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Veröffentlicht am 17.07.2019

Auftakt einer Trilogie um drei Hebammen (1.Band Ausbildung 1917/18)

Aufbruch in ein neues Leben
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Der Roman „Aufbruch in ein neues Leben“ ist der Auftakt einer Hebammen-Saga von Linda Winterberg, die als Trilogie angelegt ist. Im Mittelpunkt des Romans stehen die drei junge Frauen Margot, Luise und ...

Der Roman „Aufbruch in ein neues Leben“ ist der Auftakt einer Hebammen-Saga von Linda Winterberg, die als Trilogie angelegt ist. Im Mittelpunkt des Romans stehen die drei junge Frauen Margot, Luise und Edith, die sich in der Mitte des Jahres 1917 dazu entschlossen haben, eine
18-monatige Ausbildung zur Hebamme an der neuen Frauenklinik in Neukölln bei Berlin zu absolvieren. Alle drei hoffen darauf, mit dem Abschluss in einem Beruf finanzielle und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erreichen.

Die drei Protagonistinnen kommen aus ganz unterschiedlichen Lebensverhältnissen. Während Helen mit ihrer Familie im vierten Hinterhof in einer kleinen Wohnung lebte, ist Edith im wohlsituierten Haushalt eines Bankiers aufgewachsen. Luise kommt aus Ostpreußen und wurde dort von ihrer Oma, einer Hebamme, aufgezogen, weil ihre Eltern früh verstorben sind. Der größte Wunsch der drei ist es, jedem neuen Erdenbürgen einen möglichst guten Start ins Leben zu ermöglichen und ihn und seine Mutter auch in den folgenden Wochen zu begleiten. Doch der Erste Weltkrieg dauert an. Viele Kinder verlieren noch vor ihrer Geburt ihren Vater an der Front. Krankheiten treten verstärkt auf und Lebensmittel sind immer schlechter zu erhalten. Hinzu kommen persönliche Schicksalsschläge der drei jungen Frauen, die als Freundinnen zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen.

Linda Winterberg ließ mich Einblick nehmen in eine schwierige Zeit der Gesellschaft 1917/1918. Während die einen noch auf einen Sieg Deutschlands hoffen, nimmt der Anteil der Bevölkerung, die sich einfach nur nach Frieden sehen, beständig zu. Trotz der widrigen Umstände fand ich es bemerkenswert, dass in Neukölln eine neue Frauenklinik eröffnet hat. Dieser Teil der Geschichte ist eine wahre Begebenheit, so wie die Autorin viele historische Ereignisse der damaligen Zeit in ihre Erzählung einflechtet. Abwechslungsreich wird ihr Roman vor allem durch die unterschiedliche Herkunft der Protagonistinnen, weil dadurch ein Einblick in verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse möglich ist.

Das Buch lässt sich einfach und zügig lesen. Durch unerwartete Wendungen bleibt es durchgehend unterhaltsam. Der Fokus liegt auf den Geburten, deren Ablauf selbstverständlich in allen Gesellschaftsschichten gleich ist. Mehrfach wird eine Frau im direkten Umfeld der drei jungen Frauen schwanger oder sie sind zufällig in der Nähe, wenn eine Geburt ansteht. Sie wurden mir auf ihre je eigene Art sympathisch und ich bangte mit ihnen, wenn sie von Not und Leid getroffen wurden.

„Aufbruch in ein neues Leben“ von Linda Winterberg erzählt nicht nur von der Ausbildung dreier junger Frauen zur Hebamme in den Jahren 1917/1918, sondern bindet auch die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Zeit des Ersten Weltkriegs mit ein. Glück, Erfolg und Liebe einerseits, aber andererseits auch Verlust, Leid und Armut bewegten nicht nur die Protagonistinnen, sondern auch mich als Leser. Ich bin gespannt darauf, welche Entwicklung die jungen Frauen in der Fortsetzung nehmen werden.

Veröffentlicht am 15.07.2019

Suche der Protagonistin nach den eigenen Wurzeln verbunden mit der Geschichte Armeniens

Hier sind Löwen
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„Hic sunt leones“ (lat.), ins Deutsche übersetzt „Hier sind Löwen“ wurde früher von den Römern auf die Bereiche einer Landkarte geschrieben, die außerhalb des römischen Reiches lagen. Dort war für sie ...

