanzen.

'Es wird bestimmt lustig', ermuntert mich Romena. 'Es sind schon viele zurück vom Studieren in Lissabon, London, Houston.'

Ich entschließe mich mitzukommen.

Ich will helfen, den Esstisch abzuräumen. Romena sagt, ich solle bloß nichts tun:

'Du bist zu Besuch.'

Cousine Salala darf weiter abräumen helfen. [usw. usf.]“

Neben dem zu simplen Satzaufbau und der geringen Aussagekraft der mitunter banalen, vermittelten Inhalte, fällt der nicht nachvollziehbare Wechsel der Erzählperspektive negativ auf. So beginnt der Text aus der Perspektive von Vitória in der Ich-Form erzählt, wechselt nach 50 Seiten kurz in einen personalen Erzählstil, wobei hier von Person zu Person innerhalb der Kapitel wild hin und her gewechselt wird. Diese Personen, in die wir hineinhören, sind aber keine für den Plot wichtigen Figuren. Vielleicht handelt es sich auch um einen allwissenden Blick, das ist tatsächlich schwer zu eruieren. Dann erfahren wir ganze gedankliche Monologe von einer bisher unbekannten und später auch nicht mehr wichtigen Figur in Kursivschrift, ein Stilmittel, was viel später im Roman noch einmal für Vitória angewandt wird. Die Perspektive wechselt zurück zur Ich-Erzählerin Vitória, nur um irgendwann wieder innerhalb eines Kapitels von einem Satz zum nächsten personal/allwissend zu werden. Dahinter scheint aber kein Muster durch, welches stilistisch oder inhaltlich diese Wechsel begründet würde. So scheint es eher, als ob die Autorin ihre eigene Erzählstimme noch finden müsse und sich hier und dort mal ausprobiert. Es wirkt tatsächlich weniger geplant als vielmehr aus Versehen so passiert.

Wenn schon der Schreibstil nicht sonderlich originell erscheint, so möchte man meinen, dass es dies dann der Inhalt hergeben sollte. Eigentlich ist das auch der Fall, da dieser Blick auf sowohl das heutige Angola als auch dessen nähere Vergangenheit im Sinne des Unabhängigkeits-/Bürger-/Stellvertreterkriegs es nicht oft oder gar nicht nach Deutschland zwischen zwei Buchdeckel schafft. Nur leider wird hier die Autorin überhaupt nicht speziell im Geschilderten. Die Handlung könnte, um es hart auszudrücken, in jedem anderen afrikanischen Land spielen. Das an sich könnte auch schon eine Aussage sein, keine Frage. Aber doch wird zu stark, auch vom Verlag, genau dieses angolanische Thema propagiert, um es dann nicht auszureizen. Leider wird wenig bis gar nichts zum Geschehen, in welches die Mutter der Protagonistin im Krieg verwickelt war, ausgeleuchtet. Gerade diese Stellung zwischen Ostblock und dem Westen, welche Angola zu einem Paradebeispiel für Stellvertreterkriege machen würde, erfährt keine Zuwendung der Autorin. Es gibt derzeit aktuelle Bücher von Autor:innen verschiedenster afrikanischer Länder auf dem Buchmarkt, die diese Zerrissenheit ihrer heutigen Protagonisten mit der Historie ihres Heimatlandes oder des Heimatlandes ihrer Vorfahren viel besser zeichnen, als es Monteiro schafft. Wenn dann noch eine Konversation über den Krieg in einer Schlüsselszene folgendermaßen abläuft:

„ ‚Jeder Krieg ist Verbrechen.‘

‚Verbrechen und seelisches Elend.‘

‚Ein Verbrechen, das ungesühnt bleibt.‘ “

hat Monteiro zwar nichts falsches geschrieben, bleibt aber auch weit unter meinen Erwartungen an einen anspruchsvollen Roman zurück. Eine Reflexion über den Krieg oder eine tiefgründige Beschäftigung der Protagonisten damit sucht man hier leider vergebens.

Selbst wenn mein eigener Anspruch an ein Buch, etwas mehr über die Lebens- oder geschichtlichen Umstände der Protagonisten zu lernen, nicht der der Autorin dieses Buches ist, so sollte es zumindest der sein, ihren Protagonist:innen näher zu kommen und etwas Tiefgründiges über diese zu erfahren. Leider gelingt auch dies der Autorin nur schwerlich. Die Charaktere bleiben meines Erachtens eher flach, ihre Beweggründe und Motive erscheinen nur teilweise nachvollziehbar und eine Charakterentwicklung wird nur behauptet und wenig erfahrbar gemacht. Nie habe ich deshalb so richtig mit Vitória mitfiebern können. Leider.

Die Handlung des Romans bekommt im späteren Verlauf plötzlich neue Stränge, unabhängig von den nicht nachvollziehbaren Perspektivwechseln, die ebenso wenig nachvollziehbar bleiben und nicht zielführend für die Gesamtaussage des Romans scheinen. Letztendlich wirkt es fast unerheblich, dass die Mutter Soldatin war. Der Plot um die Tochter Vitória und ihre Selbstfindung in Angola hätte auch ohne dieses Detail erzählt werden können. So verpufft der Roman zum Schluss, obwohl ab und an gute Ansätze durchscheinen konnten, ohne irgendeinen Nachhall bei mir hinterlassen zu haben.

