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Veröffentlicht am 06.12.2023

Hoffnung trotz Kollaps, geht das?

Der Wal und das Ende der Welt
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Zweieinhalb Jahre Pandemiegeschehen ließen mich die Lektüre dieses Buches vor mir herschieben. Kann und sollte man eine Geschichte, in der es zu einer tödlichen Grippepandemie, Krieg und Ölknappheit kommt, ...

Zweieinhalb Jahre Pandemiegeschehen ließen mich die Lektüre dieses Buches vor mir herschieben. Kann und sollte man eine Geschichte, in der es zu einer tödlichen Grippepandemie, Krieg und Ölknappheit kommt, wirklich lesen, während die Welt in genau diesen Endzeitszenarien gerade eben versinkt? Die Frage ist nicht global für alle Bücher, die diese Themen behandeln, zu klären. Für „Der Wal und das Ende der Welt“ jedoch kann ich sie für mich eindeutig beantworten: Ja! Es wäre sogar hilfreich gewesen dies schon viel früher zu tun. Aber warum?

John Ironmonger entwirft zwischen all den dystopischen Elementen seiner Geschichte ein zutiefst positives Menschenbild. Zu oft hören, sehen, lesen wir Szenarien, in denen vorhergesagt wird, dass der Mensch, wenn es hart auf hart kommen sollte, sich selbst am nächsten ist. Dass es zu Mord und Totschlag, Plünderungen, Vergewaltigungen usw. usf. kommen wird. In diesem Hoffnung gebenden Buch ist das anders. Die ein oder andere Komponente (Plünderung und Diebstahl) gibt es auch, aber nur am Rande und eher unerheblich. Hier geht es darum, wie ein Mann zusammen mit einer wohlgesinnten Dorfgemeinschaft es schafft, den Kollaps ausgelöst durch eine Kombination der oben genannten Szenarien zu überstehen. Wie man füreinander einstehen kann, ohne dass es innerhalb der Geschichte kitschig wirkt. Wie der Mensch zeigt, dass er letztendlich doch ein soziales Tier und gewillt ist, gemeinschaftlich eine Herausforderung zu bewältigen.

Geschickt webt Ironmonger dafür über zwei Figuren seines Ensembles Überlegungen aus der Philosophie sowie Religionswissenschaft zum Thema die Natur des Menschen in seinen Roman ein. Das wirkt niemals belehrend, sondern vielmehr wissenswert, wohldosiert und verständlich heruntergebrochen. Auch die entsprechenden herangezogenen wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen werden stets nachvollziehbar in die Geschichte eingebunden und erklärt. Sehr positiv hervorzuheben sind diesbezüglich die Anmerkungen des Autors im Appendix des Buches zu den Quellen, die mit weiteren wissenswerten Fakten angereichert sind.

Die Seiten dieses 480seitigen Romans fliegen nicht trotz sondern gerade aufgrund von interessanten Theorien, authentischer Menschlichkeit und knackig erzähltem Plot nur so dahin. Sprachlich ist der Text stets süffig und lesefreundlich gehalten. Rückblicke hin zu lebensgeschichtlichen Ereignissen des Hauptprotagonisten Joe sorgen für Abwechslung und ein vollständigeres Bild dieses Analysten aus London, welcher auf (gar nicht so wundersame Weise) am Strand eines kleinen Örtchens in Cornwall angeschwemmt wurde.

So viel darf zur Entwicklung der Geschichte verraten werden: Hier geht die Welt nicht in Verdammnis unter. Hier gibt es Hoffnung ob der Grundannahme eines Menschenbildes, welches Zusammenhalt deklamiert statt Vereinzelung und Egoismus. Und das ist etwas, was ich schon eher in dieser (aktuellen und wahrscheinlich leider nicht letzten) Pandemie gebraucht hätte. Übermäßig viele Dystopien hat der Mensch hervorgebracht. Es braucht auch mal, wenn nicht gleich eine eher unwahrscheinliche Utopie, dann doch ein Fünkchen Hoffnung.

Deshalb und aufgrund der oben genannten Punkte, gibt es von mir eine klare Leseempfehlung für diesen Roman, der zwar positiv angelegt ist, aber keine naive Happy-Go-Lucky-Geschichte darstellt und damit an massiv Glaubhaftigkeit gewinnt.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Eine literarische Science-Fiction-Geschichte mit unerwartetem Verlauf

Der Mann, der vom Himmel fiel
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„Der Mann, der vom Himmel fiel“ ist mindestens bezogen auf die Verfilmung mit David Bowie aus dem Jahre 1976 vielen ein Begriff. Dass die Buchvorlage bereits aus dem Jahre 1963 und vom nun wiederentdeckten ...

„Der Mann, der vom Himmel fiel“ ist mindestens bezogen auf die Verfilmung mit David Bowie aus dem Jahre 1976 vielen ein Begriff. Dass die Buchvorlage bereits aus dem Jahre 1963 und vom nun wiederentdeckten Autor Walter Tevis („Das Damengambit“) stammt ist weniger bekannt.

Der zweite Roman Tevis’ demonstriert bereits sein herausragendes Können als Romanautor für anspruchsvolle aber trotzdem zugängliche Literatur. So ist es ein Genuss diesen Science-Fiction-Roman mit Niveau zu lesen. Oder sollte ich besser sagen, „zu inhalieren“? Denn das passiert, wenn man beginnt den vorliegenden Roman zu lesen. Man wird mit nur wenigen Sätzen, die ebenso der Beginn einer Kurzgeschichte sein könnten, in die Geschichte um den Antheaner mit dem irdischen Namen Thomas Jerome Newton gesogen. Anthea ist eine Welt innerhalb unseres Sonnensystems, welche durch ihre Bewohner ähnlich zugrunde gewirtschaftet wurde, wie es der Erde durch uns Menschen bevorsteht. T.J. Newton will nun nach seiner Ankunft in 1985 auf der Erde innerhalb weniger Jahre durch Nutzung verschiedenster Wirtschaftsmechanismen – vor allem dem Patentrecht, durch mitgebrachte Theorien zu außerirdischen Technologien – das nötige Kapitel erlangen, um ein Raumschiff zur Rettung seiner Spezies zu bauen.

Wir begleiten nun diesen Außerirdischen, der sich gar nicht so stark aber doch merklich von den Menschen unterscheidet, bei seinen Vorhaben auf der Erde, bekommen einen Einblick in die Frustration, die mit der Entfernung zur eigenen Heimat einhergeht und ebenso mit der Erkenntnis, dass die Menschen keinen Deut besser als die Antheaner sind und gerade dabei ihre Erde mithilfe von atomaren Waffen zu zerstören. So vieles, was Walter Tevis in 1963 für das fast nicht mehr bewohnbare Anthea vorhergesagt hat, ist mittlerweile in unserer Realität der Erde im Jahre 2022 wahr geworden. Wäre dieses Buch eine Erstveröffentlichung dieses Jahres, könnte er wahrscheinlich nicht mehr so schocken, wie es ihm mit Blick auf sein Entstehungsjahr gelingt. Ein weiteres Beispiel wie Literatur im Allgemeinen und Science-Fiction im Speziellen unsere Zukunft zu antizipieren vermag. Ich sage nur: „Solarzellen in der Wüste“ (Seite 69).

Aber auch unabhängig von den prophetischen Qualitäten dieses Romans, ist er einfach ein großartiges literarisches wie auch unterhaltsames Werk. So ist die Sprache von Tevis stets mitreißend und kurzweilig. Man fiebert mit den Protagonisten mit und ist, ob der Blockbuster-Qualitäten des Stoffs überrascht bezüglich des unerwarteten, nicht vorhersehbaren Verlaufs der Geschichte. Die Figuren wirken äußerst authentisch. Denn gerade Außerirdische wurden und werden viel zu oft im Sci-Fi-Genre wenig differenziert dargestellt. T.J. Newton hingegen ist ein facettenreicher Charakter, der mir sich selbst und der Welt ringt.

Diese ungewöhnliche Geschichte und das Können Walter Tevis’ lässt hoffen, dass der Verlag in den nächsten Jahren weitere Werke des Autors neu übersetzen lässt und diese wiederveröffentlicht. Es ist eine helle Freude Tevis und sein Werk (wieder) zu entdecken. Ein zeitloses Buch, was nicht nur Science-Fiction-Fans sondern durchaus einem breitem Publikum gefallen und die Augen öffnen wird. Eine klare Leseempfehlung meinerseits für diesen modernen Klassiker!

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Scharfsinnige Betrachtungen über Mädchen als „2. Wahl“

Es ist ein Mädchen
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In ihrem autofiktionalen Roman lässt Camille Laurens ein Ende der 50er Jahre in Frankreich geborenes Mädchen (fast) alle Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten durchleben, die man als weibliches Wesen in ...

In ihrem autofiktionalen Roman lässt Camille Laurens ein Ende der 50er Jahre in Frankreich geborenes Mädchen (fast) alle Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten durchleben, die man als weibliches Wesen in dieser Welt zu dieser Zeit hätte erleben können. Laurence hätte ein Junge werden sollen und wurde dann doch nur (!) ein Mädchen. Sie wächst auf, in einer Welt, in der Mädchen weniger wert sind als Jungs, weniger ernst genommen werden, weniger geachtet sind. Nach verschiedensten negativ prägenden und mitunter auch traumatischen Erfahrungen wird ihr Selbstverständnis, ihre Sexualität, ja ihr ganzes Leben langfristig beeinflusst. So begleiten wir Laurence bis hinein in ihr Erwachsenenleben ,bis sie selbst Mutter wird und erneut vor der Frage steht: „Was ist es? Ein Junge oder ein Mädchen?“.

Gleich vorweg gesagt: Wenn man dieses Buch mit der Prämisse liest, dass „autofitkional“ nicht „autobiografisch“ heißt und vor allem, dass Camille Laurens hier sehr wahrscheinlich den Kunstgriff gewagt hat, so ziemlich jede Unaussprechlichkeit, die einem Mädchen und Frau passieren könnte, in die Lebensgeschichte von Laurence einzubauen, öffnet sich einem beim Lesen ein großartiges feministisches Manifest. Solange man versucht all die Erlebnisse gedanklich in ein „echtes“ Menschenleben zu packen, wirkt die Geschichte unglaubwürdig, wenn auch nicht komplett unwahrscheinlich(!). Dieses vorliegende feministische Manifest zeichnet sich aber nicht dadurch aus, dass es den heldenhaften Befreiungskampf einer Amazone zeigt, sondern vielmehr zeigt es die unglaublich vielen Demütigungen und Bedrohungen auf, denen – mitunter bis heute – Frauen ausgesetzt sind, einfach nur, weil sie eben nicht männlich sind.

So spielt die Autorin in ihrem Roman vor allem mit der Sprache und Perspektive, um diese Ungleichbehandlungen zu verdeutlichen. Und das tut sie durchaus mit Witz und präziser Beobachtungsgabe, was durch die Übersetzerin Lis Künzli überraschend gut ins Deutsche überführt worden ist. Die Erzählperspektive des ersten Kapitels setzt ein mit einem das Mädchen ansprechenden „Du“. Später wechselt die Erzählperspektive in eine „Ich“-Erzählstimme, um dann – nicht ohne Grund – zu einer von außen erzählenden, personalen Perspektive zu werden. So wechseln immer wieder im Roman diese Perspektiven durch. Der Clou an der Sache: Die Autorin kündigt diese Wechsel an indem sie auf die Metaebene geht, um den Lesenden zu verdeutlichen, was hier gerade geschieht, warum es gerade besser ist aus der personalen Perspektive zu erzählen. Das ist klasse gemacht und ist ein weiteres Indiz für das schriftstellerische Können der Autorin. Hier wird die Sprache und Form ein kongenial eingesetztes, kreatives Mittel. Toll!

Auf der inhaltlichen Ebene muss betont werden, dass alle dargestellten inneren Mechanismen, die Laurence‘ Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, auf fachlich-psychologischer Ebene Hand und Fuß haben. Das lässt Laurence, trotz der eher prototypischen Funktion als „eine Frau dieser Generation“, trotzdem zu einer authentischen Figur werden, die in sich geschlossen agiert. Und gerade diese Authentizität führte bei mir dazu, dass ich an einigen Stellen emotional aufgewühlt und erschüttert war und durchaus wütend wurde auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Genau das kann ein feministisches Werk, welches Misogynie aufzeigt, im besten Falle bewirken. Dass man wütend wird ob der Verhältnisse und eine Veränderung dieser einfordern möchte.

Zum Ende des Romans gibt es auch eine Tendenz genau dazu, zu zeigen, was sich mit dem Generationenwechsel schon zum Besseren verändert hat. Da geht es dann um Laurence‘ eigenes Kind und dessen Umgang mit Zwängen und Normen. Leider ist für mich dieser dritte und letzte Teil des Romans mit seinen 60 Seiten der Schwächste. Wobei das Meckern auf hohem Niveau ist. Die Autorin spricht hier durchaus wichtige und interessante Themen an, die sich aber wegbewegen von denen Laurence‘. Und dies ist dann einfach zu viel für das dünne Buch. Hätte die Autorin es bei der Fokussierung auf Laurence belassen, hätte der Roman für mich persönlich in sich geschlossener gewirkt.

Insgesamt ist und bleibt der Roman jedoch für mich eine Lektüre, die mich tief bewegen, mit ihrer sprachlichen und formellen Kreativität überzeugen konnte und letztlich in mir noch lange nachhallen wird. Definitiv kann ich „Es ist ein Mädchen“ für eine Lektüre empfehlen. Wem? Frauen, aber auch - und vielleicht sogar vor allem - Männern, denn das Buch macht einmal mehr deutlich, dass Männer durchaus auch Sorgen und Nöte haben, keine Frage, diese aber allein bezogen auf ihr im Geburtenregister eingetragenes Geschlecht in einer anderen Gewichtsklasse liegen, als die, mit denen Frauen über ihr gesamtes Leben hinweg aufgrund ihres biologischen Geschlechts zu kämpfen haben.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Solides Debüt mit Luft nach oben

Von hier betrachtet sieht das scheiße aus
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„Von einem Hochhaus stürzen, echt jetzt? Da war ich schon echt enttäuscht. Ich hätte, wenn schon, etwas Heroischeres oder Rockstarmäßigeres gewählt.“ Der beste Kumpel von Ben hat als seinen letzten (Aus-)Weg ...

„Von einem Hochhaus stürzen, echt jetzt? Da war ich schon echt enttäuscht. Ich hätte, wenn schon, etwas Heroischeres oder Rockstarmäßigeres gewählt.“ Der beste Kumpel von Ben hat als seinen letzten (Aus-)Weg den vom Hochhaus gewählt. Ben fällt da etwas anderes ein, um seinem von Zynismus durchseuchtem Leben als Wirtschaftsprüfer ein Ende zu setzen: Er will sich nach einer Karenzzeit von 50 Tagen von einem Auftragskiller umbringen lassen. So weiß er wenigstens nicht, wann und wie genau es passiert. Und muss nicht selbst den „Mut zum ersten Schritt“ (quasi) aufbringen. Wir erleben im Verlauf des Romans also die Veränderung, die in einem Menschen einsetzt, wenn dessen Lebenszeit klar bestimmt ist. Wir begleiten Ben dabei, wie er immer mehr seinen zersetzenden Zynismus fallen lässt und anfängt zu leben, bevor er sterben muss.

Die Geschichte von Ben und seinen Abenteuern erzählt Max Osswald flott und knackig aus der Ich-Perspektive Bens herunter. Dabei ist die Sprache durchaus derb und provokant, wie der Titel „Von hier aus betrachtet sieht das scheiße aus“ schon vermuten lässt. Es ist durchaus Humor zu erkennen, wenngleich er meinen um 10-15 Lebensjahre verpasst hat. Manche der doch recht häufig genutzten Aphorismen wirkt zu gewollt und können dadurch nicht wirklich punkten. So z.B.: „Selbstmord ist der Cousinenfick unter den Todesarten. Nicht verboten, fühlt sich aber nicht richtig an.“ Tja, Recht hat er. Aber muss das unbedingt sein? Es gibt auch viele Lebensweisheiten im Buch, die für sich genommen wirklich richtig und wichtig sind, aber hier einfach zu gehäuft auftreten. Der Autor spricht außerdem sehr viele Themengebiete, mitunter im Nebensatz an, lässt seine Protagonist:innen Sachen sagen, die eher wie info dump wirken, als dass sie zur Handlung beitragen. Das wirkt dann nicht immer authentisch eingeflochten. Da kommt schon einiges an Gesellschaftskritik zusammen. So galant gelöst, wie zum Beispiel in Marc-Uwe Klings Büchern (der Vergleich ist sicherlich aufgrund des Genres und Stils angebracht) ist die Vermittlung von gesellschaftskritischen Ansichten jedoch leider nicht. Da ist noch Luft nach oben für den Debütanten. Man merkt dem Text an, dass er vorgetragen werden will. Vielleicht wie eine auf das Buchformat ausgedehnte Variante eines Poetry Slam Beitrags. Ich könnte mir vorstellen, dass das Buch als Hörbuch auch durchaus besser funktioniert als in der gedruckten Form.

Atmosphärisch trifft der Autor jedoch sicherlich den Ton einer sinnsuchenden, unter Erfolgsdruck stehenden Generation, oder zumindest Teile dieser Generation. Ich finde es ja schrecklich Büchern dieses Label zu verpassen, durch welches sie gleich für eine ganze Generation sprechen sollen. Man kann dem Wandel von Ben vom absoluten Zyniker hin zu einem Menschen mit durchaus hoffnungsvolleren Ansichten durchaus gut folgen. Leider ist der Plot als solcher doch recht vorhersehbar. Hier hätte ich mir mehr Überraschungen gewünscht.

Gefallen hat mir besonders, wie der Autor herausarbeitet, dass wir Menschen untereinander um einiges weniger Probleme hätten, wenn wir ohne Rücksicht auf Verluste mal die Normen sprengen würden und offen und ehrlich miteinander reden. Denn dies gelingt Ben zunehmend. Sein Handeln wird mutiger mit Blick darauf, dass er eigentlich nichts mehr zu verlieren hat. So beginnt er erst richtig zu leben und auch tiefere Kontakte mit seinen Mitmenschen einzugehen.

Insgesamt hat mir das Buch durchaus gut gefallen. Ich habe dieses solide Erstlingswerk gern gelesen, sehe aber auch noch Ausbaupotential. Ich könnte mir vorstellen, das gerade jüngere Menschen um die 20 sich in diesem Buch gut wiederfinden und eine Lektüre für diese Personengruppe auch am ertragreichsten ist. Alle anderen bekommen eben relativ plakativ die traurigen aber wahren Erkenntnisse zu den Problemen unserer Gesellschaft und den darin lebenden Menschen aufgezeigt und können noch einmal für sich auffrischen, warum es sich lohnt, doch weiterzuleben.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Mutige vor! Fordernde Lektüre sucht passende Leser:innen.

Ich und Jimmy
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Wer sich an die 400seitige Kurzgeschichtensammlung der brasilianischen Autorin Clarice Lispector (1920-1977) in der Ausgabe des Manesse Verlags heranwagt, sollte viel Mut, Geduld und Intellekt mitbringen. ...

Wer sich an die 400seitige Kurzgeschichtensammlung der brasilianischen Autorin Clarice Lispector (1920-1977) in der Ausgabe des Manesse Verlags heranwagt, sollte viel Mut, Geduld und Intellekt mitbringen. Ganze 30 Erzählungen versammelt das auf den ersten Blick sehr schön gestaltete Büchlein des Verlags. Diese sind entweder aus der Sicht einer oder über eine weibliche Figur geschrieben und befassen sich mit den Bedürfnissen, Wünschen sowie (Nachtschlaf-)Träumen aber auch Alltagserlebnissen ebendieser Mädchen und Frauen. Nun sind Träume ja meist sog. „zerrissene Geschichten“ und genauso verhält es sich auch mit den Erzählungen von Clarice Lispector.

Viele der Erzählungen wirken wie intellektuelle Fingerübungen der Autorin. Häufig hat sich eine in den Texten verpackte Aussage, eine Message für mich nicht herauskristallisieren können. Häufig war für mich unklar, wohin es gehen soll mit diesen Frauen aus der Oberschicht Brasiliens. Am Ende fast jeder Geschichte standen für mich große Fragezeichen, die jedoch nicht zur weiteren Beschäftigung mit dem Gelesenen anregen konnten. Selten wurde ich emotional berührt. Dies schaffte im Rückblick betrachtet allein die zweite Geschichte des Bandes „Die Flucht“, in welcher eine Ehefrau zumindest für einen Tag den Mut aufbringt, ihrem Ehemann und der Ehe den Rücken zu kehren und beginnt zu träumen. Von der Flucht aus Zwängen, Gedankengefängnissen und Alltag hin zu einem Leben in Übersee. Sie muss, aufgrund der wenigen einer Frau zu dieser Zeit (schätzungsweise 1940er Jahre) zur Verfügung stehenden Mittel und Freiheiten ihre Flucht abbrechen. Eine traurige einprägsame Geschichte, die nachhallt. Ein Großteil der restlichen Geschichten bleibt jedoch Arbeit für die Lesenden. Das muss nicht per se etwas Schlechtes bedeuten, ist in diesem Falle über das gesamte Buch hinweg jedoch eine äußerst ermüdende Arbeit. Immer wieder verstecken sich in den hoch anspruchsvollen Geschichten kleine, stilistisch wunderschöne Miniaturen. Sätze, die aber durch darauffolgende Formulierungen wieder verblassen ob ihrer Schönheit. Frau Lispector ist demnach durchaus eine begabte Autorin gewesen. Nur das Publikum sollte auch zu ihren Arbeiten passen. Man sollte sich auf Hochliteratur und äußerst kafkaeske Szenarien und Formulierungen einstellen, wenn man sich an diese anspruchsvolle Autorin heranwagt, denn es gibt nicht wenige Geschichten, in denen fast jeder Satz ein Rätsel ist, welches häufig ungelöst bleiben muss. So die wild assoziierte Geschichte um einen nächtlichen Traum „Wo wart ihr in der Nacht“ als exzentrischer „Höhepunkt“ der Sammlung mit Sätzen wie: „Doch sie streuten gemahlene Pfefferschoten auf ihre Genitalien und krümmten sich vor brennendem Schmerz. Und plötzlich der Hass. Sie brachten einander nicht um, verspürten aber einen so unerbittlichen Hass, dass es war, als träfe ein Wurfpfeil einen Körper. Und sie jauchzten, verdammt durch das, was sie spürten. Der Hass war Erbrochenes, das sie von einem größeren Erbrochenen befreite, dem Erbrochenen der Seele.“ (Definitiv die Geschichte, durch welche ich mich am meisten quälen musste.)

Um schon einmal ein Resümee zum Inhalt und Stil der Kurzprosa zu ziehen: Aufgrund der durchwachsenen Leseerfahrung würde ich an diesem Punkt als Bewertung 3 Sterne vergeben. Allerdings ist meines Erachtens hier die Ausgabe des Manesse Verlags als Gesamtheit zu betrachten und auch so zu bewerten:

Wie schon erwähnt, ist das Büchlein wirklich sehr hübsch gestaltet und liegt in seinem kleinen Format gut in der Hand. Allerdings gibt es meiner Meinung nach an einigen Stellen Minuspunkte in der editorischen Arbeit. So ist am augenscheinlichsten, dass sich an keiner Stelle im Buch oder auf dem Schutzumschlag biografische Angaben zur Autorin finden lassen. Wer das Buch im Buchladen zur Hand nimmt und noch nichts zur Autorin weiß, könnte nicht einmal das Geburts- und Sterbejahr zur groben historischen Einordnung erfahren! Bei egal welcher Lektüre ist das für mich eine absolute Grundlage für jede Buchveröffentlichung. Ich möchte einfach nicht eine Internetsuchmaschine für die aller grundlegendsten Informationen bemühen müssen. Darüber hinaus sind auch die einzelnen Geschichten nicht mit einer Jahreszahl versehen, sodass man sie historisch und biografisch einordnen könnte. Allein, dass sie chronologisch geordnet seien, erfährt man ganz zum Schluss der Lektüre, mehr aber auch nicht. Gerade ein Sammelband zu einer modernen Klassikerin sollte diese Einordnung anhand von original Veröffentlichungsjahren doch ermöglichen. Des Weiteren schwanken die zu den Geschichten vorhandenen 83 Anmerkungen, welche laut editorischer Notiz in Zusammenwirken aus Übersetzer und Manesse Verlag entstanden sind, stark in ihrer Qualität und Nachvollziehbarkeit. So geben viele Anmerkungen durchaus für das Verständnis der Sätze Lispectors wichtige Hinweise bezüglich genutzter Zitate, Anspielungen und genannten Personen. Andererseits fragt man sich, warum man den Lesenden dieser anspruchsvollen Geschichten nicht mehr Allgemeinwissen zutraut und extra erläutert wird, wer Händel, Kissinger oder Édith Piaf waren; und ein ausgerufenes „Viva!“ mit der Anmerkung versehen wird: „Port. «Leben!»“. An anderer Stelle erscheinen die Anmerkungen dann genauso wenig selbsterklärend und kryptisch wie der Text von Lispector selbst. Da klafft etwas in der Auswahl der Anmerkungen meilenweit auseinander, was den Lesefluss durchaus stört.

Schweren Herzens kann ich somit in der Gesamtheit dem Buch nur eine 2-Sterne-Bewertung geben, da es mir zu viele Punkte Abzug für die formelle Gestaltung gab. Das Buch würde ich nicht pauschal verurteilen und von der Lektüre ist durchaus nicht von vornherein abzuraten. Aber jede Person mit Interesse an der Autorin sollte sicherheitshalber in einem Buchladen mal aus dem ersten, dem mittleren und dem letzten Teil des Buches eine Geschichte lesen, um abschätzen zu können, ob die Lektüre wirklich für einen selbst passt. Die digitale Leseprobe, welche lediglich die ersten drei der insgesamt 30 Geschichten abbildet, ist definitiv noch keine valide Quelle für eine gute Entscheidung.

Also heißt es nun: Mutige vor! Diese fordernde Lektüre benötigt hochmotivierte Leser:innen, die Gefallen an im höchsten Maße anspruchsvoller Literatur haben.

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