Profilbild von GAIA_SE

GAIA_SE

Lesejury Star
offline

GAIA_SE ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit GAIA_SE über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 29.01.2024

Handwerklich leider kein gut gemachtes Buch zu einem eigentlich interessanten Thema

Schwerkraft der Tränen
0

Die Autorin Yara Nakahanda Monteiro behandelt im vorliegenden Roman ein Thema, welches vermutlich mit ihrer eigenen Geschichte eng verbunden ist. Sie selbst ist, wie die Protagonistin Vitória, 1979 in ...

Die Autorin Yara Nakahanda Monteiro behandelt im vorliegenden Roman ein Thema, welches vermutlich mit ihrer eigenen Geschichte eng verbunden ist. Sie selbst ist, wie die Protagonistin Vitória, 1979 in der Region Huambo in Angola geboren und als kleines Kind nach Portugal, welches noch bis kurz davor Kolonialherrschaft über Angola besaß, ausgewandert. Im Roman flüchten die Großeltern mit Vitória vor dem Unabhängigkeitskrieg, welcher zu dieser Zeit schon in einen Bürgerkrieg übergegangen ist, nach Portugal, ins „Mutterland“. Eine ihrer drei Töchter, Rosa, die Mutter Vitórias, bleibt zurück, da sie als Soldatin kämpfen will. In 2003 kehrt nun Vitória zurück nach zunächst Luanda (Hauptstadt von Angola) und reist später weiter nach Huambo, um ihre Mutter zu finden. Wie viel davon einen biografischen Hintergrund hat, ist mir nicht bekannt, aber wie gesagt, ist der Autorin sicherlich viel am Thema gelegen.

So gern ich dieses Buch aufgrund der Grundthematik und meinem Interesse dafür gemocht hätte, hat es mich leider mit fortschreitender Lektüre mehr und mehr enttäuscht.

Gleich zu Beginn (und durchgängig bis zum Ende) ärgerte ich mich über den Schreibstil der Autorin. Dieser besteht von Anfang bis Ende aus den banalsten Satzaufbauten (Subjekt, Prädikat, Objekt) ohne gleichzeitig eine gewollte Einfachheit oder Redundanz als Stilmittel an den Tag zu legen. Das Buch klingt von vorn bis hinten wie der Aufsatz einer Schülerin des Abiturjahrgangs (bestenfalls). Als Beispiel diese Passage, obwohl man jede Seite des Buches aufschlagen könnte und eine ähnliche finden würde. Diese habe ich gezielt mit allen Zeilenumbrüchen übernommen:

„Nádia und Katila fragen, ob sie aufstehen dürfen. Sie wollen sich umziehen gehen.

Katila fragt, ob ich mitkommen will, etwas trinken und tanzen.

'Es wird bestimmt lustig', ermuntert mich Romena. 'Es sind schon viele zurück vom Studieren in Lissabon, London, Houston.'

Ich entschließe mich mitzukommen.

Ich will helfen, den Esstisch abzuräumen. Romena sagt, ich solle bloß nichts tun:

'Du bist zu Besuch.'

Cousine Salala darf weiter abräumen helfen. [usw. usf.]“

Neben dem zu simplen Satzaufbau und der geringen Aussagekraft der mitunter banalen, vermittelten Inhalte, fällt der nicht nachvollziehbare Wechsel der Erzählperspektive negativ auf. So beginnt der Text aus der Perspektive von Vitória in der Ich-Form erzählt, wechselt nach 50 Seiten kurz in einen personalen Erzählstil, wobei hier von Person zu Person innerhalb der Kapitel wild hin und her gewechselt wird. Diese Personen, in die wir hineinhören, sind aber keine für den Plot wichtigen Figuren. Vielleicht handelt es sich auch um einen allwissenden Blick, das ist tatsächlich schwer zu eruieren. Dann erfahren wir ganze gedankliche Monologe von einer bisher unbekannten und später auch nicht mehr wichtigen Figur in Kursivschrift, ein Stilmittel, was viel später im Roman noch einmal für Vitória angewandt wird. Die Perspektive wechselt zurück zur Ich-Erzählerin Vitória, nur um irgendwann wieder innerhalb eines Kapitels von einem Satz zum nächsten personal/allwissend zu werden. Dahinter scheint aber kein Muster durch, welches stilistisch oder inhaltlich diese Wechsel begründet würde. So scheint es eher, als ob die Autorin ihre eigene Erzählstimme noch finden müsse und sich hier und dort mal ausprobiert. Es wirkt tatsächlich weniger geplant als vielmehr aus Versehen so passiert.

Wenn schon der Schreibstil nicht sonderlich originell erscheint, so möchte man meinen, dass es dies dann der Inhalt hergeben sollte. Eigentlich ist das auch der Fall, da dieser Blick auf sowohl das heutige Angola als auch dessen nähere Vergangenheit im Sinne des Unabhängigkeits-/Bürger-/Stellvertreterkriegs es nicht oft oder gar nicht nach Deutschland zwischen zwei Buchdeckel schafft. Nur leider wird hier die Autorin überhaupt nicht speziell im Geschilderten. Die Handlung könnte, um es hart auszudrücken, in jedem anderen afrikanischen Land spielen. Das an sich könnte auch schon eine Aussage sein, keine Frage. Aber doch wird zu stark, auch vom Verlag, genau dieses angolanische Thema propagiert, um es dann nicht auszureizen. Leider wird wenig bis gar nichts zum Geschehen, in welches die Mutter der Protagonistin im Krieg verwickelt war, ausgeleuchtet. Gerade diese Stellung zwischen Ostblock und dem Westen, welche Angola zu einem Paradebeispiel für Stellvertreterkriege machen würde, erfährt keine Zuwendung der Autorin. Es gibt derzeit aktuelle Bücher von Autor:innen verschiedenster afrikanischer Länder auf dem Buchmarkt, die diese Zerrissenheit ihrer heutigen Protagonisten mit der Historie ihres Heimatlandes oder des Heimatlandes ihrer Vorfahren viel besser zeichnen, als es Monteiro schafft. Wenn dann noch eine Konversation über den Krieg in einer Schlüsselszene folgendermaßen abläuft:

„ ‚Jeder Krieg ist Verbrechen.‘

‚Verbrechen und seelisches Elend.‘

‚Ein Verbrechen, das ungesühnt bleibt.‘ “

hat Monteiro zwar nichts falsches geschrieben, bleibt aber auch weit unter meinen Erwartungen an einen anspruchsvollen Roman zurück. Eine Reflexion über den Krieg oder eine tiefgründige Beschäftigung der Protagonisten damit sucht man hier leider vergebens.

Selbst wenn mein eigener Anspruch an ein Buch, etwas mehr über die Lebens- oder geschichtlichen Umstände der Protagonisten zu lernen, nicht der der Autorin dieses Buches ist, so sollte es zumindest der sein, ihren Protagonist:innen näher zu kommen und etwas Tiefgründiges über diese zu erfahren. Leider gelingt auch dies der Autorin nur schwerlich. Die Charaktere bleiben meines Erachtens eher flach, ihre Beweggründe und Motive erscheinen nur teilweise nachvollziehbar und eine Charakterentwicklung wird nur behauptet und wenig erfahrbar gemacht. Nie habe ich deshalb so richtig mit Vitória mitfiebern können. Leider.

Die Handlung des Romans bekommt im späteren Verlauf plötzlich neue Stränge, unabhängig von den nicht nachvollziehbaren Perspektivwechseln, die ebenso wenig nachvollziehbar bleiben und nicht zielführend für die Gesamtaussage des Romans scheinen. Letztendlich wirkt es fast unerheblich, dass die Mutter Soldatin war. Der Plot um die Tochter Vitória und ihre Selbstfindung in Angola hätte auch ohne dieses Detail erzählt werden können. So verpufft der Roman zum Schluss, obwohl ab und an gute Ansätze durchscheinen konnten, ohne irgendeinen Nachhall bei mir hinterlassen zu haben.