Somit komme ich auf eine Gesamtbewertung von 2,5 Sternen = „unterdurchschnittlich“ bis “okay“. Ich habe mich für ein Abrunden auf 2 Sterne entschieden, da ich diesen Roman einfach nicht weiterempfehlen würde und mir aus dem Stegreif mindestens vier andere Romane mit ähnlichem Inhalt einfallen, die meiner Meinung nach handwerklich viel besser gemacht sind. Schade, da mich auf den ersten Blick der Klappentext in Kombination mit dem Titel und der Covergestaltung direkt ansprechen konnte.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Hier ist aufmerksames Lesen notwendig

Meinetwegen
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Dagmar Schifferli vollführt mit ihrem Roman „Meinetwegen“ ein kleines psychologisches Kunststück. Die auf den ersten Blick wie die reumütigen Therapiesitzungen einer jungen Straftäterin, die Opfer ihrer ...

Dagmar Schifferli vollführt mit ihrem Roman „Meinetwegen“ ein kleines psychologisches Kunststück. Die auf den ersten Blick wie die reumütigen Therapiesitzungen einer jungen Straftäterin, die Opfer ihrer eigenen harten Kindheit wurde und somit zur Täterin, aufgebaute Geschichte bietet mehr als erwartet.

Die 17jährige Katharina erscheint zur ersten Therapiesitzung mit ihrem Psychiater in einer geschlossenen Einrichtung für auffällige Jugendliche. Ganz unerwartet gibt sie vom ersten Satz an den Ton an und legt fest, dass ihr Therapeut schweigen müsse und nur sie reden dürfe. Nicht einmal räuspern dürfe sich der Mann. In der ersten Hälfte des Buches lesen wir einen Monolog von Katharina über ihre schlimme Kindheit. Immer wieder bekommen wir – mal mehr mal weniger – subtile Hinweise darauf, dass sich das Gespräch in 1970 abspielt. Im zweiten Teil dann lässt Katharina den Therapeuten Kärtchen mit kurzen Wörtern wie „Ja“, „Nein“, „Warum?“ hochhalten und kommt somit in eine Art Dialog mit ihm. Ganze 17 Therapiesitzungen bekommen wir auf diesem Wege vermittelt und bekommen sogar noch einen kleinen Ausblick, wie es zukünftig mit Katharina darüber hinaus weitergehen könnte.

Mich hat zunächst die – für mich – innovative Form der einseitigen Darstellung einer Kommunikation und im Speziellen eines Therapiesettings überrascht sowie positiv eingenommen. Etwas derartiges habe ich bis dato noch nicht gelesen. Enttäuschend schlug sich für mich dann die Entwicklung nieder, dass doch plötzlich Kärtchen zur dyadischen Kommunikation genutzt werden und somit die Stringenz der Erzählung unterbrochen wird. Auch empfand ich das Einweben von Hinweisen zum zeitlichen Setting in 1970 erst sehr gekonnt und später dann leider doch zu penetrant. Nach zwei drei Andeutungen Katharinas sollte eigentlich jedem:r Leser:in klar geworden sein, in welchem Handlungsjahr wir uns befinden. Störend empfand ich ebenso die vermehrt auftretenden Hinweise von Katharina auf Gegenstände, die im Therapieraum eigentlich für beide Gesprächspartner sichtbar sind, und scheinbar nur angesprochen werden, dass die Lesenden erfahrend, was Katharina gerade nonverbal tut, z.B. etwas Wasser trinken, husten, die Uhrzeit ablesen.

Aber all diese Punkte, die mich im Gesamten das Werk von Schifferli zunächst kritisch haben sehen lassen verblassen gegen den versteckten Anteil Katharinas Ausführungen. Bei aufmerksamen Lesen werden immer mehr Indizien ersichtlich, die Katharina als waschechte Psychopathin ausweisen und sie von einem bemitleidenswerten Opfer ihrer Lebensumstände zu einer berechnenden Täterin im Opfer-Schafspelz machen. So bekommt der Roman zwei Deutungsebenen, die eine Zweitlektüre lohnenswert werden lassen. Geschickt wickelt die Autorin ihre Leser:innen zunächst um den Finger. Man sollte jedoch während der gesamten Lektüre nicht vergessen, dass Katharina selbst sich schon auf der ersten Seite als eine unzuverlässige Erzählerin beschreibt. Dass diese Unzuverlässigkeit nicht mit Erinnerungslücken sondern mit dem Willen zur Manipulation zusammenhängt wird im Verlauf immer deutlicher. Eine kreative Charakterdarstellung von Katharina, die psychologisch durchaus schlüssig gelungen ist.

Insgesamt handelt es sich meines Erachtens hierbei um einen sehr klug konstruierten Roman über eine äußerst hinterlistige Wölfin im Schafspelz. Ich habe das Buch trotz seiner kleinen Schwächen sehr gern gelesen und mich diebisch an den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten erfreut. Es handelt sich bei diesem 112 Seiten dünnen Büchlein um eine definitiv lohnens- und empfehlenswerten Lektüre.

Somit komme ich auf glatte 4 Sterne und damit die Bewertung „sehr gut“.

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Einblicke in einen segregierten Alltag

Nachbarn
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Die Wiederentdeckung der Kurzgeschichten der Schwarzen Autorin Diane Oliver ist ein Glücksfall für die heutige Zeit. Wäre die 1943 geborene Autorin nicht mit nur 22 Jahren tragisch bei einem Motorradunfall ...

Die Wiederentdeckung der Kurzgeschichten der Schwarzen Autorin Diane Oliver ist ein Glücksfall für die heutige Zeit. Wäre die 1943 geborene Autorin nicht mit nur 22 Jahren tragisch bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen, sie hätte eine Wegbegleiterin der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison werden können.

In diesem nun erstmals im Deutschen veröffentlichten Erzählungsband greift die Autorin immer wieder alltägliche Situationen aus dem Leben in den Südstaaten der USA zur Zeit der Rassentrennung auf. Damals galt zwar schon, die Bürger der USA seien „gleich“ aber man hielt sie weiterhin voneinander getrennt. Getrennt in den Bussen, getrennt in der Schule, getrennt in Restaurants oder auf Toiletten. Genau während der Hochphase der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zwischen den späten 1950er und späten 1960er Jahren spielen die Geschichten von Diane Oliver. Hier geht es um Alltagsheldinnen, deren Ängste, Wünsche und Freuden nie den Weg in die allgemeine Geschichtsschreibung gefunden haben.

So dreht sich die titelgebende und auch erste Geschichte des Bandes „Nachbarn“ um eine Familie, die am Tag vor der Schuleinführung des Sohnes mit sich aufgrund der Anfeindungen, die bereits eingegangen sind und noch bevorstehen werden, hadert, ob sie ihn tatsächlich als erstes und einziges Schwarzes Kind auf eine rein weiße Schule schicken sollen. Es wäre nun ihr Recht, aber was steht dabei auf dem Spiel? In einer anderen Geschichte begleiten wir eine junge Frau, die ihren gesamten Schulweg immer „die erste Schwarze“ unter Weißen gewesen ist und nun auf dem College an dieser Bürde psychisch zerbricht. Aber Diane Oliver bewegt sich mit ihren Geschichten keinesfalls nur in der Gruppe der intellektuellen und tatkräftigen Vorkämpfer:innen der damaligen Bewegung, auch auf die Menschen, die weit davon entfernt sind, überhaupt die Kraft erübrigen zu können, für ihre Rechte zu kämpfen, wirft sie ein Schlaglicht. Auf die Schwarzen Frauen, die sich alltäglich unter Weißen abrackern und doch ihre Familie kaum über Wasser halten können. Die in einem diskriminierenden Gesundheitssystem unvorstellbare Hürden auf sich nehmen, um eine Grundversorgung zu erhalten. Die ihre Kinder vor dem Hungertod retten müssen, während sich ihre Männer aus dem Staub machen. Es werden aber nicht nur ausschließlich Schwarze Protagonistinnen in den Geschichten vorgestellt, auch gibt es weiße Personen, die langsam ihre traditionell konservativen, rassistischen Südstaatler-Ansichten hinterfragen und versuchen neue Wege zu gehen.

Diese Kurzgeschichtensammlung besticht durch ihre Intersektionalität von Race, Gender und Class und wirkt trotz der historischen Gegebenheiten nie veraltet, sondern im Gegenteil brandaktuell, sind doch dunkelhäutige Frauen aus einer niedrigen sozioökonomischen Schicht immer noch weitverbreitet die am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe. Die Gruppe, die am meisten für ihre Rechte kämpfen muss. Diesen Kampf zeigt Oliver mithilfe der antirassistischen sozialen Bürgerrechtsbewegung Mitte des vergangenen Jahrhunderts in den USA auf. Dieses Buch wird auch heutzutage noch zu Diskussionen anregen und ist durch die mitunter überraschenden Wendungen in den einzelnen Geschichten und Durchmischung der Themen durchgängig interessant. Sprachlich bewies die Autorin schon in jungen Jahren ein Talent für das pointierte Geschichten erzählen, schade dass wir sie nie als sich noch weiter entwickelnde Autorin kennenlernen können. Wie es bei solcherart Zusammenstellungen immer ist, stellt nicht jede Erzählung ein Highlight dar, das liegt in der Natur der Sache, trotzdem erkennt man eindeutig das Talent der Autorin sowie die Dringlichkeit ihrer Anliegen und liest (fast) jede Geschichte atemlos und begeistert. Eine wirklich wichtige Wiederentdeckung!

4,5/5 Sterne

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