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Veröffentlicht am 25.09.2018

Ein Roman, in dessen Verzweigungen man sich gerne verliert

Bruder und Schwester Lenobel
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Das Cover des Romans „Bruder und Schwester Lenobel“ zeigt eine Ansicht der Stadt Wien. Michael Köhlmeier hat seine Geschichte hier angesiedelt. Über der Stadt spannt sich der Himmel weit auf, so wie die ...

Das Cover des Romans „Bruder und Schwester Lenobel“ zeigt eine Ansicht der Stadt Wien. Michael Köhlmeier hat seine Geschichte hier angesiedelt. Über der Stadt spannt sich der Himmel weit auf, so wie die Erzählkunst des Autors sich im Buch entfaltet. Doktor Robert Lenobel, der Bruder in diesem Buch, ist Psychiater in Wien. Seine Schwester Henriette, Jetti genannt, lebt aber inzwischen in Dublin. Das überraschende Verschwinden von Robert und die Suche nach ihm ziehen sich als roter Faden durch den Roman.

Jetti folgt der Aufforderung ihrer Schwägerin Hanna, die sie per E-Mail erhält. Hanna wünscht sich, dass sie zu ihr nach Wien kommen soll, denn ihr Mann würde verrückt. Als sie zwei Tage später in der Stadt eintrifft ist er verschwunden, gemeinsam geben sie eine Vermisstenanzeige auf. Beide glauben nicht, dass Robert den Freitod gewählt hat, aber Gründe für eine planlose Reise können sie sich auch nicht vorstellen.

Der 55 Jahre alte Robert und die sechs Jahre jüngere Jetti sind sich von Kindheit an in besonderer Weise verbunden. Der Bruder ersetzte der Schwester in einigen Dingen den Vater, der noch eine zweite Familie hatte und irgendwann ganz fern blieb. Jetti unterstützte Robert während seines Studiums als sich bei der Mutter die Symptome einer psychischen Erkrankung verstärkten. Nachdem Robert mit Hanna liiert war, haben die beiden ihre Fürsorge auf diese ausgedehnt und auch bereits zu dritt manche Krise miteinander.

Das Ehepaar hat zwei Kinder, doch Hannas erste Wahl, ein Familienmitglied über das Verschwinden ihres Manns zu informieren, fiel auf Jetti. So stark die Bande zu ihren Kindern auch sein mögen, umso stärker ist Hannas Vertrauen in Jetti von der sie sich Hilfe erhofft, die Gründe für Roberts Handeln zu verstehen. Doch die beiden kennen sich gut, zu gut erschien es mir manchmal, denn sie agieren ohne große Worte, beobachten einander und deuten jedes kleinste Tun auf der Basis vergangener Erfahrungen miteinander. Dabei erinnern beide sich nicht nur an positive Ereignisse, was zu deutlichen Spannungen führt. Schließlich sucht Jetti den Kontakt zu Roberts Freund Sebastian Lukasser, einem Wiener Schriftsteller, der schon in früheren Romanen Köhlmeiers eine tragende Rolle spielte. Es stellt sich heraus, dass er nicht nur für Robert ein Anlaufpunkt ist, sondern auch zu den beiden Frauen eine einzigartige Beziehung pflegt. Stückchenweise erfuhr ich als Leser schließlich auch die Beweggründe Roberts die dazu führten, dass er Abstand von einer Familie suchte.

Michael Köhlmeiers Erzählkunst ist detailreich. Er verfolgt jede Handlung möglichst aus der Sicht aller beteiligter Personen. Die Gedankengänge seiner Figuren zeigt er mit den Abwägungen über das Für oder Wider auf. Obwohl der Roman in der Gegenwart zeitlich nur wenige Wochen beinhaltet, schildert er die Vergangenheit aller Familienmitglieder und fächert die Erlebnisse des Einzelnen breit auf. 13 Kapiteln in vier Teilen stellt er zu Beginn jeweils ein Märchen voraus, welches man in der Nachbetrachtung durchaus in Bezug auf die folgende Handlung interpretieren kann.

„Bruder und Schwester Lenobel“ ist eine überbordende Geschichte, die wirklichkeitsnahe Gefühle des gelebten Lebens beinhaltet. Hass, tiefe Liebe, Vertrauen, Neid, Zweifel, Eifersucht, Missgunst sind zu finden, das Verzeihen ist von besonderer Dringlichkeit. Ein Roman, in dessen Verzweigungen man sich gerne verliert.

Veröffentlicht am 24.09.2018

Ein einziger Sommer, der die Gefühle eines Jugendlichen stark bewegt

Junger Mann
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Im Roman „Junger Mann“ lässt Wolf Haas den Ich-Erzähler, einen 13-jährigen Österreicher, über den Sommer 1973 erzählen. Sein Protagonist ist so alt wie der Autor zur damaligen Zeit auch gewesen ist. Neben ...

Im Roman „Junger Mann“ lässt Wolf Haas den Ich-Erzähler, einen 13-jährigen Österreicher, über den Sommer 1973 erzählen. Sein Protagonist ist so alt wie der Autor zur damaligen Zeit auch gewesen ist. Neben dem unbenannten Erzähler spielt auch das junge Ehepaar Elsa und Tscho eine große Rolle. Das Cover ist als Waage mit orangefarbenen Bezug gestaltet, denn eine solche besitzt die Familie des Jugendlichen zur Gewichtskontrolle.

Der junge Mann lebt in Maria Alm am Steinernen Meer in Österreich unweit der Grenze zu Deutschland. Hier besitzt unter anderem der amtierende Bundespräsident Walter Scheel ein Ferienhaus und hier wurde auch der Autor des Romans geboren. Mehrfach hat der junge Mann als Kind sich die Beine gebrochen und bekam sie daher eingegipst, wie damals üblich. Als Seelentrost für die relative Unbeweglichkeit erhielt er Schokolade, dessen Verzehr sich schon früh in Übergewicht bei ihm zeigt. Der Ich-Erzähler kennt Tscho bereits von Kindheit an, denn er ist der große Bruder eines älteren Freunds von ihm. Zusammen mit seiner Frau Elsa ist er Housesitter reicher Amerikaner und fährt außerdem noch LKW. Der junge Mann nimmt einen Job an der örtlichen Tankstelle an, sieht eines Tages die Frau vom Tscho in dessen Pkw und verliebt sich in sie. Ihm wird bewusst, dass er einige Kilogramm zu viel wiegt, um ihr zu gefallen und beschließt deshalb, in den Sommerferien abzunehmen. Während es zu einer schrittweisen Annäherung mit Elsa kommt, hat plötzlich Tscho eine ganz spezielle Aufgabe für den jungen Mann.

Wolf Haas schreibt mit viel Witz und Sarkasmus gerade so, wie ein 13 1/2-Jähriger sich seine Welt, mit der er trotz Pubertätsproblemen klar kommen muss, schön redet. Ich weiß natürlich nicht, wieviel eigene Erlebnisse in den Schilderungen des Autors stecken, aber dadurch, dass er im Setting beheimatet ist und im gleichen Alter wie sein Protagonist, wirkt seine Erzählung authentisch. Ich kann mich selbst auch noch an die staatlich verordneten autofreien Tage erinnern die im Roman thematisiert werden, auch wenn sie in Österreich anders geregelt wurden als in Deutschland. Es ist für mich immer wieder schön, gedanklich in die Vergangenheit, in diesem Fall in die 1970er Jahre zu reisen.

Während ich es zunächst für unmöglich ansah, dass Elsa Interesse an dem noch jungen Ich-Erzähler finden könnte, so fand er doch in kleinen Schritten das Vertrauen von ihr. Kaum zeigte sich die Möglichkeit einer beginnenden Romanze dreht der Autor unerwartet die bis dahin nur in eine Richtung weisende Erzählung in eine ganz andere. Was bis dahin eine überwiegend amüsante Geschichte war, wird zum Roadmovie mit reichlich bewegenden Momenten, wenn auch weiterhin mit heiterem Unterton. Die Dialoge mit durchweg kurzen Sätzen enthalten eine gehörige Portion Schmäh.

Bewusst lässt Wolf Haas seine Figur unbenannt, denn viele Leser werden deren Handlung gut nachvollziehen können und sich an deren Stelle fühlen, weil sie einiges so oder so ähnlich in ihrer eignen Pubertät empfunden haben. „Junger Mann“ ist ein Coming-of-Age-Roman, der zeigt, dass ein einziger Sommer die Gefühle eines Jugendlichen auf mannigfache Weise stark bewegen kann. Aufgrund der Situationskomik ergibt sich eine Heiterkeit, die auch bei ernsteren Themen nicht weicht. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Veröffentlicht am 19.09.2018

Spannende Suche nach verschwundenem Vater am Rhein im Jahr 1868

Die vergessene Burg
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Ein breiter Fluss, ein Schloss an seinem Ufer … zunächst dachte ich bei dem Cover des Romans „Die vergessene Burg“ an eine englische Landschaft, doch die Mönchengladbacherin Susanne Goga entführte mich ...

Ein breiter Fluss, ein Schloss an seinem Ufer … zunächst dachte ich bei dem Cover des Romans „Die vergessene Burg“ an eine englische Landschaft, doch die Mönchengladbacherin Susanne Goga entführte mich mit ihrer Geschichte an den wunderschönen Rhein nach Bonn. Ich begleitete die Protagonistin Paula Cooper im Jahr 1868 bei der Suche nach ihrem Vater, der seit Jahren verschwunden ist. Ihre Nachforschungen führen sie bis zur Ruine der Burg Ehrenfels unweit von Rüdesheim am Rhein. Die Innenklappen des Buchs sind liebevoll gestaltet und zeigen einige Fotos von Bonn und der Landschaft um den Drachenfels am Rhein, die die Autorin selbst aufgenommen hat.

Die 32jährige Paula lebte in den vergangenen Jahren als Gesellschafterin bei einer älteren, kränklichen Cousine ihrer Mutter in einer kleinen Ortschaft unweit Londons. Eines Tages erreicht sie ein Brief von einem ihr bisher unbekannten Onkel aus Bonn. Darin steht, dass er schwer erkrankt sei und sie bitte, ihn noch vor seinem Tod zu besuchen. Als sie das Grab ihres Vaters wieder einmal aufsucht, erfährt sie durch Zufall, dass das Grab leer ist. Paula ist nicht nur in ihrer Stellung unzufrieden, sondern durch die Ereignisse verständlicherweise auch über ihre Mutter und deren Lügen sehr verärgert, so dass sie beschließt nach Bonn zu reisen.

Ihr Onkel, der Andenkenhändler Rudy Cooper, weiß leider auch nichts Genaues über den Verbleib ihres Vaters, doch sie gewinnt sehr schnell sein Vertrauen. Daher unterstützt Rudy die Idee, ihren Vater zu suchen. Begleitet wird sie von dem englischen Fotografen Benjamin Trevor, den sie in Bonn kennen gelernt hat. Nicht nur das Verschwinden ihres Vaters ist Paula rätselhaft, sondern ihr fallen auch ein seltsames Verhalten ihres Onkels und das des Fotografen auf, die sie nicht einordnen kann. Durch ihre Hartnäckigkeit gelingt es ihr mit und mit den Geheimnissen auf die Spur zu kommen.

Die Figur der Paula und ihre Entwicklung hat mir sehr gut gefallen. Lange Zeit hat sie dem Wunsch der Mutter entsprochen, sich um deren Cousine zu kümmern und dadurch ein versorgtes Leben zu führen. Sie hat sich dabei einen gewissen gesellschaftlichen Stand erhalten, ohne von einem Ehemann abhängig zu sein. Allerdings traten ihre eigenen Interessen in den Hintergrund und sie hat verlernt, Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Der Brief ihres Onkels bringt sie zum Nachdenken über ihre Zukunft, sie beginnt sich selbst und ihre Gefühle zu hinterfragen. Während sie bisher noch nie außerhalb von England war, so fasst sie jetzt den Mut zu einer Reise bei der sie auf sich allein gestellt sein wird. Das Gelingen stärkt ihr Selbstwertgefühl. Bei ihrem Onkel wartet bereits eine neue Herausforderung. Sie ist stolz, als sie diese ebenfalls ohne große Probleme meistert. Doch auch die weiteren Charaktere zeichnet Susanne Goga abwechslungsreich und interessant durch die kleinen Geheimnisse die jeder verbirgt wie beispielsweise Paulas Onkel Rudy, dessen besten Freund, Paulas Mutter und Benjamin Trevor.

Es hat mich gefreut, dass der Roman in einer Gegend spielt, die ich auch schon mehrfach besucht habe. Die Autorin versteht es die zauberhafte Landschaft trefflich zu beschreiben. In ihren Schilderungen ist ihre eigene Liebe für die Umgebung zu spüren. Ein Gedicht von Heinrich Heine erinnerte mich an dessen Vertonung. Rund um die Berufe der handelnden Personen Rudy und Benjamin erfuhr ich mehr über Andenken und den Stand der Fotografie im Jahr 1868. Dank ihrer sehr guten Recherche und entsprechend genauer Beschreibung befand ich mich auf den Spuren der damaligen Touristen am Rhein, zu denen auch Mitglieder der Englisch Community in Bonn gehörten.

Susanne Goga schreibt leicht lesbar und unterhaltsam. Mehrere Familiengeheimnisse hat sie geschickt in die Handlung eingebunden und deckt diese in kleinen Teilen auf, so dass bis zum Schluss eine unterschwellige Spannung vorhanden ist. Das Setting hat mich angesprochen ebenso wie die Einbindung von zeitlich passenden kulturellen Elementen. Der Roman hat mir sehr gut gefallen und daher empfehle ich ihn gerne weiter an alle Leser historischer Romane.

Veröffentlicht am 18.09.2018

Starkes Buch zu den Unwägbarkeiten unserer Gesellschaft

Loyalitäten
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Entsprechend des Titels ihres Romans „Loyalitäten“ zeigt die Französin Delphine de Vigan die innere Verbundenheit des zwölfjährigen Theo mit seinen geschiedenen Eltern. Auch das Cover zeigt Verbindungen. ...

Entsprechend des Titels ihres Romans „Loyalitäten“ zeigt die Französin Delphine de Vigan die innere Verbundenheit des zwölfjährigen Theo mit seinen geschiedenen Eltern. Auch das Cover zeigt Verbindungen. Die Farbstreifen, jeder in einer anderen Farbe und vor den Überschneidungspunkten eine Weile für sich laufend, bringen die Persönlichkeit des Individuums zum Ausdruck.

Théos Eltern sind schon einige Jahre geschieden und haben das gemeinsame Sorgerecht. Eine Woche lebt Theo bei seinem Vater, in der folgenden Woche bei seiner Mutter, die in unterschiedlichen Stadtteile von Paris ihre Wohnungen haben. Seine Mutter möchte längst nichts mehr über ihren früheren Mann erfahren, während sich Théos Vater aufgrund seiner Arbeitslosigkeit zunehmend der Gesellschaft entfremdet. Théo möchte helfen, aber die Vorgaben seiner Eltern, welche Informationen über sie nach außen gegeben werden dürfen, sind streng. Er versucht sich dem Dilemma zu entziehen, in dem er seinen Kummer im Alkohol ertränkt. Sein gleichaltriger Freund Mathis hält zu ihm und beginnt für ihn zu lügen. Die Biologielehrerin von beiden hat einen Verdacht, doch ihr wird nicht geglaubt.

Delphine de Vigan erzählt aus vier unterschiedlichen Perspektiven. Während die Lehrerin Hélène und Cécile, die Mutter von Mathis, in der Ich-Form berichten schaut die Autorin auf die Minderjährigen Théo und Mathis als allwissende Erzählerin. Beide erwachsenen Protagonistinnen haben in ihrer Jugend Demütigendes erlebt, die Erinnerung daran bleibt. Delphine de Vigan dringt ganz tief ein in das Beziehungsgeflecht der Gesellschaft, das nicht nur von Gesetzen sondern auch von Werten und Normen bestimmt wird. Dabei nehmen die sozialen Netzwerke einen immer höheren Stellenwert ein.
Théo fühlt sich zwar seinen Eltern gegenüber verpflichtet, aber durch ihre Unfähigkeit zum Vorbild sucht er einen Ausweg. Die Situation macht Théo sprachlos, er traut keinem mehr. Durch Alkohol betäubt er sein Bewusstsein, erhofft sich aber vielleicht unterschwellig, dass sein verändertes Verhalten auffällt. Hélène weiß durch eigene Erfahrung, dass vieles aus der Familie nicht nach außen dringt. Ihr Wunsch, hinter die Fassade von Théo zu schauen, stößt auf Unverständnis mit dem Hinweis auf gesellschaftlich konformes Verhalten.

Mathis ist ein typischer Jugendlicher zu Beginn der Pubertät. Er beginnt die Rolle seiner Eltern zunehmend in Frage zu stellen, sich mit Gleichaltrigen und älteren Jugendlichen zu vergleichen und sich deren Handlungsweisen zu eigen zu machen. Seine Freundschaft zu Théo hält länger an als zu jedem anderen und dadurch fühlt er sich ihm, zum großen Glück für seinen Freund, durch ein starkes Band verbunden.

Die Autorin hält den Schluss bewusst offen und ließ mich mit Hoffnung für alle Beteiligten aus dem Roman zurück. „Loyalitäten“ ist ein starkes Buch zu den Unwägbarkeiten unserer Gesellschaft. Es stimmt äußerst nachdenklich und hallt noch lange nach.

Veröffentlicht am 14.09.2018

Stimmt nachdenklich und bleibt in Erinnerung

Guten Morgen, Genosse Elefant
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Der Engländer Christopher Wilson nimmt den Leser in seinem Roman „Guten Morgen, Genosse Elefant“ mit in die Sowjetunion ins Jahr 1953. Es ist das Ende der Stalinzeit und der Protagonist Juri erlebt diesen ...

Der Engländer Christopher Wilson nimmt den Leser in seinem Roman „Guten Morgen, Genosse Elefant“ mit in die Sowjetunion ins Jahr 1953. Es ist das Ende der Stalinzeit und der Protagonist Juri erlebt diesen Zeitraum aus einer ganz besonderen persönlichen Sicht. So schmückt denn auch ein fünfzackiger roter Stern das Cover des Buchs, hier als Symbol für eine kommunistische beziehungsweise sozialistische Weltanschauung. Unterbrochen wird der Stern durch einen Löffel. Er steht für den Job des Vorkosters, den Juri einnehmen wird. Die Elefanten im oberen Bereich sowie der Titel beziehen sich auf den Tarnnamen, den der damalige Diktator der Sowjetunion von einem Mitarbeiter erhält und damit dessen Gewichtigkeit betont.

Juri Romanowitsch Zipit ist Halbwaise. Mit seinem Vater, dem Hauptveterinär des Zoos, wohnt er in einer Dienstwohnung neben den Tiergehegen. Er ist zwölf Jahre alt als er durch Zufall zum Vorkoster des „Stählernen“, der sich gerne Wodsch nennen ließ, wird. Eine gewisse geistige Beschränkheit, hervorgerufen durch einen Unfall als Kind, kombiniert sich bei Juri mit Intelligenz und Gerissenheit. Sein Gesicht wirkt auf Betrachter vertrauenserweckend und auch der Wodsch ist von ihm stark eingenommen. Welche Vorzüge und Nachteile die ihm übertragene Aufgabe hat, kann er sich bei Arbeitsaufnahme noch nicht vorstellen.

Juri erzählt seine Geschichte mit Blick auf die ein Jahr zurückliegenden Ereignisse. Auf diese Weise konnte ich mich als Leser im Laufe der Schilderung, die zunehmend bedrückender wird und ihm Vieles abverlangt, immer wieder seines Überlebens der Ereignisse versichern.

Christopher Wilson gelang es mit seinem Roman mich gleichzeitig zu erheitern und tieftraurig zu stimmen. Juri hat eine unvoreingenommene gar naive Art seine Umwelt wahrzunehmen. Er weiß, dass er oft zu viel redet und Menschen dazu bringt, ihm ihre Geheimnisse anzuvertrauen. Schon zu Beginn gibt er einen kurzen Einblick in die Möglichkeit der Instrumentalisierung seiner Altersklasse im sozialistischen Staat durch die Lehrer. Der Autor wählt seinen Protagonisten bewusst jung um uns als Leser aufzuzeigen, dass uns niemand, auch nicht die Eltern, schützen können, wenn man in das Blickfeld der Mächtigen gerät, so unschuldig und unerfahren auch unser Geist noch sein mag. Den einzigen Schutz bieten Machtträger mit konträren Ansichten, die sich gegenseitig ausspielen. Gesprochene oder geschriebene Worte können große Freude oder verheerenden Schaden anrichten. Ohne zu hinterfragen oder weitere Einblicke zu gewinnen schildert Juri das feine Ränkespiel um die, im übertragenen Sinne, Plätze in der ersten Reihe beim nahenden Abgang des Generalsekretärs des Zentralkomitees. Hass, Neid und Rache sind dabei die Triebfedern. Den Leser beschwört Juri zu seinem Mitwisser, was der Erzählung von Anfang an etwas Geheimnisvolles gibt.

Der Autor vermag es mit der Kunst der Übertreibung seinem Roman einen humorvollen Anstrich zu geben, doch als ich mit Juri tiefer in die Schmiede der Macht eindrang wurde mit Angst und Bange. Hier ist nur noch widerspruchslose Pflichterfüllung angesagt, nach Belieben besteht die Möglichkeit Unerwünschte auszusortieren. An dieser Stelle möchte ich dem Übersetzer Bernhard Robben ein Lob aussprechen, der es geschafft hat, den speziellen Humor und die Feinsinnigkeiten des Romans ins Deutsche zu transportieren. Bei näherem Hinsehen verschmelzen Fiktion und gelebte Vergangenheit der Erzählung. Dieser Umstand brachte mich ins Grübeln darüber, dass es auch heute noch vergleichbare Regierungssysteme wie das geschilderte gibt. Juris unbedarfte Art zeigte mir die Hilflosigkeit des gewöhnlichen Einzelnen in einem solchen Staat. „Guten Morgen, Genosse Elefant“ stimmt nachdenklich, bleibt noch lange in Erinnerung und daher empfehle ich es gerne weiter.