„Hic sunt leones“ (lat.), ins Deutsche übersetzt „Hier sind Löwen“ wurde früher von den Römern auf die Bereiche einer Landkarte geschrieben, die außerhalb des römischen Reiches lagen. Dort war für sie unbekanntes Gebiet auf dem ihre Gesetze keine Geltung hatten und der Aufenthalt risikoreich war. „Hier sind Löwen“ heißt auch Katerina Poladjans Roman, in dem sie von Helene Mazavian erzählt, einer deutschen Buchrestauratorin die beruflich nach Jerewan fliegt, der Hauptstadt Armeniens. Für Helene ist es eine Reise entsprechend des Titels ins Neuland. Eigentlich freut sie sich nur darauf, weitere Kenntnisse und Fertigkeiten im Job zu erlangen, doch für sie führt die Fahrt auch zu ihren familiären Wurzeln und in die Vergangenheit Armeniens.

Ihr Vor- und Nachname ist Helene bisher nicht wichtig gewesen. Von Freunden wird sie Helen gerufen, von ihrer Mutter Lena, mit den Abwandlungen ihres Namens hat sie in Kinderjahren gespielt. Ihren Nachnamen hat sie von ihrer Mutter, die armenischer Abstammung ist. Aufgrund seiner Phonetik fällt er in Deutschland auf. Bei ihrer Ankunft in Jerewan reiht sich ihr Name in den Klang der Sprache ein, was bei ihr ein gutes Gefühl auslöst. In den Werkstätten des zentralen Archivs für armenische Handschriften kommt ihr die Aufgabe zu, ein Evangeliar aus dem 18. Jahrhundert zu restaurieren. Bei diesem Erzählstrang lässt Katarina Poladjan ihre profunden Kenntnisse über Buchbinderei immer wieder einfließen. Helen versieht ihre Arbeit mit Achtung gegenüber dem Buch. Zwar versteht sie kein Armenisch, doch die Ausgestaltung des Textes zieht sie immer mehr in ihren Bann. In Helens Gedanken entsteht eine Geschichte um ein armenisches Geschwisterpaar in der Zeit der Massaker und Todesmärsche des Jahres 1915, die das Buch auf ihrer Flucht im Gepäck haben.

Helen ist die Tochter einer Künstlerin. Als sie noch ein Kind war, hat ihre Mutter ihre Spielsachen in ihre Kunst eingearbeitet und so versucht, ihren Bildern mehr Tiefe zu geben und sie zum Betrachter sprechen zu lassen. Helen nimmt diesen Spirit mit in ihre eigene Arbeit. Mit dem Restaurationsgegenstand in ihren Händen formen sich Bilder in ihrem Kopf über dessen Gebrauch und Nutzen. Durch eine Randnotiz im Evangeliar verbindet die Autorin die Zeitebene der Gegenwart mit derjenigen der Vergangenheit. In eingeschobenen Kapiteln erzählt sie in bewegender Weise von der Flucht des armenischen Jungen Hrant, der erst sieben Jahre alt ist, und seiner einige Jahre älteren Schwester Anahid, die die einzig Überlebenden ihrer Familie sind. Bei ihrer Flucht vor Deportationen haben sie das Buch im Gepäck.

Von ihrer Mutter hat Helen ein Familienbild aus den 1950ern vor der Reise erhalten mit dem Wunsch, nach den darauf abgelichteten Verwandten zu suchen. Statt sich nur dem Erlernen der besonderen armenischen Buchbindekunst zu widmen, beginnt sie aufgrund des Bilds und des Evangeliars, sich für die Geschichte des Landes zu interessieren. Immer stärker wird ihr bewusst, welches Leid die Bewohner im vergangenen Jahrhundert erfahren haben, das bis heute nachhallt. Spätestens jetzt interessierte ich mich für die Geschichte Armeniens und warum die Armenier in großer Zahl verfolgt, ausgewiesen und getötet wurden.

In Armenien erlebt Helen so viel Neues, Ungewohntes, dass sogar ihr Lebensgefährte in Deutschland für sie in den Hintergrund tritt. Ihre Neugier treibt sie dazu, Grenzen auszuloten und sich auf Unbekanntes einzulassen. Die Autorin schaffte es, die Empfindungen ihrer Protagonistin an mich zu übermitteln. Nicht nur durch das Fremde ist Helen von einer Unruhe ergriffen, sondern auch von den Gefühlen zu einem Mann, über deren Tiefe sie sich nicht im Klaren ist und die für sie nicht vergleichbar sind. Deutlich spürte ich den Zwiespalt in ihr, die richtigen Entscheidungen in Bezug auf ihre Zukunft zu treffen.

Katerina Poladjan nahm mich in ihrem Roman „Hier sind Löwen“ mit nach Armenien. Ihre Protagonistin und Ich-Erzählerin Helen entwickelt sich durch das Erlernen einer neuen Bindetechnik eines Buchs nicht nur beruflich weiter, sondern nähert sich durch die Beschäftigung mit Land und Leuten auch ihren eigenen Wurzeln. Durch die Begegnung mit der Fremde und dem Vergleich mit ihren bisherigen Wertvorstellungen erfährt sie mehr über sich selbst. Die Schilderungen der Autorin berührten mich und von den Erlebnissen des armenischen Geschwisterpaars in der Nebenhandlung war ich erschütternt. Gerne bin ich an der Seite Helens in die Geschichte Armeniens eingetaucht und empfehle daher den Roman weiter.

Veröffentlicht am 10.07.2019

Unaufgeregte und dennoch ruhelose Suche nach Erkenntnissen

Rainbirds
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Der Roman „Rainbirds“ ist das Debut der indonesischen Autorin Clarissa Goenawan. Der Titel erinnert an verschiedene Vögel, die in Australien „Regenvögel“ genannt werden, zu denen speziell Arten der Familie ...

Der Roman „Rainbirds“ ist das Debut der indonesischen Autorin Clarissa Goenawan. Der Titel erinnert an verschiedene Vögel, die in Australien „Regenvögel“ genannt werden, zu denen speziell Arten der Familie des Kuckucks zählen. Der Kuckuck ist bekannt dafür, dass er seine Nachkommen anderen Vögeln unterschiebt. Die Protagonistin Keiko, die Schwester des Ich-Erzählers und Protagonisten Ren Ishido liebte Vögel, vor allem liebte sie Vögel in der Natur. Sie liebte auch zu schaukeln, wie die junge Frau auf dem Cover. Beides zeigte ihr die Freiheit und Leichtigkeit mit der man sich durch das Leben bewegen kann. Sie selbst verließ ihre Familie in Tokio direkt nach ihrem Studienabschluss als Lehrerin, um in der fiktiven japanischen Kleinstadt Akakawa als Lehrerin an einer Paukschule, so werden in Japan Nachhilfeschule genannt, zu unterrichten. Am Ende des Romans, nachdem sich für mich ein Familiengeheimnis gelüftet hatte, fiel mir der Zusammenhang von Keiko mit den Rainbirds und ihren Eigenarten auf. Vielleicht fühlte sie sich den Vögeln dadurch besonders nah.

Zu Beginn des Romans, der im Jahr 1994 spielt, begegnete ich Ren mit der Asche seiner Schwester auf dem Schoß auf dem Weg nach Akakawa. Keiko wurde nur 33 Jahre alt und an einem regnerischen Abend auf offener Straße ermordet. Die Polizei sucht noch nach dem Täter. Ren ist sieben Jahre jünger als seine Schwester und hat gerade sein Studium abgeschlossen. Jede Woche haben sie telefoniert, doch jetzt merkt er, dass er dabei wenig über den Alltag von Keiko erfahren hat. Sie war immer sein Vorbild. Ein Teil der Erziehung oblag ihr, weil die Eltern keine Zeit für ihre Kinder hatten. In Akakawa sucht Ren nach den Spuren von Keiko. Dank des gleichen Studienabschlusses wird ihm die frei gewordene Stelle seiner Schwester angeboten. Ren bleibt, nicht nur, um dem Mord nachzugehen, sondern auch um die Handlungen von Keiko zu verstehen. Durch seinen Aufenthalt lernt er viel Neues über seine Familie und auch über sich selbst.

Der Roman ist in einer leisen, unaufgeregten Sprache geschrieben, obwohl ich erwartet hätte, dass Ren in Bezug auf den Mord aufgeregter gewesen wäre. Aber insgesamt erscheinen mir die Figuren der Geschichte ganz dem allgemein höflichen Stil der Japaner zu entsprechen, die ihre Mitmenschen im Allgemeinen nicht mit ihren Gefühlen belasten wollen. Dennoch bemerkte ich seine Trauer dadurch, dass seine Gedanken immer wieder zu seiner Schwester zurückkehren und er auch immer wieder den Tatort aufsucht. Clarissa Goenawan ließ mich in ihrer Geschichte am Alltag in Japan teilhaben. Ren lebt sich schnell ein und begegnet wiederkehrend einer Schülerin. Dabei konnte ich letztlich nicht nachvollziehen, warum er sich ihren Annäherungsversuchen nicht rigider entgegengesetzt hat entsprechend seiner Verantwortung. Überhaupt ist Ren vom Charakter her jemand, der sich gerne führen beziehungsweise verführen lässt. Eventuell lässt er sich als Reaktion auf den Auszug Keikos von zu Hause auf diese Weise treiben. Ohne sie hat er seine wegweisende Kraft verloren und jetzt auch die Hoffnung darauf, dass sie die Nähe zueinander wiederherstellen könnten.

Ein Hauch von Mystik legt sich über die Geschichte, wenn Ren über seine Träume spricht, in denen ihm immer wieder ein bezopftes Mädchen begegnet. Natürlich war ich neugierig, welcher Figur im Roman sie entspricht. Neben dem Rätsel um den Mörder von Keiko schafft Clarissa Goenawan durch diesen Erzählstrang eine weitere unterschwellige Spannung bis zur Aufklärung am Ende des Buchs.

„Rainbirds“ von Clarissa Goenawan überrascht mit einer unaufgeregten und dennoch ruhelosen Suche nach Erkenntnissen, einerseits um ein Verbrechen aufzuklären, andererseits um sich selbst zu finden. Der Roman brachte mir eine andere Kultur näher und zeigte mir die besondere Art von Zuneigung unter Geschwistern. Gerne empfehle ich daher dieses Buch.

Veröffentlicht am 06.07.2019

Unterhaltsamer, spannender und bewegender Roman, der im Jahr 1920 spielt

Mehr als die Erinnerung
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m Roman „Mehr als die Erinnerung“ nahm Melanie Metzenthin mich mit auf das fiktive Gut Mohlenberg in die 1920er Jahre. Auf dem Gut hat Dr. Meinhardt vor einigen Jahren eine Einrichtung für psychisch kranke ...

m Roman „Mehr als die Erinnerung“ nahm Melanie Metzenthin mich mit auf das fiktive Gut Mohlenberg in die 1920er Jahre. Auf dem Gut hat Dr. Meinhardt vor einigen Jahren eine Einrichtung für psychisch kranke Menschen errichtet. Die Patienten dort versuchen nach ihren Möglichkeiten, sich selbst zu versorgen. Das Coverbild illustriert, dass die Arbeitsgrundlage der Anstalt nicht nur die Erziehung zur Selbständigkeit ist, sondern den Hilfesuchenden Ruhe und Entspannung auf dem weitläufigen Gelände bietet. Der Titel verdeutlicht, dass es nicht nur auf schöne Erinnerungen ankommt, die man mit lieben Menschen teilt, sondern auch gemeinsame Empfindungen.

Friederike ist die Tochter des Gründers. Sie war eine der ersten Frauen, die in Heidelberg zum Medizinstudium zugelassen wurden. Dort begegnete sie ihrem späteren Ehemann, dem vormaligen Leutnant Bernhard von Aalen, der sich im Weltkrieg eine schwere Kopfverletzung zugezogen hat, die seine Erinnerungen beeinträchtigt. Friederike brach daraufhin ihr Studium ab, um ihren Mann zu pflegen. Beide wohnen auf Gut Mohlenberg. Eines Tages ersucht ein junger Mann um Arbeit. Er leidet unter den schweren Verbrennungen im Gesicht, die er sich ebenfalls im Krieg zugezogen hat. Seine Papiere sind zweifelhaft, doch schnell entsteht eine Freundschaft zwischen Bernhard und ihm. Kurz nacheinander geschehen zwei schreckliche Morde in der Nähe des Gutes. Es entstehen Gerüchte bei den Ortsansässigen und der Verdacht fällt auf einen Bewohner von Gut Mohlenberg. Friedericke glaubt nicht an die Vorwürfe und beginnt Fragen zu stellen, die nicht jedem Recht sind, weil sie an Begebenheiten heranreichen, die bewusst verschwiegen wurden.

Melanie Metzenthin flechtet in ihren Roman ein Stück Geschichte der Behandlung von psychisch Kranken ein. Sie greift die damaligen Begrifflichkeiten auf und beschreibt viele Behandlungsmethoden, die mich staunen ließen über die Mittel, die man zur Heilung der Psyche einsetzte. Als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie schafft sie es, die Erkrankungen der Patienten realistisch darzustellen. Mit viel Einfühlungsvermögen versetzt sie sich in ihre Figuren und lässt sie wirklichkeitsgetreu handeln. Neben den interessanten Einblicken in das medizinische Geschehen entwickelt die Autorin in ihrer Erzählung eine kriminelle Handlung, bei der sich der Spannungsbogen langsam steigert und bis zum Ende hält. Des Weiteren kommt auch die Liebe nicht zu kurz auf besondere Art in der gefühlvollen Zuneigung des Ehepaars von Aalen. Die Schilderung des Zusammenhalts von Frontsoldaten, unterschiedliche Auffassungen über medizinische Heilweisen und Frauen als Opfer von Männern, die ihre Fantasien ausleben und vertuschen sind Themen die den Roman auf spezielle Weise ausschmücken. Angenehm überrascht hat mich der Gastauftritt des noch jungen Richard Hellmer, einer Figur aus vorigen Romanen von Melanie Metzenthin.

Mit „Mehr als die Erinnerung“ schreibt Melanie Metzenthin einen unterhaltsamen, spannenden und bewegenden Roman über die Behandlung psychischer Erkrankungen in den 1920er Jahren und zeigt damit gleichzeitig, wie viel das Leben solcher Patienten zur damaligen Zeit wert war. Mir hat das Buch sehr gut gefallen und daher ich empfehle gerne an Leser historischer Romane weiter.

Veröffentlicht am 05.07.2019

Fiktive Geschichte der Donaubauer Lichtspiele in München - nah dran an der Realität (1926-1939)

Das Lichtspielhaus - Zeit der Entscheidung
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In ihrem Roman „Das Lichtspielhaus – Zeit der Entscheidung“ erzählt Heidi Rehn die Geschichte der fiktiven Familie Donaubauer und verknüpft sie eng mit der historischen Entwicklung des Kinos. Der Begriff ...

In ihrem Roman „Das Lichtspielhaus – Zeit der Entscheidung“ erzählt Heidi Rehn die Geschichte der fiktiven Familie Donaubauer und verknüpft sie eng mit der historischen Entwicklung des Kinos. Der Begriff Lichtspielhaus klang für mich antiquiert und richtigerweise führt die Erzählung mich in den Oktober 1926 als noch die bewegten Bilder im Vordergrund standen, zu denen Geräusche vor Ort geliefert wurden oder ein Ensemble die Stummfilme musikalisch untermalte. In Deutschland gab es damals zwei große Ateliers, in denen neue Filme gedreht wurden. Die großen Lichtspielhäuser konkurrierten um die Premiere. Zunehmend wurde um das Publikum mit immer neuen Ideen gebuhlt vor allem durch das Schaffen einer angenehmen Atmosphäre durch das Anbieten von Getränken und der bequemen Ausstattung des Saals sowie dem Aufrüsten durch neueste Technik.

Im Jahr 1926 verfügen die Donaubauer Lichtspiele inzwischen über fünf Filmtheater in und außerhalb von München. Geleitet werden sie von der verwitweten Zenzi, ihrem Sohn Karl und ihren Schwiegerkindern Elsa und Heinrich. Unvorhergesehen verlässt Karl aufgrund einer Liaison mit einer dunkelhäutigen Schönen seine Frau Elsa und seine beiden Töchter und lässt sich in den USA nieder. Doch Zenzi, Elsa und Heinrich führen die Lichtspielhäuser durch Höhen und Tiefen, die unter anderem bedingt sind durch die Einführung des Tonfilms und die sich ändernde politische Lage.

Die Trennung von Karl, kurz bevor sie 34 Jahre alt wird, kommt für Elsa sehr überraschend. Für ihn hat sie ihren Beruf aufgegeben und an seiner Seite in der Münchner Geschäftswelt Anerkennung erlangt. Kurz hat sie davon geträumt, eine kleine Rolle in einem Film zu spielen, doch jetzt setzt sie nicht nur ihren Verstand sondern auch ihr Herz dazu ein, die Donaubauer Lichtspiele in die Zukunft zu führen. Der Konkurrenzdruck zwingt sie, ständig auf dem neuesten Stand rund ums Kino zu bleiben. Dazu nutzt sie Informationen von persönlichen Kontakten und durch Zeitungen. Intern ist es nicht immer einfach zu dritt die Filmtheater zu führen, weil unterschiedliche Meinungen zu einer Entscheidung zusammengeführt werden müssen.

Auf gewohnt detailreiche Art führt Heidi Rehn durch das historische Geschehen. Ihrem Anspruch zu erzählen, wie es damals gewesen sein könnte, wird sie gerecht. Dank ihrer sehr guten Recherche wirken die beschriebenen Umstände auf dem Gebiet der Entwicklung der Filmtheater authentisch, die Lichtspiele entwickelten sich zum Publikumsliebling. In die Handlung lässt sie zahlreich Filme der entsprechenden Zeit einfließen. Ihre Charaktere haben Ecken und Kanten. Sie äußern ihre Ansichten und Handeln indem sie sich an ihren Interessen orientieren und dabei ihren eigenen Vorteil oder den ihrer Liebsten im Blick haben, zunehmend aber auch nach Kompromissen suchend mit den neuen Erlassen der politischen Führung. Natürlich ist der finanzielle Aspekt des Geschäftsbetriebs nie zu vernachlässigen. Bei Elsa und Zenzi bleibt jedoch auch immer der Wunsch bestehen, die Menschen bestens zu unterhalten und ihnen so eine Möglichkeit zu geben, dem Alltag zu entfliehen.

Die Geschichte reicht bis ins Jahr 1939. Zwischen den Kapiteln gibt es gelegentlich größere Sprünge von Monaten und Jahren. In diesen Fällen vermittelt die Autorin das, was inzwischen geschehen ist im Rückblick. Um den Anschluss zu erhalten, werden einige Male die Entwicklungen kurz in einigen Sätzen zusammengefasst. Durch die Detailtreue kommt es hier und da zu wenigen Längen. Schön fand ich es, im fiktiven, leicht umgestalteten München der Autorin auch das Kaufhaus aus ihrem vorigen Roman wiederzufinden. Mit Zenzi schafft Heidi Rehn eine Bayerin, die ihrem Dialekt treu bleibt, was manchmal den zügigen Lesefluss leicht unterbricht. Im Glossar am Ende des Buchs finden sich Erklärungen zu Begriffen aus der Welt des Films, zu bekannten Persönlichkeiten der damaligen Zeit, aber auch zu einigen Übersetzungen bayrischer Ausdrücke, die mir hilfreich waren.

Im Roman „Das Lichtspielhaus – Zeit der Entscheidung“ erzählt Heidi Rehn die fiktive, aber durchaus real mögliche Geschichte der Familie Donaubauer, die in den 1920ern zu den führenden Lichtspielbetreibern in München gehörte. Trotz vieler Krisen in der Branche, vor allem durch die Ansprüche der Besucher und den neuen politischen Erlassen sowie Missgunst und Streit innerhalb der Familie gelingt es ihnen ihr Gewerbe bis ins Jahr 1939 zu führen. Was in den kommenden Jahren geschehen wird, erzählt Heidi Rehn in der Fortsetzung, die im Frühjahr 2020 erscheinen wird. Ich empfehle das Buch vor allem an diejenigen, die Familienromane über mehrere Generationen mögen und interessiert sind an der Geschichte des Kinos.