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Veröffentlicht am 17.12.2018

Zum Träumen, zum Hoffen und zum Nachdenken

Die kleinen Wunder von Mayfair
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Im Buch „Die kleinen Wunder von Mayfair“ des Engländers Robert Dinsdale geschehen magische Dinge. Die Haupthandlung spielt in einem Spielzeugladen in London in den man auf dem Titelbild schon einen kleinen ...

Im Buch „Die kleinen Wunder von Mayfair“ des Engländers Robert Dinsdale geschehen magische Dinge. Die Haupthandlung spielt in einem Spielzeugladen in London in den man auf dem Titelbild schon einen kleinen Blick hineinwerfen kann.. Die Spielzeuge regen die Fantasie der Hersteller und Käufer so an, dass sie für die Bewunderer und Nutzer zum Leben erwachen. Auch als Leserin konnte ich mich darin verlieren.

Alles beginnt im November 1906 als die erst fünfzehnjährige Cathy aus der kleinen ostenglischen Stadt Leigh-on-Sea feststellt, dass sie von einem Nachbarsjungen schwanger ist. Ihre Eltern möchten, dass sie die Zeit bis nach der Geburt in einem Heim für alleinstehende, werdende Mütter verbringt und das Kind zur Adoption freigibt. In der Tageszeitung fällt ihr Blick auf die Stellenanzeige eines Spielwarenhändlers. Papa Jacks Emporium in London sucht zum sofortigen Beginn eine Aushilfe, Kost und Logis sind inbegriffen. Cathy läuft von zu Hauses weg und erhält die Anstellung. Neben dem Inhaber leben auch seine zwei Söhne Emil und Kaspar im Haus, die sich schon bald um die Gunst von Cathy bemühen.

Jedes Jahr vom ersten Frost an bis zum Erblühen der Schneeglöckchen öffnet das Spielwarengeschäft seine Pforten. Nicht nur Papa Jack, sondern auch seine Söhne stellen die Spielzeuge selbst her. Spielzeugsoldaten gehören zu den umsatzstärksten Artikeln des Geschäfts. Es vergeht kaum ein Tag an dem nicht Emil und Kaspar in einem anhaltenden Krieg seit ihrer Kindheit gegeneinander ihre Soldaten antreten lassen. Doch nachdem Kaspar seinen Dienst im Ersten Weltkrieg an der Front abgeleistet hat, ändert sich seine Einstellung zum Kriegsspiel, die Emil nicht nachvollziehen kann. Die Rivalität der beiden Brüder wächst und nimmt existenzielle Formen an.

Beim Lesen des Romans habe ich mich gefragt, warum das Kriegsspiel mit den Spielzeugsoldaten so viel Raum in der Geschichte einnimmt. Von Papa Jack und seinen Söhnen werden sie so wie fast jedes Spielzeug als Möglichkeit gesehen, sich auch im Erwachsenenalter an die Träume der Kindheit zu erinnern und auf diese Weise ein Stück einer angenehmen Episode im Leben wieder aufleben zu lassen. Aber es ist nicht nur ein Spiel, sondern steht auch als Platzhalter für die Kämpfe im Leben jedes Einzelnen. An einer Stelle des Buchs wird die weitere Entwicklung der Spielzeugsoldaten mit dem Kampf der Frauen für mehr Rechte verglichen. Doch der Kampf um den Sieg der Schlachten hat für die Brüdern Emil und Kaspar noch eine weitere Bedeutung.

Kaspar hat er im Ersten Weltkrieg die Realität hinter den feindlichen Auseinandersetzungen erlebt, die seinem Bruder, der den größten Teil seines Lebens die kleine Welt des Spielwarengeschäfts nicht verlassen hat, verschlossen bleibt. Emils Denken erweist sich als borniert. Schon immer waren die beiden Brüder ganz unterschiedliche Charaktere. Sie wetteifern jeweils auf ihre ganz eigene Weise um die Gunst von Cathy und um die ihres Vaters. Während Emil durch besonderes handwerkliches Geschick auffällt, hat Kaspar die besten visionären Fantasien. Kaspar lässt es sich nicht nehmen, gerade in den ruhigen Sommermonaten auch mal einen Tag in London zu verbringen. Für Emil ist es wichtig, ob er der bessere Spielzeugbauer der beiden ist, denn er glaubt unbegründet daran, dass nur der Beste von ihnen eines Tages vom Vater beerbt wird.

Neben den beiden unterschiedlichen Charakteren der Brüder beschreibt Robert Dinsdale mit Cathy, Papa Jack und weiteren einzigartige Figuren mit Ecken und Kanten. So wurde aus dem zu Beginn undurchschaubaren, kauzigen und eher brummigen Besitzer des Emporiums später ein Mann voller Mitgefühl und einer traurigen Vergangenheit. Cathy erweckte schnell meine Sympathie und sorgte durch ihr ausgeglichenes Wesen immer wieder für Bodenhaftung der Familienmitglieder ohne jedoch den Blick auf das Magische zu verstellen.

Der Roman endet erst im Jahr 1953. Robert Dinsdale brachte mich als Leser auf den dazwischenliegenden Seiten mit seinen Spielzeugideen zum Staunen, mit seiner Liebesgeschichte zum Hoffen und mit dem Kampf der Spielzeugsoldaten zum Nachdenken. Neben der Beschreibung von Begeisterung und Leidenschaft für eine Sache ist es auch eine Geschichte über die Notwendigkeit, schöne Erinnerungen wachzuhalten. Von Anfang an hat mich der Roman in seinen Bann gezogen und seine Faszination hat bis zum Schluss angehalten. Darum empfehle ich den Roman gerne an solche Leser weiter, die wie ich gerne hinter eine glänzende Fassade blicken wollen und zu träumen wagen.

Veröffentlicht am 13.12.2018

Unterschiedliche Zeitebenen und Erzählperspektiven machen den Roman abwechslungsreich

Die Tochter des Uhrmachers
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„Die Tochter des Uhrmachers“ von Kate Morton handelt auf mehreren Zeitebenen. Die Handlung beginnt in Birchwood Manor, einem Landhaus in England. Anfangs ist noch nicht ersichtlich, dass es sich bei der ...


„Die Tochter des Uhrmachers“ von Kate Morton handelt auf mehreren Zeitebenen. Die Handlung beginnt in Birchwood Manor, einem Landhaus in England. Anfangs ist noch nicht ersichtlich, dass es sich bei der Ich-Erzählerin um die Titelfigur handelt. Geheimnisvoll angehaucht ist ihre Andeutung der Geschehnisse des Sommers 1892 in dem eine Gruppe Künstler das Haus zum Malen und Dichten benutzte. Unerwartete Gäste trafen ein und ein Schuss wurde abgegeben. Den Grund für diese Handlung und wer sie ausgeführt hat wird erst nahezu am Ende des Buchs genannt.

In der Gegenwart entdeckt die 31-jährige Archivarin Elodie in einem Pappkarton, der jahrelang im Abstellraum gestanden hat, eine Aktentasche. Sie enthält neben anderen Dingen eine Dokumentenmappe, in der sich das Sepia-Foto einer jungen Frau findet. Außerdem enthält die Aktentasche ein Skizzenbuch aus dem ein Blatt Papier mit einer Liebesbekundung fällt. Eine Zeichnung im Buch fällt Elodie besonders ins Auge, ein Haus mit zwei Giebeln in der Nähe eines Flusses. Sie erinnert sich an eine Geschichte, die ihre verstorbene Mutter ihr als Kind erzählt hat, das darin vorkommende Haus entspricht genau der Zeichnung. Der Inhalt der Aktentasche geht Elodie nicht mehr aus dem Sinn. Hinter ihrer Neugier stehen sogar die Vorbereitungen zu ihrer Hochzeit zurück. Zu gerne möchte sie wissen, wer die Frau auf dem Foto ist und ob sie einen Bezug zu dem Haus in der Skizze hat. Außerdem ist es ihr wichtig zu erfahren, ob es die Landschaft aus der Geschichte ihrer Mutter tatsächlich gibt. Hat die Aktentasche einen Hinweis auf die Vergangenheit ihrer eigenen Familie enthalten?

Während Elodie sich anhand ihrer Entdeckungen auf die Suche nach Antworten begibt, springt die Geschichte immer wieder zu Birdie, der Tochter des Uhrmachers. Die Kapitel, in denen Birdie ihr spannendes Leben erzählt, sind mit römischen Zahlen getitelt, während über den Ereignissen in der Gegenwart arabische Ziffern stehen. Doch im Verlauf des Romans kommen weitere Zeitebenen hinzu. Charaktere, die zunächst nur eine Nebenrolle spielten, oder auch neue Figuren stehen dabei im Mittelpunkt. Ohne zu viel darüber preiszugeben, sei angedeutet, dass Birchwood Manor Ende des 19. Jahrhundert zu einem Mädchenpensionat wurde. Später zieht für einige Zeit ein Kunststudent ins Haus ein, der seine Doktorarbeit über den Maler Edward Radcliffe schreibt und im Zweiten Weltkrieg wird es zur Zuflucht für eine Witwe mit ihren Kindern.

Die Geschichte von Elodie verblasst, wenn Kate Morton sich immer mehr der Vergangenheit zuwendet. Dabei baut sie ihre Charaktere weiter aus und bindet sie in immer neue Abenteuer ein. Jede ihrer Figuren hat auf seine eigene Art Ecken und Kanten. Trauer und Freude sind mit Birchwood Manor verknüpft. Hier wird nicht nur gelebt, sondern auch gestorben und über allem liegt eine mysteriöse Legende. Die Autorin spinnt ihren Roman sehr geschickt, es dauert eine Weile bis sie ein Geheimnis preisgibt, dem sie sich auf unterschiedliche Weisen nähert und Motive für die jeweilige Handlung schildert. Allerdings zog sich die Geschichte dadurch im Mittelteil ein wenig. In einer ausdrucksstarken Sprache dreht der Roman sich immer wieder um Kunst und auch Poesie.

„Die Tochter des Uhrmachers“ zeigt wieder einmal die Stärke von Kate Morton als Geschichtenerzählerin. Die Verknüpfung unterschiedlicher Zeitebenen und Erzählperspektiven macht den Roman sehr abwechslungsreich und einzigartig. Über allem liegt ein Hauch von Magie. Mir hat das Buch gut gefallen und ich empfehle es an Leser von Familiengeschichten mit Geheimnissen, die gerne ihre Fantasie spielen lassen, weiter.

Veröffentlicht am 12.12.2018

Eine historische Figur wird lebendig

Die Dame in Gold
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„Die Dame in Gold“ von der französischen Autorin Valérie Trierweiler beschreibt das Leben von Adele Bloch-Bauer, einer Muse des berühmten Malers Gustav Klimt, die in Wien lebte. Das Buch erscheint in der ...

„Die Dame in Gold“ von der französischen Autorin Valérie Trierweiler beschreibt das Leben von Adele Bloch-Bauer, einer Muse des berühmten Malers Gustav Klimt, die in Wien lebte. Das Buch erscheint in der Serie „Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe“ des Aufbau Verlags. Bei der Umschlaggestaltung findet die Kunst Klimts Eingang in der Umrandung der oberen Hälfte des Covers. Der Roman führte mich in der Zeitgeschichte über einhundert Jahre zurück.

Adele Bloch-Bauer war glücklich mit einem Zuckerfabrikanten verheiratet. Sie verlor zwei ihrer Kinder bereits während der Schwangerschaft, eines sehr kurz nach der Geburt und blieb kinderlos. Das Paar führte einen Salon, in dem sich unter anderem Künstler aus Wien gerne trafen. Ihr Mann förderte einige von ihnen, darunter auch Gustav Klimt, dessen Stil er besonders mag und ihn daher darum bat, seine Frau zu porträtieren. In vielen Sitzungen, bei denen Gustav Klimt zunächst skizzierte und später dann auf seine ganz eigene Weise malte, sympathisierten er und Adele nicht nur miteinander, sondern kamen sich schließlich auch körperlich näher. Klimt gelingt es, Adele wieder Freude am Leben zu schenken und ihr Mut für die Zukunft zu geben.

Obwohl Adele von ihrem Mann geliebt und von Freunden und Familie geschätzt wird, lässt sie die fehlende Mutterrolle beinahe verzweifeln. Die räumliche Nähe zu den Kindern ihrer Schwester lässt sie neidisch sein. Den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit unterworfen gibt es für sie kein Entfliehen aus den an sie gestellten Erwartungen als Gattin eines Unternehmers. Durch die langen Gespräche mit Gustav Klimt lernt sie die Welt aus einer anderen Perspektive kennen. Ihr Bewusstsein öffnet sich für neue, moderne Ansichten. Sie fühlt sich ihm ebenbürtig und entwickelt dadurch mehr Selbstwertgefühl.

Das Ehepaar Bloch-Bauer spürt deutlich die Auswirkungen der geschichtlichen Entwicklungen vor allem die des ersten Weltkriegs. Valérie Trierweiler lässt Dank ihrer sehr guten Recherche die damalige Zeit realistisch wieder aufleben. Fehlende Fakten ergänzt sie durch ihre Fantasie. Mit viel Einfühlungsvermögen gibt die Autorin den Fakten hinter der historischen Figur nachvollziehbare Gefühle. Auf diese Weise konnte ich mir Adele sehr gut in ihrem Umfeld vorstellen. Die Autorin schildert unter anderem anschaulich auch die Entstehung eines der berühmtesten Bilder Klimts, nämlich „Adele Bloch-Bauer I“, kurz „Die goldene Adele“, das zu den teuersten Gemälden der Welt zählt. Immer wieder habe ich mir das Bild aufgerufen und angesehen, um den Malstil von Klimt zu bewundern.

Valérie Trierweiler lässt mit ihrem Roman „Die Dame in Gold“ Geschichte wieder lebendig werden. Ihr Schreibstil ist angenehm leicht lesbar und unterhaltsam. Wer es mag, über historisch verbürgte Frauen zu lesen und die bisherigen Bücher der Reihe im Aufbauverlag mochte wird auch mit diesem Buch wieder die richtige Lektüre finden.

Veröffentlicht am 10.12.2018

Unterhaltsam mit aktueller Handlung

Unter Wasser
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„Unter Wasser“ ist der fünfte Fall für den Hamburger Hauptkommissar Adam Danowski aus der Feder von Till Raether. Adam gehört etwa ein Jahr nach den Ermittlungen, die im vorigen Band „Neunauge“ stattfanden, ...

„Unter Wasser“ ist der fünfte Fall für den Hamburger Hauptkommissar Adam Danowski aus der Feder von Till Raether. Adam gehört etwa ein Jahr nach den Ermittlungen, die im vorigen Band „Neunauge“ stattfanden, immer noch zur Abteilung „Operative Fallanalyse“ des Landeskriminalamts. Bei einem gemeinsamen Abendessen mit seinen früheren Kollegen Meta und Finzi erfährt er von der neu gegründeten permanenten Sonderkommission Sexualisierte Gewalt, die Meta leiten wird. Nach kurzem Überlegen willigt Adam ein, die Kommission mit seiner Arbeit zu unterstützen. Die Räumlichkeiten befinden sich in der Nähe der Speicherstadt, von der ein Teil auf dem Cover abgebildet ist. Der Titel bezieht sich allerdings auf ein Schwimmbad in dem die Youtuberin Sibil Schwab, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Billie Swopp, entführt wird. Das Besondere am aktuellen Fall ist, dass Adam mit seiner jüngeren Tochter während der Tat vor Ort war. Bald schon kommt der Verdacht auf, dass Billie die Tat fingiert hat um ihre Klickrate und die Followerzahlen zu verbessern. Doch dann geht eine Lösegeldforderung ein, begleitet von einer Drohung, die kaum mehr an einen Scherz glauben lässt.

Diesmal dreht sich ein großer Teil der Handlung rund um Billie und ihrer Tätigkeit als Youtuberin, die von zwei Nerds bei der Vermarktung unterstützt wird. Im Privatleben von Adam Danowski konnte ich mehr über das Zusammenleben mit seinen beiden Töchtern Martha und Stella, inzwischen 10 und 13 Jahre alt, und den Umgang miteinander erfahren. Adam setzt sich wie andere Eltern auch mit den Chancen und Gefahren der Sozialen Medien auseinander und fragt sich, wie viel Umgang damit für jedes Kind passend ist.

Diesmal legt der Autor zwar eine falsche Fährte zu dem Täter oder den Tätern, aber nur für die Ermittler. Als Leser erfuhr ich von Billies Plänen, doch bis zuletzt blieb für alle offen, ob es sich um „Prank“, also einen Streich handelt oder die Entführung und deren Folgen ernst zu nehmen sind. Die Schilderung nimmt einiges von der heutigen Jugendsprache auf. Die Dialoge der jungen Leute waren daher für mich nicht immer leicht zu verstehen. Till Raether schreibt wie immer in einem unterhaltsamen Stil mit leicht lakonischem und amüsantem Unterton. Die Handlung ist aktuell und wirkt realistisch. Wer die Adam Danowski-Reihe mag, ist auch bei dem fünften Fall richtig.

Veröffentlicht am 05.12.2018

Beeindruckende Autobiographie, intensiv und bewegend

Befreit
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„Befreit – Wie Bildung mir die Welt erschloss“ ist die Autobiographie der heute 32-jährigen Amerikanerin Tara Westover. Sie ist dahingehend ungewöhnlich, weil die Autorin in den Bergen Idahos ohne Schulbesuch ...

„Befreit – Wie Bildung mir die Welt erschloss“ ist die Autobiographie der heute 32-jährigen Amerikanerin Tara Westover. Sie ist dahingehend ungewöhnlich, weil die Autorin in den Bergen Idahos ohne Schulbesuch aufgewachsen ist und dennoch den Weg über die Universität bis hin zum Doktortitel geschafft hat. Befreit hat sie sich in dieser Zeit von den Glaubensgeboten und Leitsätzen, die hauptsächlich ihr fundamentalistisch denkender Vater ihr gesetzt hat, der von ihrer Mutter und einem Teil ihrer sechs älteren Geschwister unterstützt wird. Um einige Personen zu schützen, hat sie teilweise deren Namen geändert.

Tara wächst in einer ländlichen Umgebung auf. Ihre drei ältesten Brüder haben einige Jahre die Schule besucht, doch dann haben die Eltern beschlossen, ihre Kinder selbst zu unterrichten. Es gibt keine festgelegten Lehrstunden, oft lernen die Kinder ganz nebenher durch Erklären von Alltäglichem und näherem Betrachten von Bekanntem und Unbekanntem. Taras Vater Gene betreibt einen Schrotthandel und schon früh wird sie zur Mitarbeit aufgefordert. Auch ihrer Mutter Faye ist sie behilflich im Haushalt und bei der Herstellung verschiedener Kräuterheilmittel. Im Laufe der Jahre passieren mehrere schwere Unfälle in die mindestens eins der Familienmitglieder involviert ist. Doch ein Arztbesuch ist kostspielig und Gene setzt auf die Vorsehung zur Heilung und Naturheilstoffe. Der Vater steigert sich in einige religiöse Ansichten hinein und dringt auf deren Einhaltung, notfalls auch mit Gewalt. Faye stellt sein Verhalten nicht in Frage. Erst viel später erfährt sie, dass Gene eine psychische Erkrankung hat.

Tara Westover setzt sich in ihrer Biografie kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinander. Sie beschönigt nichts. Als Kind blieb ihr viel Raum, ihre Umwelt auf eigene Faust zu entdecken. Bis auf Anstandsregeln, die hauptsächlich ihre Kleidung betrafen, und religiösen Wertvorstellungen waren ihr kaum Grenzen gesetzt. Doch sie hat auch gelernt, dass jedes Familienmitglied so früh wie möglich dabei helfen muss, die Existenz zu sichern. Aus ihrer Sicht als erwachsene Frau, versucht sie die Handlungen ihrer Eltern zu verstehen, denn allein mit einer fundamentalistischen Glaubenseinstellung sind nicht alle Entscheidungen von ihnen zu begreifen. Gerade auch die Gewalt, die einer ihrer Brüder ihr gegenüber ohne das Einschreiten von Vater oder Mutter zeigt, bleibt unfassbar. Und dennoch fällt ihr die Ablösung vom Elternhaus schwer, denn hier reicht ihr Wissen für Haushalt, Kräuterherstellung und die Arbeit auf dem väterlichen Schrottplatz ohne sich mit anderen messen zu müssen. Die Gewohnheit gibt ihr auf eine gewisse Art Sicherheit. Und sich von der Liebe ihrer Eltern zu lösen, die doch da ist, aber sich nicht in der den meisten bekannten Weise äußert, fällt der Autorin schwer. Überhaupt war es für mich als Leserin nicht immer einfach, die Handlungen und Ansichten der Familienmitglieder nachzuvollziehen.

Ohne Groll blickt Tara Westover auf die vergangenen Jahre zurück. Sie definiert nicht nur die Schattenseiten, sondern teilt mit ihren Lesern viele glückliche Momente, die sie in einer gefühlvollen, ausdrucksstarken Sprache erzählt. Sie sucht den Kontakt zu Personen außerhalb der Familie und mit deren Hilfe und der Unterstützung ihrer Brüder öffnet sich ihr Blick und weitet sich ihr Verstand. Ihre Neugier auf das Leben außerhalb der Familie wächst und mit ihrer Persönlichkeit macht sie auf sich aufmerksam und nimmt immer mehr Personen für sich ein. Das gibt ihr Kraft und Stärke und ihre Unsicherheit verliert sich zunehmend. Für mich war es beruhigend, darüber zu lesen.

Tara Westovers Autobiographie ist beeindruckend. Entspräche ihre Geschichte nicht den Tatsachen hätte ich an einigen Stellen innegehalten und die Fiktion für unrealistisch erklärt. Die Schilderungen der Autorin sind intensiv und bewegend. Der Lebensweg der Autorin ist lesenswert und wird mir noch lange in Erinnerung bleiben.