Somit komme ich auf eine Gesamtbewertung von 2,5 Sternen = „unterdurchschnittlich“ bis “okay“. Ich habe mich für ein Abrunden auf 2 Sterne entschieden, da ich diesen Roman einfach nicht weiterempfehlen würde und mir aus dem Stegreif mindestens vier andere Romane mit ähnlichem Inhalt einfallen, die meiner Meinung nach handwerklich viel besser gemacht sind. Schade, da mich auf den ersten Blick der Klappentext in Kombination mit dem Titel und der Covergestaltung direkt ansprechen konnte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.01.2024

Hier ist aufmerksames Lesen notwendig

Meinetwegen
0

Dagmar Schifferli vollführt mit ihrem Roman „Meinetwegen“ ein kleines psychologisches Kunststück. Die auf den ersten Blick wie die reumütigen Therapiesitzungen einer jungen Straftäterin, die Opfer ihrer ...

Dagmar Schifferli vollführt mit ihrem Roman „Meinetwegen“ ein kleines psychologisches Kunststück. Die auf den ersten Blick wie die reumütigen Therapiesitzungen einer jungen Straftäterin, die Opfer ihrer eigenen harten Kindheit wurde und somit zur Täterin, aufgebaute Geschichte bietet mehr als erwartet.

Die 17jährige Katharina erscheint zur ersten Therapiesitzung mit ihrem Psychiater in einer geschlossenen Einrichtung für auffällige Jugendliche. Ganz unerwartet gibt sie vom ersten Satz an den Ton an und legt fest, dass ihr Therapeut schweigen müsse und nur sie reden dürfe. Nicht einmal räuspern dürfe sich der Mann. In der ersten Hälfte des Buches lesen wir einen Monolog von Katharina über ihre schlimme Kindheit. Immer wieder bekommen wir – mal mehr mal weniger – subtile Hinweise darauf, dass sich das Gespräch in 1970 abspielt. Im zweiten Teil dann lässt Katharina den Therapeuten Kärtchen mit kurzen Wörtern wie „Ja“, „Nein“, „Warum?“ hochhalten und kommt somit in eine Art Dialog mit ihm. Ganze 17 Therapiesitzungen bekommen wir auf diesem Wege vermittelt und bekommen sogar noch einen kleinen Ausblick, wie es zukünftig mit Katharina darüber hinaus weitergehen könnte.

Mich hat zunächst die – für mich – innovative Form der einseitigen Darstellung einer Kommunikation und im Speziellen eines Therapiesettings überrascht sowie positiv eingenommen. Etwas derartiges habe ich bis dato noch nicht gelesen. Enttäuschend schlug sich für mich dann die Entwicklung nieder, dass doch plötzlich Kärtchen zur dyadischen Kommunikation genutzt werden und somit die Stringenz der Erzählung unterbrochen wird. Auch empfand ich das Einweben von Hinweisen zum zeitlichen Setting in 1970 erst sehr gekonnt und später dann leider doch zu penetrant. Nach zwei drei Andeutungen Katharinas sollte eigentlich jedem:r Leser:in klar geworden sein, in welchem Handlungsjahr wir uns befinden. Störend empfand ich ebenso die vermehrt auftretenden Hinweise von Katharina auf Gegenstände, die im Therapieraum eigentlich für beide Gesprächspartner sichtbar sind, und scheinbar nur angesprochen werden, dass die Lesenden erfahrend, was Katharina gerade nonverbal tut, z.B. etwas Wasser trinken, husten, die Uhrzeit ablesen.

Aber all diese Punkte, die mich im Gesamten das Werk von Schifferli zunächst kritisch haben sehen lassen verblassen gegen den versteckten Anteil Katharinas Ausführungen. Bei aufmerksamen Lesen werden immer mehr Indizien ersichtlich, die Katharina als waschechte Psychopathin ausweisen und sie von einem bemitleidenswerten Opfer ihrer Lebensumstände zu einer berechnenden Täterin im Opfer-Schafspelz machen. So bekommt der Roman zwei Deutungsebenen, die eine Zweitlektüre lohnenswert werden lassen. Geschickt wickelt die Autorin ihre Leser:innen zunächst um den Finger. Man sollte jedoch während der gesamten Lektüre nicht vergessen, dass Katharina selbst sich schon auf der ersten Seite als eine unzuverlässige Erzählerin beschreibt. Dass diese Unzuverlässigkeit nicht mit Erinnerungslücken sondern mit dem Willen zur Manipulation zusammenhängt wird im Verlauf immer deutlicher. Eine kreative Charakterdarstellung von Katharina, die psychologisch durchaus schlüssig gelungen ist.

Insgesamt handelt es sich meines Erachtens hierbei um einen sehr klug konstruierten Roman über eine äußerst hinterlistige Wölfin im Schafspelz. Ich habe das Buch trotz seiner kleinen Schwächen sehr gern gelesen und mich diebisch an den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten erfreut. Es handelt sich bei diesem 112 Seiten dünnen Büchlein um eine definitiv lohnens- und empfehlenswerten Lektüre.

Somit komme ich auf glatte 4 Sterne und damit die Bewertung „sehr gut“.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.01.2024

Einblicke in einen segregierten Alltag

Nachbarn
0

Die Wiederentdeckung der Kurzgeschichten der Schwarzen Autorin Diane Oliver ist ein Glücksfall für die heutige Zeit. Wäre die 1943 geborene Autorin nicht mit nur 22 Jahren tragisch bei einem Motorradunfall ...

Die Wiederentdeckung der Kurzgeschichten der Schwarzen Autorin Diane Oliver ist ein Glücksfall für die heutige Zeit. Wäre die 1943 geborene Autorin nicht mit nur 22 Jahren tragisch bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen, sie hätte eine Wegbegleiterin der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison werden können.

In diesem nun erstmals im Deutschen veröffentlichten Erzählungsband greift die Autorin immer wieder alltägliche Situationen aus dem Leben in den Südstaaten der USA zur Zeit der Rassentrennung auf. Damals galt zwar schon, die Bürger der USA seien „gleich“ aber man hielt sie weiterhin voneinander getrennt. Getrennt in den Bussen, getrennt in der Schule, getrennt in Restaurants oder auf Toiletten. Genau während der Hochphase der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zwischen den späten 1950er und späten 1960er Jahren spielen die Geschichten von Diane Oliver. Hier geht es um Alltagsheldinnen, deren Ängste, Wünsche und Freuden nie den Weg in die allgemeine Geschichtsschreibung gefunden haben.

So dreht sich die titelgebende und auch erste Geschichte des Bandes „Nachbarn“ um eine Familie, die am Tag vor der Schuleinführung des Sohnes mit sich aufgrund der Anfeindungen, die bereits eingegangen sind und noch bevorstehen werden, hadert, ob sie ihn tatsächlich als erstes und einziges Schwarzes Kind auf eine rein weiße Schule schicken sollen. Es wäre nun ihr Recht, aber was steht dabei auf dem Spiel? In einer anderen Geschichte begleiten wir eine junge Frau, die ihren gesamten Schulweg immer „die erste Schwarze“ unter Weißen gewesen ist und nun auf dem College an dieser Bürde psychisch zerbricht. Aber Diane Oliver bewegt sich mit ihren Geschichten keinesfalls nur in der Gruppe der intellektuellen und tatkräftigen Vorkämpfer:innen der damaligen Bewegung, auch auf die Menschen, die weit davon entfernt sind, überhaupt die Kraft erübrigen zu können, für ihre Rechte zu kämpfen, wirft sie ein Schlaglicht. Auf die Schwarzen Frauen, die sich alltäglich unter Weißen abrackern und doch ihre Familie kaum über Wasser halten können. Die in einem diskriminierenden Gesundheitssystem unvorstellbare Hürden auf sich nehmen, um eine Grundversorgung zu erhalten. Die ihre Kinder vor dem Hungertod retten müssen, während sich ihre Männer aus dem Staub machen. Es werden aber nicht nur ausschließlich Schwarze Protagonistinnen in den Geschichten vorgestellt, auch gibt es weiße Personen, die langsam ihre traditionell konservativen, rassistischen Südstaatler-Ansichten hinterfragen und versuchen neue Wege zu gehen.

Diese Kurzgeschichtensammlung besticht durch ihre Intersektionalität von Race, Gender und Class und wirkt trotz der historischen Gegebenheiten nie veraltet, sondern im Gegenteil brandaktuell, sind doch dunkelhäutige Frauen aus einer niedrigen sozioökonomischen Schicht immer noch weitverbreitet die am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe. Die Gruppe, die am meisten für ihre Rechte kämpfen muss. Diesen Kampf zeigt Oliver mithilfe der antirassistischen sozialen Bürgerrechtsbewegung Mitte des vergangenen Jahrhunderts in den USA auf. Dieses Buch wird auch heutzutage noch zu Diskussionen anregen und ist durch die mitunter überraschenden Wendungen in den einzelnen Geschichten und Durchmischung der Themen durchgängig interessant. Sprachlich bewies die Autorin schon in jungen Jahren ein Talent für das pointierte Geschichten erzählen, schade dass wir sie nie als sich noch weiter entwickelnde Autorin kennenlernen können. Wie es bei solcherart Zusammenstellungen immer ist, stellt nicht jede Erzählung ein Highlight dar, das liegt in der Natur der Sache, trotzdem erkennt man eindeutig das Talent der Autorin sowie die Dringlichkeit ihrer Anliegen und liest (fast) jede Geschichte atemlos und begeistert. Eine wirklich wichtige Wiederentdeckung!

4,5/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.01.2024

Turnen auf dem Mond

Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah
0

Die 36jährige Go Mani hat ihr gesamtes Leben in einem „Mondviertel“ Seouls verbracht. Nun könnte man denken, dass „Mondviertel“ für ein besonders exklusives Wohnerlebnis steht, leider ist dem nicht so. ...

Die 36jährige Go Mani hat ihr gesamtes Leben in einem „Mondviertel“ Seouls verbracht. Nun könnte man denken, dass „Mondviertel“ für ein besonders exklusives Wohnerlebnis steht, leider ist dem nicht so. Es handelt sich hierbei um Viertel mit kleinen, ärmlichen Häuschen auf steilen Hügeln am Rande von Seoul, die durch die Höhenmeter „dem Mond nahe“ sind. Diese „Nähe zum Mond“ bedeutet aber im Umkehrschluss eine Distanz zum Seouler Stadtkern mit seinem Fortschritt und Wohlstand. So wächst Mani in Armut bei ihren Eltern auf, mit denen sie mit Ende Dreißig immer noch zusammen im verfallenen Elternhaus lebt. Sie gilt (vielleicht nicht nur) für südkoreanische Verhältnisse als gescheiterte Existenz. Aus dem Wunsch einer Karriere als Turnerin ist nicht geworden, nach zehn Jahren Anstellung in einer Firma als „Tippse für alles“ wird sie gefeuert, sie ist weiterhin unverheiratet und das Elternhaus soll abgerissen werden, um der fortschreitenden seouler Stadtentwicklung Platz zu machen.

An diesem Punkt setzt der Roman von Cho Nam-Joo (Autorin von „Kim Jiyoung, geboren 1982“) ein und erzählt aus der Ich-Perspektive von Mani mithilfe ihren Erinnerungen in Form von Rückblenden deren bisherigen Lebensweg und weiteres Fortkommen. Durch konventionelles Erzählen versucht uns der Roman mit solidem Erzählstil die Geschichte dieser Frau näher zu bringen. Nun ist es aber so, dass ich eher unbeteiligt diesen Roman gelesen habe, die Charaktere blieben mir immer ein bisschen fern und kamen mir eben nicht nahe, jedenfalls nicht im Sinne von Sympathien. Denn der Umgang untereinander ist über weite Strecken sehr herzlos. So wird die Mutter von Mani von ihr als eine Frau beschrieben, die in früher Kindheitsjahren eine Entwicklungsverzögerung hatte und bis zum heutigen Tage geistig eingeschränkt ist. Das wird nicht so vorsichtig formuliert, wie ich dies gerade getan habe, sondern leider eher abfällig und wenig liebevoll. So erscheint mir auch die Personenzeichnung der Mutter inkonsistent. Wird zunächst beschrieben, dass es eine merkliche Entwicklungsverzögerung mit kognitiven wie auch emotionalen Einschränkungen gibt, heißt es nach einem Zusammenbruch der Mutter bei einem für sie überfordernden Elterntreffen in der Schule „Auch die Lehrerin musste gewusst haben, meine Mutter war vollkommen gesund, aber ich schämte mich für sie.“ Die Mutter wird aber eindeutig als nicht gesund im Buch beschrieben. An anderer Stelle geht es um die schlechte finanzielle Situation der Familie, die im Winter nur selten heizt und mitunter wenig Essen auf dem Tisch hat. Mani soll auf eine Schule mit Turnabteilung gehen, die Eltern verzweifeln über die finanzielle Belastung einer Privatschule, der Vater bekommt einen Herzinfarkt, aber im gleichen Absatz heißt es, ohne zu erläutern, wo denn nun das Geld für die Privatschule hergekommen ist: „Das (der Herzinfarkt) hätte wirklich böse enden können. In die neue Schule ging ich aber trotzdem wie geplant.“ So relativ plump werden Fakten häufig einfach proklamiert in diesem Roman. Cho Nam-Joo geht größtenteils nach dem Prinzip „Tell, don‘t show“, statt andersherum, vor. Keine Frage, dabei bekommt man einige Einblicke in die südkoreanische Gesellschaft, vor allem eben in die unterste Schicht dieser, lernt einiges zur Stadtentwicklung Seouls in den 1980er, 90er, 00er Jahren, aber packen konnte mich die Geschichte dadurch nicht so richtig.

Sprachlich mutet außerdem etwas merkwürdig die zwischenzeitlich kurz auftretende lapidare Umgangssprache. An Stellen der direkten Rede, an denen gezeigt werden soll, dass die sprechende Person eben Umgangssprache spricht, ist das verständlich. Aber im Rahmen der Rückblicke, die und Mani aus ihrer nun Ende Dreißigjährigen Sicht erzählt, wirkt dies vollkommen unpassend, zumal wir wissen, dass sie mittlerweile das College besucht hat, also einen höheren Bildungsweg und Bürotätigkeiten nachgegangen ist. So kommt es wie Sätzen, die wie dieser hier endet: „Der eigenen Not durch Gesetzesvorstöße, Gesetzesumgehung und Tugendlosigkeit entgehen zu wollen, ist normal, den Dornenweg brav und ehrbar beschreiten zu wollen, ist bescheuert.“ oder „Ich sprang auf und zog meine Hose und Unterhose herunter. Ein dunkelbrauner Fleck. Scheiße. Da hatte ich dem beschissenen Gezanke nun also einen Schlusspunkt gesetzt, indem ich mir selbst in die Hose geschissen hatte.“ oder es ist von „beschissenen Schließfächern“ die Rede, etc. Die Übersetzung des vorliegenden Romans stammt von Jan Henrik Dirks, der nach Ki-Hyang Lee (die kongenial „Kim Jiyoung, geboren 1982“ übersetzte) und Inwon Park (Übers. von „Miss Kim weiß Bescheid“) nun schon der dritte Übersetzer ins Deutsche von Cho Nam-Joo Texten ist. Bei drei deutschsprachigen Übersetzungen insgesamt. Ob es nun an der Übersetzung liegt, oder am Originaltext kann ich nicht beurteilen, nur sind mir solche Formulierungen aus den beiden anderen genannten Veröffentlichungen nicht bekannt. Positiv anzumerken ist erstmalig das Nutzen von Fußnoten, die gewisse südkoreanische Begriffe im Anhang erklären. Leider sind diese ab und an obsolet. Steht zum Beispiel im Text (frei zitiert) „wie eine Braut trug ich folgende Kleidungsstücke…“ wird dazu im Anhang erklärt „Traditionelles Erscheinungsbild der koreanischen Braut bei einer Hochzeit“. Das ergibt sich dann durchaus schon aus dem Originaltext heraus. An anderer Stelle fehlt eine genaue Erläuterung, die man sich zum tieferen Verständnis gewünscht hätte.

Inhaltlich bietet der vorliegende Roman als neue Facette sicherlich das Thema der Stadtentwicklung Seouls und der damit einhergehenden Verdrängung der ärmeren, einheimischen Bevölkerung im Rahmen des rasanten Fortschritts Seoul in den letzten Jahrzehnten. Bezüglich der vielen Beispiele an konservativen, mitunter misogynen, südkoreanischen Konventionen hat meines Erachtens „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ nicht viel Neues zu bieten. Dies kann auch am Veröffentlichungszeitpunkt des Originaltextes liegen und an dem, was wir mittlerweile an Texten aus Südkorea hier in Deutschland lesen konnten. Denn wichtig ist anzumerken: Der Originaltext stammt, wie auch „Kim Jiyoung, geboren 1982“ aus dem Jahre 2016! Nachdem mit „Miss Kim weiß Bescheid“, im Original 2021 erschienen (Dtl. 2022), eine aktuelle Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht wurde, greift bei „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ der Verlag auf einen alten Text zurück. Und im direkten Vergleich, kann dieser Roman einfach nicht mit der Innovation und erzählerischen Raffinesse (wir erinnern uns an die Erzählperspektive!) mithalten. Sicherlich hat diese deutschsprachige Erstveröffentlichung auch ein Existenzrecht, keine Frage, ich wüsste aber im Zweifel, welches Buch der Autorin ich Interessierten empfehlen würde...

Somit stellt „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ einen guten Roman dar, den man lesen kann, aber nicht muss, wenn man schon zwei, drei südkoreanische Romane mit ähnlichen Themenfeldern gelesen hat. Gestalterisch passt er auf jeden Fall sehr schön in die eigene Sammlung der Cho Nam-Joo Romane.

3/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 19.12.2023

Ein mit sehr viel Raffinesse konstruierter Roman

Das Meer der endlosen Ruhe
0

Beginnt man Emily St. John Mandels aktuellen Roman zu lesen, denkt man zunächst, dass es sich um eine relativ leicht durchschaubare Zeitreise-Geschichte mit Pandemie-Touch handelt. Wir bewegen uns, wie ...

Beginnt man Emily St. John Mandels aktuellen Roman zu lesen, denkt man zunächst, dass es sich um eine relativ leicht durchschaubare Zeitreise-Geschichte mit Pandemie-Touch handelt. Wir bewegen uns, wie schon das Inhaltsverzeichnis vermuten lässt durch die Zeit. Von einem britischen, ausgestoßenem Adelsspross, Edwin St. John St. Andrew, 1912 im kanadischem Exil, nach 2020 zu einer merkwürdigen, musikalischen Kunstperformance des Bruders der bereits verstorbenen Vincent (weibl.), zur Autorin Olive Llewellyn, die in 2203 für eine Lesereise ihre Heimat, die Mondkolonie, verlässt und auf der Erde herumreist, bis in die ferne Zukunft 2401 ebenso auf dem Mond, auf dem es ein Zeitreiseinstitut gibt und Gaspery-Jacques Roberts als Recherchemitarbeiter rekrutiert wird und beginnt durch die Zeit zu reisen. Wie man vermuten kann, hängen alle Erzählstränge miteinander zusammen.

Allein die Grundgeschichte hat St. John Mandel solide konstruiert. In Zeitreisegeschichten geübte Lesende werden relativ schnell hinter die Zusammenhänge steigen und sich trotzdem an den kleinen Geschichten, die in den einzelnen Erzählsträngen entstehen, erfreuen können, und am Ende vielleicht doch von dem letzten Dreh der Geschichte doch noch überrascht werden. Viel interessanter finde ich aber die anderen Aspekte, die die Autorin auf der Metaebene in den Roman eingebaut hat. Denn funktioniert vor allem der Strang um die Schriftstellerin Olive größtenteils durch die Einbindung zum einen eigener, persönlicher Erfahrungen der Ehefrau und Mutter Emily St. John Mandel während der Corona-Pandemie, denn auch in 2203 steht eine neue Pandemie, mit einem neuen Virus an. Aber die Autorin steigt noch eine Metaebene höher, denn ist Olives vorletzter Roman gerade einer über eine Pandemie. So wird sie nun bei ihrer Lesereise, die zum vorletzten Roman stattfindet, da dieser verfilmt werden soll, hauptsächlich zum Thema Pandemie befragt. Dann bricht tatsächlich diese neue Pandemie aus. Und genau das ist, was St. John Mandel mit ihrem 2014 im englischen Original und 2015 auf Deutsch veröffentlichten Roman „Das Licht der letzten Tage“ passiert ist. Dieser wurde auch für eine Verfilmung gekauft, die geht damit auf Lesereise und dann kam Corona. Der fiktive Roman „Marienbad“ von Olive enthält wiederum Passagen, die Stellen aus „Das Licht der letzten Tage“ stark ähneln. So findet man sich als damalige Leserin von „Das Licht…“ während des Lesens von „Das Meer der endlosen Ruhe“ immer wieder erinnert an diesen real existierenden Roman von St. John Mandel. Aber damit nicht genug, denn auch das Personal aus dem Roman „Das Glashotel“ von St. John Mandel taucht als Personal in „Das Meer…“ wieder auf. Nun aber eben nicht als innerhalb des vorliegenden Romans fiktive Schöpfung von Olive, sondern als real existierende Figuren in der Handlung von „Das Meer…“.

Diese Konstruktion über mehrere Ebenen hinweg finde ich so großartig gelungen, dass für mich dieser trotzdem nie kompliziert geschriebene, sondern immer süffig zu lesende Roman komplett für sich einnehmen konnte und ein Highlight geworden ist. Es empfiehlt sich daher sehr stark, sollte man die anderen beiden Bücher von St. John Mandel sowieso vorhaben zu lesen, diese vor „Das Meer…“ zu lesen. Somit bekommt man nicht nur eine flotte, gut funktionierende Zeitreise-Pandemie-Geschichte, sondern auch noch das Extrapaket der raffiniert eingebundenen Querverweise mit dazu. Der Roman funktioniert definitiv auch ohne, aber mit dem Vorwissen wurde er eindeutig zu einem Highlight.

Viel Spaß also beim Entdecken dieses vielschichtigen Romans und gegebenenfalls beim „Nachlesen“ der vorherigen Bücher der Autorin. ;)

5/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere