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Veröffentlicht am 31.05.2023

Das Psychogramm einer Familie

Gewittertiere
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Was sind eigentlich Gewittertiere/Gewittertierchen? Das sind diese klitzekleinen, schwarzen Insekten von 1 bis 3 mm Größe nur, die bei Gewitter aufgrund der Luftdruckveränderung in niedere Luftschichten ...

Was sind eigentlich Gewittertiere/Gewittertierchen? Das sind diese klitzekleinen, schwarzen Insekten von 1 bis 3 mm Größe nur, die bei Gewitter aufgrund der Luftdruckveränderung in niedere Luftschichten sinken und sich dadurch in unseren Häusern und auf unserer Haut niederlassen. Nicht weiter bedrohlich, nur nervig. Fast könnte dies auch für die Familienmitglieder gelten, die Svealena Kutschke in ihrem gleichnamigen Roman porträtiert. Nur hat sich der Verlag nicht ohne Grund dafür entschieden, auf dem Cover statt den kleinen Tierchen bedrohliche Boa constrictor Schlangen abzudrucken. Was in dieser gewöhnlichen bundesrepublikanischen Familie, die wir beginnend ab den 1980er Jahren bis in die Gegenwart hinein begleiten, zunächst nur wie nervige Angewohnheiten und Mechanismen innerhalb dieser Familie daherkommt, wirkt zunehmend bedrohlich.

Die Familie Becker besteht – ganz prototypisch – aus Mutter, Vater, Tochter und Sohn. Könnte alles ganz normal und unkompliziert sein, aber wie wir wissen, ist es das beim Thema Familie nur selten. Mit dem Mauerfall steigen die Ängste des Vaters vor Zuwanderungen aus dem Osten, später von überall her. Er beginnt im kleinen Garten der Reihenhaussiedlung eigenhändig das Loch für einen Bunker auszuheben und wird einige Jahre mit diesem Lebensprojekt beschäftigt sein. Während in der Realität die Übergriffe auf sog. Ausländer(-heime) zunehmen, nehmen auch die Ressentiments des Vaters zu. Er sieht die Gefahr von außen, obwohl sie in dieser Familie von innen kommt. Die Mutter ertränkt ihre Sorgen im Alkohol. Und beide Eltern vernachlässigen dabei mit langfristig erschreckenden Folgen ihre beiden Kinder. So heißt es an einer Stelle des Romans treffend „Nichts, was ihnen [den Kindern] geschah, schienen die Eltern zu sehen.“ Die Geschwister sind Außenseiter und werden bis in ihr belastetes Erwachsenenleben nur schwer aus dieser Rolle herauskommen. Kein Wunder, geplagt durch ständige Selbstzweifel, gesät von dem Neglect der Eltern.

Kuschkes Roman folgt zwar über weite Strecken Colin (Cornelia), die Tochter der Familie, wirft jedoch mit seiner auktorialen Erzählperspektive immer wieder auch kritische Blicke auf die Lebensverläufe der anderen Familienmitglieder. So bekommt die Leserschaft einen intensiven Einblick in die Mechanismen einer dysfunktionalen Familie. Man könnte diesen Roman das Psychogramm des Systems Familie nennen. Hervorragend stellt die Autorin psychologische und soziologische Zusammenhänge innerhalb des Romangeschehens dar. Fast seziert sie dieses familiäre System bis ins kleinste Detail.

Dies hatte für mich zur Folge, dass ich zunächst tatsächlich über die ersten 100 Seiten hinweg gar nicht richtig in den Roman hineingefunden habe. Man muss sich auf diesen langsamen, alles ausleuchtenden Stil einstellen, danach eröffnet sich das volle Potential des Buches erst so richtig. Beinahe hätte ich sogar innerhalb dieses ersten Drittels das Buch sogar abgebrochen, da ich nicht einschätzen konnte, wohin die Autorin mit ihrer Geschichte eigentlich will. Zum Glück bin ich dabeigeblieben, denn diese Fallvignette zur Familie Becker entwickelt einen starken Sog. Allein der Schluss konnte mich dann nicht mehr so recht überzeugen. Man könnte dem Roman zu viel Psychologisierung vorwerfen, zunächst kam mir dies auch so vor, im Gesamteindruck des Buches ist dieses vollständige Auserzählen für mich allerdings zu einer Stärke avanciert.

Es heißt im Roman „Colin wusste natürlich, dass Erzählungen normalerweise eine gewisse Dramaturgie brauchten, jede Form von Konflikt brauchte eine Lösung, jedes Narrativ ein Ende.“ Das ist in dieser Geschichte meines Erachtens nicht so. Lange Zeit vermisst man eine gewisse Dramaturgie, nicht jeder Konflikt kann gelöst werden und auch das Narrativ dieser familiären Prägung wird mit dem Ende des Romans noch kein Ende im Leben der beiden Geschwister finden. Und genau das macht diesem Roman so lesenswert. Hier werden Zusammenhänge dargestellt, dysfunktionale Mechanismen offengelegt, aber nichts einfach mal so nebenher gelöst. So funktioniert unsere Psyche nicht.

„Denn letztendlich hatte auch Colin sich die Absurdität des Bunkers nie in vollem Umfang klargemacht. Das war es, was ein Familiengewebe von jedem anderen unterschied: die Fähigkeit, vollkommen eigene Realitätsbezüge zu schaffen.“

Für mich handelt es sich hierbei um einen äußerst lesenswerten Roman, der zwar kleine Schwächen hat, über die man aber ob der über lange Strecken hinweg intensiven Leseerfahrung getrost hinwegsehen kann.

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Veröffentlicht am 27.05.2023

„Woher ich lese“

Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen
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Schon die Übertragung des Originaltitels dieses Buches ins Deutsche ist ein Problem, was thematisch super ins Buch gepasst hätte. So lautet dieser „Where I‘m Reading From“, wenn man es direkt übersetzen ...

Schon die Übertragung des Originaltitels dieses Buches ins Deutsche ist ein Problem, was thematisch super ins Buch gepasst hätte. So lautet dieser „Where I‘m Reading From“, wenn man es direkt übersetzen wollte etwa: „Woher ich lese“. Viel kraftvoller und verständlicher wirkt da der unübersetzte Titel. Die Übersetzerinnen Ulrike Becker und Ruth Keen haben sich mit dem Verlag für „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ entschieden. Inhaltlich bekommt das Ganze damit einen ganz neuen Kontext.

Warum ist die eben geführte Diskussion so relevant? Weil unter anderem auch genau dieses Thema der literarischen Übersetzung in Tim Parks Essays behandelt wird. Tim Parks ist selbst Übersetzer, Autor, Essayist und Kritiker. So beleuchtet er in seiner Essaysammlung verschiedene Themen des globalisierten Literaturwelt. In den vier Teilen des Buches verfolgt er folgende Bereiche: „Die Welt des Buches“ (1) mit Fragen um Copyright, den langweiligen neuen globalen Roman, das Beenden von Lektüren oder der unterschiedlichen Einschätzung ein und desselben Buches durch unterschiedliche Leser:innen. „Das Buch in der Welt“ (2) behandelt sehr aufschlussreich die Vergabe des Literaturnobelpreises und seine Sinnhaftigkeit, die bevorzugten Nationen auf dem Buchmarkt, oder die Glorifizierung von Schriftstellern. „Die Welt des Schriftstellers“ (3) taucht in die Tätigkeit des Bücherverfassens und -veröffentlichens ein. Und zuletzt „Schreiben rund um die Welt“ (4) über die Übermacht des amerikanischen Buchmarktes, die Vereinheitlichung von Übersetzungen und das nachträgliche Ausbügeln von Texten nach den Wünschen des Buchmarktes.

Viel lernte ich in diesem Buch über die Zusammenhänge des globalen Literaturmarktes. Es geht grundsätzlich sowohl um das Lesen als Kritiker, Wissenschaftler, Übersetzer oder auch „einfacher“ Leser als auch um das Schreiben als Romanautor, Essayist und Wissenschaftler. Über weite Strecken verpackt Parks seine Thesen, denen ich nicht immer pauschal folgen würde, äußerst unterhaltsam und kurzweilig. Weniger aufregend erschien mir der Mittelteil des Buches, welcher sich stark um die sog. „Klassiker“ dreht. Hier überwiegend männliche und britisch-englische oder amerikanisch-englische Autoren, die man dem „Kanon“ zuordnen würde (Dickens, Beckett, Hardy). Es wird ausschweifend über deren Autorenpersönlichkeit und die fließenden Übergänge zu ihren Werken gesprochen. Da mein persönliches Interesse an deren Literatur und Persönlichkeiten eher gering ist, war dies ein etwas zäher Abschnitt. Viel besser gefielen mir die übergreifenden Betrachtungen zur Welt der Literatur. Vor allem die dargestellten Ungenauigkeiten, die bei literarischen Übersetzungen entstehen können, waren für mich augenöffnend und verstärkten den Wunsch, viel mehr Originalliteratur zu lesen. Auch werde ich nach dieser Lektüre die Vergabe des Literaturnobelpreises viel kritischer hinterfragen, wenn nicht gar nur noch nebenher wahrnehmen. Manche Einsichten aus der Lektüre können die Wahrnehmung schärfen und die Wachsamkeit als Leser:in positiv beeinflussen.

Insgesamt handelt es sich also meines Erachtens um eine äußerst lesenswerte Essaysammlung. Ich hatte viel Freude damit, sie war aufschlussreich und erhellend. Wer also die „alten weißen Männer“-Klassiker besser tolerieren kann als ich oder sogar besonderes Interesse an den englischsprachigen Klassikern hat, wird hier sicherlich ein Lesehighlight für sich entdecken können. Es wird auf jeden Fall allen gefallen, die selbst gern hinter die Kulissen der Literaturwelt blicken und sich nicht nur von den Endergebnissen in Form von Romanen berieseln lassen wollen.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 14.05.2023

Alle unsere Lebenden und alle unsere Toten(-gräber)

Als wir Vögel waren
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In ihrer mythischen Liebesgeschichte, die in einer imaginären Stadt, Port Angeles, auf der karibischen Insel Trinidad spielt bringt die 1980 auf Trinidad geborene Autorin Ayanna Lloyd Banwo zwei Menschen ...

In ihrer mythischen Liebesgeschichte, die in einer imaginären Stadt, Port Angeles, auf der karibischen Insel Trinidad spielt bringt die 1980 auf Trinidad geborene Autorin Ayanna Lloyd Banwo zwei Menschen auf einem holprigen Weg zusammen, die kaum zueinander zu passen scheinen. Beide, sowohl Yejide als auch Darwin, tragen eine große familiäre Verantwortung und es wird im Verlauf das Buches immer klarer, dass sie dieser nur zusammen gerecht werden können.

Yejide treffen wir an, als ihre Mutter im Sterben liegt. Nach und nach erfahren wir, dass das ehemalige Plantagengebäude, in dem die Nachkommen ehemaliger Sklaven – die Familie Yejides und weitere Bewohner seit vielen Generationen leben, stets durch ein Matriarchat von Yejides Familie geführt wurde. Da nun ihre Mutter auf der Schwelle zum Tod steht, muss Yejide entscheiden, ob sie diese Bürde annehmen und dem Auftrag ihrer Vorfahren folgen kann. Denn es geht hier nicht nur um die Hausverwaltung, es geht um das spirituelle Erbe. Alle weiblichen Vorfahren von Yejide waren dazu bestimmt, die Sterbenden auf ihrer Reise ins Jenseits und darüber hinaus zu begleiten. Die Transition würde Yejide einfacher fallen, wenn nicht die Beziehung zur Mutter von jeher gestört gewesen wäre. So hadert sie auf mystischer wie auch auf psychologischer Ebene mit sich und ihrem Erbe.

Darwin hingegen ist mit den Ritualen der Rastafari-Religion aufgewachsen, hat gelernt, dass die Lebenden nicht einmal einen Blick auf die Toten werfen dürfen. Nach einem Aufwachsen mit Ressentiments der Umwelt sich selbst und seiner alleinerziehenden Mutter gegenüber aufgrund ihrer Religion, muss er nun schweren Herzens die wichtige Regel der Trennung von Lebenden und Toten brechen. Um seine Mutter und sich ernähren zu können, muss er einen Job als Totengräber auf dem großen Friedhof Port Angeles‘ „Fidelis“ annehmen.

Beide Wege kreuzen sich nun auf Fidelis, ein Friedhof, auf welchem viele ruhelose Seelen - tot und lebendig - umherirren.

Mich hat dieser Roman um Mythen, Bräuche, indigene Schöpfungsgeschichten, Märchen und von den Sklaven aus Afrika mitgebrachte Traditionen in der Karibik immer stärker eingewickelt und in die Geschichte gesogen. Dies war mein erster intensiverer Kontakt außerhalb von popkulturellen Verweisen mit der Rastafari-Religion, ihren christlichen Ursprüngen und alttestamentarischen Bezügen. Hinzu kommen die afrikanischen Mythen, die durch Yejides Familie vermittelt werden. Vieles, besonders zur Rastafari-Religion wird im Buch nur angedeutet, weckt aber dadurch das Interesse, sich ausführlicher mit dem Thema zu beschäftigen.

Der Plot des Romans wird von einer zunächst sehr ruhigen Einführung in die Geschichten der beiden Hauptcharaktere bestimmt und entwickelt sich im Verlauf zunehmend zu einem spannenden Pageturner mit viel Geisteraction aber auch einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Neben diesen Themen werden durchgängig auch die Fragen nach einer Übernahme von Familientraditionen, dysfunktionalen Mutter-Tochter-Beziehungen, Erbe, Klassenunterschiede und der schmale Grat zwischen Leben und Tod verhandelt.

Insgesamt ist das Buch gut geschrieben. Die Übersetzerin Michaela Grabinger (no pun intended) hat gute Arbeit geleistet bei der Übertragung des Textes aus dem trinidad-kreolischen Englisch, indem sie gerade Darwin eine eher lasche, dezent Umgangssprache gegeben hat, um die Formulierungen ins Deutsche zu bringen. Unabhängig von diese gewollten Umformulierungen und Verkürzungen der Sprache hat jedoch eine signifikant hohe Anzahl an Tippfehlern den Weg ins Buch gefunden, weshalb ein genaueres Lektorat diesbezüglich dem Buch gutgetan hätte.

Diese Geschichte die den magischen Realismus Südamerikas mit den Mythen Afrikas verbindet hat mir sehr gut gefallen und sorgt dafür, dass die junge Autorin nach diesem Debütroman definitiv auf dem Radar bleibt.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 08.05.2023

Die Absurdität des Alltags

Stories
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Die Geschichten der im deutschsprachigen Raum neu entdeckten Autorin Joy Williams, die aber mit einem Alter von fast 80 Jahren schon seit Jahrzehnten in den USA Geschichten veröffentlicht, drehen sich ...

Die Geschichten der im deutschsprachigen Raum neu entdeckten Autorin Joy Williams, die aber mit einem Alter von fast 80 Jahren schon seit Jahrzehnten in den USA Geschichten veröffentlicht, drehen sich allesamt um meist höchst absurde Szenen im Alltag von amerikanischen Menschen.

Die erste Geschichte der hier versammelten insgesamt 13 Erzählungen stellt dabei noch die eingängigste dar. Ein Prediger muss sich während der schweren Erkrankung seiner Frau nicht nur um diese im Krankenhaus, sondern auch noch um seine erst sechsmonatige Enkeltochter und den Hund der eigenen Tochter kümmern. Die im Deutschen mit „Liebe“ überschriebene und im Englischen mit „Taking Care“ betitelte Kurzgeschichte beleuchtet nach klassischem Kurzgeschichtenmuster kurz das Leben eines Mannes, der sich unversehens in einer ungewöhnlich belastenden Situationen wiederfindet und damit zurechtkommen muss. Ganz anders sieht es in der Geschichte „Kongress“ aus, in welcher eine Frau die Pflege ihres Mannes dessen Verehrer in die Hände gibt und selbst durch einen Roadtrip in einem obskuren Museum für präparierte Tierkadavar landet, in welches tagtäglich eine Unmenge an Besucher:innen aus dem ganzen Land pilgert, um den Präparator einmal persönlich sprechen zu können.

Immer wieder steigen wir unvermittelt ein in das scheinbar alltägliche Leben amerikanischer Bürger:innen, meist in der (unteren) Mittelschicht angesiedelt. Wenn man einmal den Erzählstil von Williams erkennt, wartet man dann schon auf den Einzug der Skurrilität in diese Blitzlichter des Lebens. Das ist sehr speziell und mag Leser:innen, die sich an der ersten Geschichte dieser Sammlung orientieren, zunehmend abschrecken. Wer jedoch Freude an klassischen amerikanischen Kurzgeschichten hat, die aber immer auch mit krudem Humor und Kuriositäten gespickt sind, wird diese Geschichtensammlung wirklich sehr mögen. Man kann sich immer wieder in die Welt, die nur auf den ersten Blick durchschnittlich erscheint, fallen lassen, muss gar nicht viel heruminterpretieren – kann man, muss man nicht – , sondern bekommt ein Feuerwerk an kreativen Ideen für Plotentwicklungen geliefert. Was für die Figuren meist vollkommen "normal" zu sein scheint, ist von außen betrachtet mitunter höchst merkwürdig. Das stellt auch den Clou jeder Geschichte dar. Während des Lesens entdeckt man die Skurrilität. Was eher untypisch für Kurzgeschichten ist: Diese hier enden kaum mit einem Knall. Meist liegt der Clou am Ende einer Kurzgeschichte versteckt, Joy Williams lässt ihre Geschichten meist eher ruhig "auslaufen". Eins haben die Geschichten Williams jedoch definitiv gemein: Es tauchen immer wieder kuriose Momente auf, in denen – mal mehr, mal weniger stark – Tiere eine Rolle spielen. Achtet man darauf, wird man immer fündig.

Im Großen und Ganzen gefallen mir diese Art von Geschichten, ich lese sie gern, mag es Kleinigkeiten zu entdecken und mich von den Absurditäten überraschen zu lassen. Wie fast immer bei Kurzgeschichtensammlungen, gefällt nicht jede Geschichte gleich gut, nicht zu jeder findet man einen Zugang. Hier hat mir aber der überwiegende Teil sehr gut gefallen, weshalb ich auf solide 4 Sterne komme.

Joy Williams, eine späte Entdeckung, die aber weitere Aufmerksamkeit verdient.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 26.04.2023

Ein Steg aus phänomenalen Formulierungen ins Offene Gewässer

Offene Gewässer
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Die 1983 geborene Oberösterreicherin Romina Pleschko erschafft in ihrem zweiten Roman „Offene Gewässer“ Sätze wie folgenden:

„Ich gewöhnte mich nie daran, neben einem sterbenden Märtyrer zu tafeln, und ...

Die 1983 geborene Oberösterreicherin Romina Pleschko erschafft in ihrem zweiten Roman „Offene Gewässer“ Sätze wie folgenden:

„Ich gewöhnte mich nie daran, neben einem sterbenden Märtyrer zu tafeln, und weil es den meisten ebenso erging, fragte ich mich, ob er eventuell ganz bewusst als kostenminimierende Appetitzügelungsmaßnahme in dieser selbst für enthusiastische Katholiken unüblichen Größe und Präsenz konzipiert worden war.“

Beschrieben wird hier der Essensaal samt der Statue des gekreuzigten Jesus Christus der katholischen Internatsschule, in welchem die Protagonistin und herrlich bissige Ich-Erzählerin des Romans eine Zeit lang speisen musste.

Elfi ist die sprachwitzige Erzählerin im vorliegenden Roman. Sie berichtet uns davon, wie sie als Kind durch erst einmal nicht näher bekannte Umstände aus der Heimat Stuttgart mit Umweg über ein Kinderheim hin zur Großmutter nach Oberösterreich ziehen musste. Der idyllische Ort Liebstatt liegt an einem ebenso idyllischem See, der für Elfi immer wieder erst unfreiwilliger und dann täglich aufgesuchter Rückzugsort vor den Bewohnern des Ortes wird. Denn irgendetwas stimmt nicht mit den Eltern von Elfi. Es wird ein Gerichtsverfahren erwähnt, es gibt kurz angebundene Briefe, aber so richtig erfahren wir und auch die Bewohner Liebstatts nie, was da eigentlich los gewesen ist. Deshalb ranken sich immer wieder Gerüchte um dieses Mädchen, was nie so richtig hineinzupassen scheint in die Gemeinde. Oder ist sie vielleicht auch einfach ein ganz normales Mädchen mit ganz normalen Problemen des Aufwachsens?

Ihre Geschichte schildert Elfi in ganz grandiosen Sätzen, die man sich alle wie sie da stehen markieren möchte ob ihrer phänomenalen Formulier- und Fabulierkunst. Gerade im ersten Teil des Romans, welcher mit „Liebstatt“ überschrieben ist, funkeln diese bitterbösen Edelsteine des Schreibens auf. So auch dieser hier:

„Bei fremden Eltern lief es eigentlich immer gut für mich, ich genoss es, mich als optimales Ergebnis eines solide verlaufenen Heilungsprozesses selbst anzupreisen, nur um die Unterstützung mir genetisch nicht verbundener Erziehungsberechtigter zu erlangen.“

Diese trockenen, detailreichen und unglaublich ironischen Beschreibungen machen einfach Spaß beim Lesen. So folgt man Elfi gern durch ihre Jugend mit durchwachsenen Erfahrungen bei der Partnersuche. Wobei „Suche“ kann man es kaum nennen, hat sie doch beim Schauspiel-Sommerkurs bereits ihren zukünftigen Ehemann kennengelernt. Diesen bezeichnet sie somit auch gleich nur noch als „den Mann“, der nur noch um den Finger gewickelt werden muss. Man begleitet sie durch die jugendliche Amateur-Schwimmkarriere, welche nur begann, da sie große Hände und Füße hat, und hin zur Schauspielausbildung, die sie eigentlich nur antrat, da ihr nichts besseres einfiel.

Doch dann kommt es zum Cut, wir wechseln nach zwei Dritteln des Buches in den zweiten mit den Worten „Statt lieb“ überschriebenen Teil des Romans. Das „Danach“. Und hier entglitt mir die freche Protagonistin des ersten Teils zunehmend. Man erkennt die nun zunehmend unzufriedene bis verbitterte Person kaum wieder. So treibt die Faszination für die Figur auf dem offenen Gewässer des Liebstätter Sees zunehmend davon bis man ihre Handlungen gar nicht mehr versteht. Schien die Figur in ihrem Humor bisher eine sehr resiliente Persönlichkeit, fehlt ihr dies zum Ende hin. Da in diesem Teil der Ton zu wechseln scheint, gehen auch die geliebten bissigen Formulierungen verloren.

Letztlich störte mich auch, dass wir über den gesamten Roman hinweg immer wieder mit winzig kleinen Andeutungen zu den Eltern gelockt werden, aber letztlich das Thema komplett vernachlässigt wird und wir keinerlei Grund erfahren, warum Elfi überhaupt bei ihrer Großmutter gelandet ist. Es bleibt eine Leerstelle, die tatsächlich stört.

Aufgrund der von mir heiß geliebten Sprache dieses Romans bekommt er trotz der Schwächelei zum Ende hin von mir gern 4 Sterne. Wie immer ist die Optik und Haptik des Buches aus dem Kremayr & Scheriau Verlag sehr gelungen und einfach etwas Besonderes im Bücherregal.

4/5 Sterne

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