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Veröffentlicht am 24.10.2017

Spannende Dystopie und Auseinandersetzung mit dem Wert unseres Lebens

Scythe – Die Hüter des Todes
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Auf dem Cover der Dystopie „Scythe – Die Hüter des Todes“ von Neal Shusterman ist ein martialisch aussehender Sensenmann abgebildet. Die Sense (=Scythe) als ihr Werkzeug benutzen die zum Töten Ausgewählten ...

Auf dem Cover der Dystopie „Scythe – Die Hüter des Todes“ von Neal Shusterman ist ein martialisch aussehender Sensenmann abgebildet. Die Sense (=Scythe) als ihr Werkzeug benutzen die zum Töten Ausgewählten jedoch sehr selten, denn ihnen stehen vielfach andere Mittel zur Verfügung. Willkürlich werden für diesen Beruf Personen in ihrer Jugend ausgesucht und zu Scythe ausgebildet. Ihre Aufgabe besteht darin, den natürlichen Tod zu ersetzen, denn inzwischen kann jede Krankheit und jede körperliche Versehrtheit geheilt werden, es gibt keinen Anlass mehr um Kriege zu führen, das Verkehrswesen ist sicher, Verbrechen wurden ausgemerzt und jeder hat genug zum Leben. Sie töten, von ihnen „nachlesen“ genannt, nach ihrer eigenen Auswahlmethode, um eine festgesetzte Quote zu erfüllen. Allein dieser Tatbestand führt zu kritischen Stimmen innerhalb des Berufsstands der hochgeachteten, gleichzeitig auch gefürchteten Scythe in Bezug auf Anwendung und Durchführung der Methoden und Quotenerfüllung.

Bei einer seiner Nachlesen wird Scythe Faraday auf die 16-jährige Citra aufmerksam, bei einer weiteren auf den gleichaltrigen Rowan und daher beruft er sie zu seinen Auszubildenden. Beide lernen im Laufe der Auseinandersetzung mit ihrem zukünftigen Beruf das Für und Wider der willkürlichen Nachlese kennen. Durch eine unerwartete Wendung der Geschehnisse werden Citra und Rowan zu Konkurrenten, denn nur einer von ihnen soll letztlich zum Scythe ernannt werden, der andere darf nicht, wie ursprünglich geplant, in sein altes Leben zurückkehren, sondern wird vom Rivalen sofort vor Ort nachgelesen.

Neal Shusterman spielt in seiner Dystopie mit einer spannenden Idee. Er geht davon aus, dass im Jahr 2042 die Rechenkraft unserer Computer eine ungeahnt enorme Größe erreicht hat. Das System „Thunderhead“, entwickelt aus der heute bereits bestehenden Cloud, besitzt die Fähigkeit sich selbst anhand der ausgewerteten Daten zu verbessern und so optimiert es beispielsweise den Verkehrsfluss oder auch Medizintechnik. Es leben zwar auch heute in der Realität immer mehr Menschen auf unserem Planeten weil die Geburtenzahl die Todesfälle übersteigt. Nach der Vision des Autors stirbt ein Mensch aber keines natürlichen Todes mehr, ganz im Gegenteil kann er sich immer wieder verjüngen lassen. Die Möglichkeit andere Welten zu erschließen ist wegen Misserfolgen ausgeschlossen. Die einzig logische Konsequenz daraus, scheint es zu sein, weltweit ein System zum Beenden von Leben zu etablieren. Thunderhead errechnet zwar den Bedarf an Sythe, mischt sich aber ansonsten nicht in deren Belange ein. Doch nach welchen Maßstäben soll getötet werden? Kann die Auswahl gerecht getroffen werden? Wird unsere Moral es zulassen, sich über das Verbot des Tötens unter dem Deckmantel der Notwendigkeit hinwegzusetzen?

Alle diese Fragen bilden den Hintergrund der Geschichte um Citra und Rowan. Der Autor fügt zwischen den Kapiteln Tagebucheinträge verschiedener Scythe ein, die mir Einblicke in das Denken der Ausgewählten gaben. Auf diese Weise habe ich deren Zweifel an ihrer Tätigkeit, manchmal aber auch die Begeisterung dafür gespürt. Sehr geschickt zeigt Neal Shusterman unterschiedliche Positionen seiner Charaktere, die ein Abbild der Ansichten in unserer Gesellschaft bilden. Spielt es überhaupt eine Rolle, wie die Auswahl der zu Mordenden getroffen wird, ob schnell getötet wird und auf welche Weise? Es ist nicht einfach, Figuren sympathisch zu finden, die zum Töten ausgebildet werden, obwohl der Autor dazu Argumente findet, den Bedarf an Scythe zu erklären. Sind Citra und Rowan schließlich Opfer oder Täter?

„Scythe – die Hüter des Todes“ ist nicht einfach nur eine spannende Dystopie, sondern eine Auseinandersetzung mit dem wertvollen Gut unseres eigenen Menschseins. Mich hat das Buch zum Nachdenken über das Problem des Bevölkerungswachstums gebracht. Sehr gespannt bin ich schon auf die Fortsetzung des Buchs voraussichtlich im April 2018.

Veröffentlicht am 17.10.2017

Eine Geschichte vieler Polen und eine ganz persönliche der Autorin

Wir Strebermigranten
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Im Buch „Wir Strebermigranten“ erzählt die Autorin Emilia Smechowski die Geschichte der Flucht ihrer polnischen Eltern im Jahr 1988, die sie selbst als Fünfjährige miterlebt hat. Die 1980er-Jahre waren ...

Im Buch „Wir Strebermigranten“ erzählt die Autorin Emilia Smechowski die Geschichte der Flucht ihrer polnischen Eltern im Jahr 1988, die sie selbst als Fünfjährige miterlebt hat. Die 1980er-Jahre waren eine Zeit des Aufbruchs in Polen mit dem Bestreben die Wirtschaftslage zu stabilisieren und sich von der Politik des Ostblocks zu lösen. Emilias Eltern fühlten sich unfrei, ausreisen durfte man nur mit Reisepass, der dem Vater verwehrt wurde. Heute fühlt sich die Autorin von den Flüchtenden aus Syrien, dem Sudan oder Irak in besonderer Weise berührt. Auch sie ist eine Geflüchtete und dennoch sind die Umstände gänzlich andere

In ihrer Geschichte beschäftigt sie sich vor allem damit, wieso heute die Flüchtlinge so starke Emotionen im Aufnahmeland hervorrufen und warum es so schwierig ist, die Angekommenen zu integrieren. Denn vor allem in den 1980ern ist etwa eine Million Polen nach Deutschland eingewandert, die aber seltsamerweise wenig aufgefallen ist. Das lag zum einen daran, dass viele von ihnen aufgrund der Vergangenheit mindestens eines Familienmitglieds das Anrecht hatten, als Deutsche zu gelten, so wie es auch bei der Familie von Emilia Smechowski der Fall war. Andererseits bemühten sich die eingereisten Polen um Assimilation mit ihrer Umgebung. Auch die Eltern der Autorin waren darum bemüht, von Beginn an wie Deutsche zu leben, also nicht nur die Sprache zu lernen sondern sich auch mit der Kultur der Deutschen auseinanderzusetzen.

Bei uns im Westen Deutschlands leben viele Griechen, Portugiesen und Türken, die vor allem in den 1960er als Gastarbeiter eingereist sind. Sowohl Griechen als auch Portugiesen haben eigene Versammlungsheime, eigene Kirchengemeinden und eigene Volkstanzgruppen die bei Festivitäten gern gesehen sind. Ursprünglich aus Polen stammende Bekannte habe ich auch genügend, muss aber länger darüber nachdenken, wer zu dieser, immerhin zweitgrößten Migrationsgruppe Deutschlands gehört, denn meist erkennt man im Gespräch noch nicht einmal einen Akzent, entsprechend der Bezeichnung der Autorin erscheint mir der Begriff „Strebermigranten“ zu passen. Auffällig ist höchstens der Vorname, wenn gerade Zwanzigjährige mit Hans oder Erika angesprochen werden. Sobald diese Gedanken da waren, habe ich fasziniert die Schilderungen der Autorin gelesen und dieses Stück Geschichte einmal aus einer ganz anderen Sicht gesehen.

Ihr Buch erzählt aber nicht nur von der Flucht und dem Ankommen der Familie, sondern auch von ihrer ganz eigenen Loslösung aus dem Familienverbund und dem langsamen Vortasten in beruflicher Hinsicht auf für sie ungewohntem Terrain ohne der Hilfe der Eltern, die ihren Vorstellungen entgegen standen. Gerade der Weg ihrer Selbstverwirklichung hat bei ihr jedoch den Wunsch freigesetzt sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und auszusöhnen.

„Wir Strebermigranten“ ist die Geschichte vieler Polen und eine ganz persönliche der Autorin, ein Reisebericht, ein Familienroman und eine kulturelle Auseinandersetzung. Emilia Smechowski beobachtet scharf. Sie lenkt den Blick auf die aktuelle Flüchtlingslage und wirft Fragen nach der Möglichkeit einer besseren Integration auf. Das Buch bringt einen Abschnitt der Flüchtlingspolitik Deutschlands ans Licht, der bisher eher verborgen liegt. Die Aussagen des Buchs sind eine Beschäftigung mit ihnen wert und daher vergebe ich gerne eine Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 08.10.2017

Berührt und bleibt im Gedächtnis

Im Herzen der Gewalt
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„Im Herzen der Gewalt“ ist das zweite Buch des 24-jährigen Franzosen Édouard Louis. Der Roman ist autobiographisch. Im Rückblick schildert der Autor die zufällige Begegnung mit einem jungen Mann, den er ...

„Im Herzen der Gewalt“ ist das zweite Buch des 24-jährigen Franzosen Édouard Louis. Der Roman ist autobiographisch. Im Rückblick schildert der Autor die zufällige Begegnung mit einem jungen Mann, den er am Heiligabend auf der Straße trifft und der sich ihm als Reda vorstellt. Die folgenden Stunden der Nacht enden für Édouard mit einer Morddrohung durch seine Zufallsbekanntschaft. Bereits das Cover des Buchs vermittelte mir die Ausgangslage einer grauen, düsteren Umgebung die dazu führt, dass der Autor den jungen Mann mit zu sich nach Hause nimmt.

Der Geschichte beginnt im Waschsalon. Édouard befindet sich dort, unweit seiner Wohnung, um seine Bettwäsche zu waschen. Es ist überraschenderweise der 1. Weihnachtstag, wenige Stunden nachdem Reda ihm angedroht hat, ihn zu töten. Sein Bedürfnis nach Reinheit nimmt extreme Züge an. Zuhause säubert und desinfiziert er alle Flächen und duscht mehrmals. Doch seine Erinnerungen an das Erlebte kann er nicht so ohne weiteres wegwischen. Gleich auf den ersten Seiten lässt er den Leser ahnen, wie aufgewühlt er von den Ereignissen ist. Seine Schilderung ist ein Aufschrei, ein „ich möchte das nicht erlebt haben“ und doch kann er die Vergangenheit nicht ändern.

Schließlich sucht er fast ein Jahr später Zuflucht bei seiner Schwester in Nordfrankreich, dort, wo auch seine Heimat ist. Während seines Aufenthalts lauscht er aus einem Versteck dem Gespräch seiner Schwester mit ihrem Mann. Sie schildert ihm das, was sie inzwischen von Édouards über die Nacht mit Reda erfahren hat. Aus dieser Distanz heraus reflektiert Édouard die Geschichte für sich und ergänzt das Gespräch für den Leser durch seine Gedanken. Hat der Beginn des Romans sich lediglich auf vage Andeutungen beschränkt, so erfuhr ich nun bruchstückhaft, aber in allen Einzelheiten, was sich in den wenigen Stunden des Zusammenseins mit Reda ereignet hat.

Édouard ist verstört und hat ein großes Bedürfnis zu reden. Er will nicht allein sein mit seiner Geschichte, doch die Geschehnisse verlassen ihn nicht gemeinsam mit seinen Worten sondern bleiben bei ihm. Auch Tränen fließen, jedoch ohne die Erinnerungen mitzunehmen. Seine Freunde raten ihm zu einer Anzeige bei der Polizei. Jeder mit dem er spricht bedauert ihn, jedoch mit dem Unverständnis über die Tatsache, dass Édouard einem Unbekannten so schnell vertraut hat. Für ihn muss es einen Grund geben, warum Reda so gehandelt hat, vielleicht handeln musste. Er sucht dessen Tat zu rechtfertigen. Im Vordergrund steht dabei Redas Status als Immigrant und Kind eines kabylischen Flüchtlings von der er in dieser einen Nacht erzählt hat. Der Autor hat selber in seiner Kindheit und Jugend mit schwierigen Familienverhältnissen gekämpft, bevor er sich aus den engen Ansichten der Dorfbewohner seines damaligen Wohnorts befreien konnte. Letztlich kann er durch seine Argumentation nicht wirklich überzeugen, auch sich selber nicht, denn er selbst hat gezeigt, dass man seine Ziele aus einer ungünstigen Ausgangslage heraus dennoch erreichen kann. Seine ungewollte Opferrolle versucht er abzustreifen, doch eine von ihm gewünschte Mitschuld findet er nicht für sich. Was bleibt ist die ständig wiederkehrende Angst, das alles könnte wieder passieren.

Als Leser habe ich die Verzweiflung von Édouard gespürt, der vergeblich versucht, das Geschehene zu vergessen. Er erzählt intensiv und eindringlich, in hellster Erregung, später auch erschöpft durch seine widerstreitenden Gefühle und sein Gedankenkarussell. Gerade das, was der Autor erlebt hat, kann auch denen von uns passieren, die ihren Empfindungen unbesonnen und spontan nachgeben. Dadurch sind die Schilderungen so beunruhigend in unserer heutigen Zeit zunehmender Gewaltbereitschaft. Der Roman berührt und bleibt im Gedächtnis. Darum eine Leseempfehlung von mir.

Veröffentlicht am 04.10.2017

Unverbrauchtes Thema, angenehmer Schreibstil, realistische Darstellung

Das Haus der Granatäpfel
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„Das Haus der Granatäpfel“ steht auf der Insel Uzunade, die kurz vor der heutigen Stadt Izmir in der Türkei liegt. In dem gleichnamigen Buch von Lydia Conradi, die auch als Charlotte Roth bekannt ist, ...

„Das Haus der Granatäpfel“ steht auf der Insel Uzunade, die kurz vor der heutigen Stadt Izmir in der Türkei liegt. In dem gleichnamigen Buch von Lydia Conradi, die auch als Charlotte Roth bekannt ist, wurde das Haus nach den Bäumen benannt, die links und rechts vom Eingang wachsen. Es ist das Sommerhaus der Familie von Edmond Delacloce, deren Mitglieder sich als Levantiner fühlen, damit sind die Bewohner der Länder des Mittelmeerraums östlich von Italien gemeint. Der Roman führte mich einhundert Jahre in die Vergangenheit als Izmir noch lateinischer Schreibweise Smyrna hieß. Hier lebten Türken, Griechen, Armenier, Franzosen und Briten zunächst friedlich miteinander trotz der Zugehörigkeit zu verschiedenen Religionsgemeinschaften. Doch dem Kampf um Ländereien konnten sich die Stadtbewohner letztlich nicht gänzlich entziehen.

Klara Reinecke ist im Jahr 1910 noch 15 Jahre alt und Schülerin einer Schweizer Privatschule als sie in der Silvesternacht von ihrem Vater mit seinem Handelspartner Peter Delacloche aus Smyrna bekannt gemacht wird. Zwei Jahre später fährt sie nach Uzunade um Peter zu heiraten. Die Familie lebt vom Warenhandel. Die Frauen sind den Konventionen entsprechend für Haus und Familie zuständig, das Erlernen eines eigenen Berufs wird nicht gern gesehen. Von Peters Mutter und seinen Schwestern und seiner Familie wird Klara nicht als ebenbürtig angesehen, von ihren Eltern fühlt sie sich abgeschoben. Die intelligente und aufgeschlossene junge Frau langweilt sich. Sie beginnt Liebeleien mit diversen, auf der Insel anwesenden männlichen Verwandten bis sie schließlich den Arzt Sevan kennenlernt, der ihre Schwägerin im Krankenhaus behandelt hat. Für die beiden ist es Liebe auf den ersten Blick, obwohl Sevan mit seiner Jugendliebe verheiratet ist und ein Kind hat. Klara und Sevan müssen in den folgenden Jahren mit vielen Sorgen leben und manches Hindernis überwinden.

Auf der ersten Klappseite des Buchs sind Stammbäume aufgezeichnet, denn die Familie Delacloche ist verzweigt. