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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.02.2019

Mit Verve und Witz hinter die vom Adel gezogene Fassade blicken

Schund und Sühne
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Anna Basener schreibt in ihrem Roman „Schund und Sühne“ über das, womit sie sich bestens auskennt. Einerseits ist es das Schreiben von Groschenromanen, andererseits die Welt des Adels über den sie in den ...

Anna Basener schreibt in ihrem Roman „Schund und Sühne“ über das, womit sie sich bestens auskennt. Einerseits ist es das Schreiben von Groschenromanen, andererseits die Welt des Adels über den sie in den von ihr verfassten Fürstenromanen geschrieben hat. Ihre Protagonistin nennt sie Kat, als Abkürzung ihres eigenen Alter Egos, dem Pseudonym unter dem sie Romanhefte geschrieben hat.

Kat ist 34 Jahre alt und erhält als Nachrückerin unerwartet ein Literaturstipendium auf Schloss Rosenbrunn. Dort erwarten sie die Mitglieder der Fürstenfamilie Schell von Ohlen. Zwar liegt ihr Gästezimmer in einem Kavaliersgebäude, doch es ist ausdrücklich erwünscht, dass sie am Alltag der Familie teilnimmt. Auf diese Weise lernt sie den Hausherrn Fredi näher kennen, vor allem aber seine bereits erwachsenen Kinder Josephine, genannt Seph, und Valerius, kurz Valu gerufen, sowie seine Frau Follie und deren Schwester Gratzi. Während Valu sich aufgrund seiner Gesinnung um sein Erbe sorgt, sucht Seph nach einer Enttäuschung verzweifelt nach einem Ehemann bis ihr Moritz, ein junger Biologe auf weltrettender Mission, Aufmerksamkeit schenkt.

Der Roman springt zwischen Szenen, in denen Kat als Ich-Erzählerin auftritt und solchen, die ein allwissender Erzähler beschreibt. Kat vergleicht in ihren Passagen das Gesehene mit ihrem bisher erworbenen Wissen über den Adel. Dabei gibt sie gerne das Gelernte weiter. Auf diese Weise erfuhr ich als Leserin mehr über die Benimmregeln der Adeligen, aber auch über das Schreiben von Groschenromanen.

Anna Basener schreibt ohne Hemmungen und scheut auch vor drastisch geschilderten Szenen nicht zurück. Obwohl ich ihren Figuren durch diesen besonderen Stil nicht immer Verständnis entgegen bringen konnte, versteht sie es, die in den Charakteren verborgenen Gefühle an die Oberfläche zu bringen. Sie beschreibt eine althergebrachte Gesellschaftsform im heutigen Gewand. Ihre Darstellung hält dem Vergleich mit der Realität durchaus Stand, wenn auch mit einem zwinkernden Auge. Aber sie schneidet auch die verborgenen Sorgen und Nöte der Jetztzeit an, die hinter dem Glanz der Standesangehörigen zu finden sind, die in teuer zu unterhaltenden Gebäude mit großen Anlagen wohnen und oft den alten Zeiten nachhängen.

Mit viel Verve und Witz hat Anna Basener einen unterhaltsamen Roman über die Welt des Adels mit seinen Klischees geschrieben, der sich im Verlauf zunehmend überspitzt und nach meiner Ansicht zum Ende hin auch etwas überkompensiert. Wer sich gerne über gesellschaftlichen Dünkel in einem Roman, der auch ein wenig die Fassade lüftet, amüsieren möchte dem empfehle ich „Schund und Sühne“.

Veröffentlicht am 30.01.2019

Wunderschöne Landschaft, abwechslungsreiche Charaktere und ein Hauch von Mystik

Der Herzschlag der Steine
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Beim Lesen des Romans „Der Herzschlag der Steine“ von der deutschen Autorin Isabel Morland bin ich, wie bereits in der Geschichte ihres vorigen Buchs „Die Rückkehr der Wale“, gedanklich wieder nach Schottland ...

Beim Lesen des Romans „Der Herzschlag der Steine“ von der deutschen Autorin Isabel Morland bin ich, wie bereits in der Geschichte ihres vorigen Buchs „Die Rückkehr der Wale“, gedanklich wieder nach Schottland gereist auf die Insel Lewis and Harris in den Äußeren Hebriden. Hier leben etwa 21.000 Einwohner auf 2.170 Quadratkilometer. Touristen finden Ruhe und Entspannung, aber auch Traditionen und Kultur, beispielsweise alte Steinkreise. Es ist der perfekte Ort für eine romantische Liebesgeschichte mit einem Hauch Mystik, wie die Protagonistin Ailsa sie erlebt.

Ailsa ist auf Lewis aufgewachsen und lebt seit ihrem Studium in Toronto in Kanada. Gemeinsam mit ihrem Ehemann betreibt sie dort ein Immobilienbüro. Inzwischen ist sie Mitte 30 und nach dem Auszug der Mieter des elterlichen Hauses in ihrer Heimat, beschließt Ailsa es an einen englischen Investor zu verkaufen. Ihr Jugendfreund Blair hat dagegen Einwände und bittet sie in einem Telefonat zur Klärung der Umstände um ihren Besuch auf der Insel, dem sie widerwillig folgt. Doch kaum ist sie auf Lewis angekommen wird sie von Erinnerungen an ihre Jugend eingeholt. Als sie Grayson begegnet, ihrer damaligen Liebe, geraten ihre Gefühle in Konflikt und damit verbunden steht plötzlich ihr ganzes Leben auf dem Prüfstand. Mit Blair und Grayson hatte sie als Jugendliche zwei Vertraute an ihrer Seite, die auch jetzt nach all den Jahren den damals beim Buhlen um ihre Gunst entstandenen Streit nie ganz beigelegt haben.

Im Prolog beschreibt Isabel Morland das Ritual der Inselbewohner zum seltenen Ereignis bei dem einer Legende entsprechend der Vollmond auf die Erde herabsteigt. Zum Ende hin sind die Wut und die Enttäuschung zweier unbenannter Männer in ihrer Gegnerschaft deutlich spürbar. So nahm ich als Leser die Frage in die Erzählung mit hinein, worüber die beiden Personen erbost waren. Bald schon zeichnete sich eine Antwort ab, doch ein Bild der gesamten Situation konnte ich mir erst kurz vor Buchende bilden. Bei Ailsas Ankunft auf Lewis steht die Wiederholung des Rituals bald bevor und viele der Bewohner sind bereits mit den Vorbereitungen beschäftigt. Die Autorin versteht es die Anspannung vor dem großen Ereignis sehr gut einzufangen und wiederzugeben. Ebenso gut vermittelt sie einen Eindruck der Landschaft mit Schafherden und den traditionellen Blackhouses. In ihren Beschreibungen spürt man ihre Leidenschaft für die Insel, deren Kultur und Brauchtümern.

Auch ihre Charaktere fügen sich nahtlos in die Umgebung ein. Isabel Morlands Figuren konnte ich mir so wie beschrieben dort in der Realität vorstellen. Ailsa, Blair und Grayson zeigen in ihrer Wandelbarkeit, dass verschiedene Ansichten den Menschen beeinflussen und zum Umdenken bewegen oder ihn in seiner Meinung bestärken können. Jeder der Protagonisten hat seine sympathische, aber auch eine unangenehme Seite. Einige unerwartete Wendungen und ein Hauch Mystik gestalten die Geschichte ansprechend und unterhaltsam. Liebe, Leid, Eifersucht und Wut bringen die Charaktere zum Ausdruck. Es gibt aber auch genügend aus Situationen hervorgehende, amüsante Szenen.

„Der Herzschlag der Steine“ ist in einem leicht lesbaren Schreibstil geschrieben. Der Roman gefällt mir durch die abwechslungsreich gestalteten Figuren und der dezenten Mystik noch besser als „Die Rückkehr der Wale“. Menschen und Landschaft weckten in mir den Wunsch, sie bei einem Besuch näher kennenzulernen. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Veröffentlicht am 28.01.2019

Auf das Wesentliche beschränkte Sprache mit ausdrucksstarken Sätzen und einer Prise Humor

Agathe
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Der Roman „Agathe“ von Anne Cathrine Bomann ist der erste Titel im neuen Programm „hanserblau“ des Hanser Verlags. Hanserblau steht für ein populäres und breitenwirksames Leseangebot und das vorliegende ...

Der Roman „Agathe“ von Anne Cathrine Bomann ist der erste Titel im neuen Programm „hanserblau“ des Hanser Verlags. Hanserblau steht für ein populäres und breitenwirksames Leseangebot und das vorliegende Debüt der dänischen Autorin passt hervorragend in den vorgegebenen Rahmen.

Agathe Zimmermann ist die Titelfigur des Romans. Sie ist Deutsche, 38 Jahre alt, lebt seit ihrer Studienzeit in Paris und ist verheiratet mit einem Franzosen. Im Jahr 1948 kommt sie in die Praxis eines 71-jährigen unbenannten Psychiaters, dem Protagonisten und Ich-Erzähler des Buchs, und ersucht ihn um Hilfe bei ihren Problemen.

Der Psychiater bereitet sich gerade auf seinen Lebensabend vor. Er hat die täglichen Patientenstunden mit den verbleibenden Wochen seiner Berufszeit multipliziert, zählt in regelmäßigen Abständen die ausstehenden Gespräche bis ihm nur zu deutlich bewusst wird, dass er keine weiteren Pläne für den Ruhestand besitzt. Während er routinemäßig seine Stunden abhält zeigt sich zunehmend vor ihm ein bodenloser Abgrund, in den er zu stürzen droht. Erst nachdem er Agathe wider seinem Willen als Patientin aufgenommen und seine langjährige Sekretärin aus persönlichen Gründen eine mehrwöchige Auszeit genommen hat verändert sich sein Denken.

Schon durch die erste Szene machte ich mir ein Bild vom alternden Psychiater als ein in seiner eigenen Welt erstarrter Mensch, der nach seinem täglichen Rhythmus lebt und arbeitet, seine Freizeit aber unscheinbar und angepasst verbringt. Und sogar in seiner Praxis sitzt er während der Gespräche immer am Kopfende der Behandlungsliege, nicht sichtbar für seine Patienten. Im Laufe der Jahre hat er immer mehr Abstand zum Leben außerhalb seiner Praxis genommen, geht keinem genannten Hobby nach und gleichzeitig haben sich seine Gefühle für seine Mitmenschen auf das Wesentliche, meist berufsmäßig, reduziert. Agathe bringt etwas in ihm zum Klingen. Ihre Erzählung berührt ihn tief im Inneren und öffnet ihn für das Kommende. Konnte ich von Beginn an verfolgen, wie er zunehmend aufgrund seiner festgefahrenen Verhaltensweisen von sich selbst angewidert ist, so blitzt schließlich ein Funken Motivation zur Änderung seiner Handlungen in ihm auf.

Um die Distanz zu wahren und aus purer Langeweile zeichnet der Psychiater während seiner Sitzungen Vogelkarikaturen seiner Patienten. Eine davon ist ein Spatz, die er mit der Titelfigur in Verbindung bringt und die daher das Cover des Buchs schmückt. Der Roman hat zwar ein historisches Setting doch seine Aussagen sind allgemeingültig.

Anne Cathrine Bomann ist selbst Psychologin. In die skizzierten Gespräche fließt vermutlich eigene Erfahrung ein, denn sie wirken authentisch. Sie benutzt eine auf das Wesentliche beschränkte Sprache mit ausdrucksstarken Sätzen und einer Prise Humor. Dadurch brachte sie mich als Leser sehr nah ran an die existenziellen Fragen des Lebens, vor allem nach der, welche Bedeutung wir uns selber zugestehen. Die Geschichte stimmt nachdenklich über unsere eigenen Ängste und die Rolle der von uns eingegangenen Beziehungen im Zusammenspiel mit unserem Selbstwert. Über allem liegt eine gewisse Leichtigkeit mit der die Autorin eine nahe Zukunft vermittelt voller Hoffnung unter der Voraussetzung, sich auf Neues einzulassen. Das Ende der Geschichte bringt Unerwartetes mit sich. Gerne empfehle ich den Roman weiter.

Veröffentlicht am 25.01.2019

Ein Sommer der ersten Erfahrungen

Der Sommer meiner Mutter
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Schon der erste Satz des Romans „Der Sommer meiner Mutter“ von Ulrich Woelk weckte mein Interesse in besonderer Weise, denn darin steht, dass die titelgebende Erziehungsberechtige kurz nach der ersten ...

Schon der erste Satz des Romans „Der Sommer meiner Mutter“ von Ulrich Woelk weckte mein Interesse in besonderer Weise, denn darin steht, dass die titelgebende Erziehungsberechtige kurz nach der ersten Mondlandung Selbstmord begangen hat. Von diesem Zeitpunkt an wollte ich wissen, unter welchen Umständen das geschah und natürlich warum. Doch auf die Antworten zu meinen Fragen musste ich bis fast zum Schluss der Geschichte warten. Bis dahin konnte ich eintauchen in das Geschehen am Ende der 1960er und dem Lebensstil der gehobenen Mittelschichtbürger in einem Vorort Kölns.

Der Roman wird aus der Sicht des bald 11-jährigen Tobias erzählt, der mit seinen Eltern ein Haus mit moderner Ausstattung am Rand der Großstadt bewohnt. Er ist ein großer Fan der Raumfahrt und verfolgt voller Neugier und Faszination die Berichte über die damaligen Apollomissionen im Fernsehen. Zunächst schenkt er dem Zuzug neuer Nachbarn wenig Interesse, doch sehr bald lernt er deren Tochter kennen, die 13-jährige Rosa. Die gesellschaftlichen und politischen Ansichten von Rosas Eltern sind links politisch und zeigen Tobias ein anderes Weltbild auf. Das Mädchen weckt in ihm ganz neue Gefühle. Aber nicht nur für Tobias wird es ein Sommer der erstmaligen Erfahrungen, sondern auch für seine Eltern mit einer unfassbaren Konsequenz, die seine Mutter zieht.

Ulrich Woelk versteht es die aufgeregte Stimmung in der Zeit vor der ersten Mondlandung einzufangen und an den Leser weiterzugeben. Als früherer Astrophysiker gibt er entsprechende interessante Erklärungen zum Umfeld, ohne zu sehr in technische Details zu gehen. Die gewählte Erzählperspektive aus der Sicht des Jungen gestattet ihm einen unvoreingenommenen Blick auf die kommenden großen Weltereignisse wie aber auch auf den Mikrokosmos der Familie und ihrer Freunde.

Schon auf der ersten Seite fühlt man den Stolz von Tobias auf seinen Vater, den Ingenieur, der den Bau des komfortablen Eigenheims ermöglicht hat. Seine Mutter ist, wie es damals üblich und vom Gesetz gestützt wird, nur für den Haushalt zuständig und fühlt sich dadurch weder ausgelastet noch findet sie dafür Anerkennung. Für Tobias steht diese Rolle gar nicht in Frage. Erst durch die Berufstätigkeit der Nachbarin und den Bemühungen der Mutter in dieser Richtung gerät sein vom Vater gestütztes Bild der Frau im öffentlichen Leben ins Wanken.

Der Erzählstil des Ich-Erzählers entspricht dem eines heranwachsenden Jungen, der über manche Entdeckungen staunt und über alles Erlernte und Erfahrene stolz ist, weil er darüber den wissenden Erwachsenen wieder etwas ähnlicher geworden ist. Dadurch erhält der Roman eine gewisse Leichtigkeit und sorgt für einige amüsante Szenen. Ulrich Woelk ist selbst in einem Kölner Stadtteil in den 1960ern aufgewachsen ist und vermittelte ein authentisches Flair der damaligen Zeit und der rheinischen Lebensart, die ich selber als Rheinländerin auch kenne. Manchmal konnte ich vergessen, dass der Roman nur eine Fiktion ist und sah dabei den Autor in der Rolle des Biografen.

In dieser Geschichte eines am Beginn der Pubertät stehenden Jungen verbirgt sich einiges an Tiefgang zu Themen der Gesellschaftspolitik, die durch die Unbedarftheit des Ich-Erzählers aufgeworfen werden. Es sind Themen darunter, allen voran die Stellung der Frau in der Gesellschaft, die bis heute aktuell sind. Gerne habe ich mich noch einmal zurück erinnert sowohl in Bezug auf die Historie wie auch an die frühen Jugendjahre und der damit verbundenen Erweiterung des eigenen Horizonts, so wie Tobias sie erfährt. Gerne empfehle ich daher den Roman uneingeschränkt weiter.

Veröffentlicht am 16.01.2019

Über Freundschaft und Liebe mit vielen unvorhersehbaren Wendungen

Den Himmel stürmen
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Paolo Giordano schreibt in seinem Roman „Den Himmel stürmen“ über vier Jugendliche, die beim Heranwachsen einen Weg suchen, im Einklang mit Mensch, Tier und Pflanzenwelt zu leben. Mit teilweise hohem körperlichem ...

Paolo Giordano schreibt in seinem Roman „Den Himmel stürmen“ über vier Jugendliche, die beim Heranwachsen einen Weg suchen, im Einklang mit Mensch, Tier und Pflanzenwelt zu leben. Mit teilweise hohem körperlichem Einsatz und dem Wissen über Zusammenhänge in der Natur streben sie nach einem unabhängigen Leben, dem entsprechend dem Titel kaum Grenzen gesetzt scheinen. Die Erzählung beginnt im Jahr 1993 als die 14-jährige Protagonistin und Ich-Erzählerin Teresa Gasparro aus Turin/Italien wie in jedem Sommer ihre Ferien auf dem Anwesen ihrer Großmutter in Apulien verbringt. Als Leser konnte ich die Geschichte der vier Freunde über die kommenden Jahre bis 2015 verfolgen.

In einer lauen Sommernacht lernt Teresa die wenig älteren Jungen Nicola, Bern und Tommaso kennen, die auf dem benachbarten Hof wohnen. Bald schon ist Teresa jeden Tag zu Gast bei den Nachbarn, hilft bei der Arbeit und verbringt dort ihre Freizeit. Sie findet hier ein Leben vor, das sich um vieles von dem Stadtleben zu Hause in Turin unterscheidet. Die vier Jugendlichen werden untereinander so vertraut, dass auch die Schamgrenze fällt und sie unbeschwerte Nähe genießen. Zu Bern fühlt sie sich ein paar Jahre später ganz besonders hingezogen. Beide entwickeln mehr als freundschaftliche Gefühle füreinander, was von den anderen Brüdern mit unterschiedlichen Empfindungen aufgenommen wird. Vorbereitungen auf einen schulischen Abschluss und einen zukünftigen Beruf bringen große Veränderungen mit sich. Eine Trennung und ein Erbe werden in den kommenden Jahren für Teresa zum Schicksal, das sie wieder nach Apulien und zu den Freunden führen wird.

Obwohl es im Roman vier Protagonisten gibt, verweilt die Handlung bei Theresa als Ich-Erzählerin und durch ihre Nähe zu Bern widmet der Autor auch ihm eine erhöhte Aufmerksamkeit. Erst aus der Retrospektive und einigen Gesprächen heraus ist es Teresa möglich von den Geheimnissen zu erfahren, die die Jungen untereinander geteilt oder auch für sich behalten haben. Ebenso haben ihre leiblichen beziehungsweise Pflegeeltern Heimlichkeiten vor ihren Söhnen gehabt. Vieles davon erfährt Teresa von Tommaso, dem jüngsten der Brüder im ersten von drei Teilen des Romans. In diesem ersten Teil beschreibt die Ich-Erzählerin die Sommer ihrer Kindheit in Apulien. Danach erfolgt ein Sprung an das Ende der Geschichte, was mir als Leser aber zunächst nicht bewusst war. Teresa hat Tommaso einen Gefallen erwiesen und erfährt im Gegenzuge einen Teil der Geschichte aus seiner Sicht. Erst hierdurch wird die tiefe Beziehung der Jungen untereinander nicht nur für Teresa sicht- und spürbar. Im zweiten und dritten Teil geschehen sehr viele unvorhersehbare Ereignisse und es treten Wendungen auf, die mich in ihren Bann zogen. Durch immer mehr Details werden zum Schluss des Buchs die aufgeworfenen Fragen beantwortet.

Vom Leben der Familie auf dem Nachbarhof war Teresa von Beginn an fasziniert, weil es in starkem Kontrast zu ihrem eigenen städtischen in Turin stand. Zu dem Verstandesmenschen Bern, der dazu aber tief in seinem Glauben verwurzelt ist, fühlt sie sich in besonderem Maße hingezogen. Er ist es, der damit beginnt, die Dinge zu hinterfragen, der seine Skepsis äußert und erwägt seine Grenzen auszuloten. Bern hat nie, wie die beiden anderen Jungen, einen Grund gehabt den Hof zu verlassen, für ihn öffnet sich durch die Literatur eine eigene Welt, die er sich vorgestellt hat und selbst erkunden möchte. Zunächst befriedigen ihn jedoch der Wissenserwerb und seine Liebe zu Teresa. Als es zu einem Bruch in der Beziehung kommt, nimmt er wie zum Trost und aus Trotz sein Ziel der Selbstverwirklichung wieder auf.

Der Autor besitzt einen Schreibstil, der die Figuren und die Welt in der sie leben dem Leser sehr nahe bringt. Ich glaubte die Hitze zu spüren und den Schweiß der erhitzten Gemüter im Einsatz für eine gemeinsame Sache. Durch den fehlenden Schulbesuch war es nicht immer einfach für die Brüder sich im Alltag außerhalb der geschützten Umgebung zurechtzukommen. Schnell konnten sie für Sachen begeistert werden. Die gesetzten Ziele wurden jedoch immer größer und die Mittel zu ihrer Umsetzung immer radikaler, der Himmel erschien greifbar. Aus dem gemeinsamen Schaffen kristallisiert jeder sich mit seinen Stärken als Individualist. Es gelingt Paolo Giordiano diese Entwicklung nachvollziehbar darzustellen. Dabei schneidet der Autor viele Themen an, die er ohne zu werten darstellt. Der Roman führt zu einem Fiasko am Ende, doch mit einem geschickt gesetzten weiteren Ereignis ließ er mich als Leser mit einem kleinen Funken Freude zurück.

Im Buch „Den Himmel stürmen“ überzeugt Paolo Giordano mit gut ausformulierten, interessanten Charakteren und vielen ereignisreichen unerwarteten Wendungen in einer Geschichte über die Schattierungen von Freundschaft und Liebe, die vielschichtig dargestellt wird. Mich hat der Roman überzeugt und daher empfehle ich ihn gerne weiter.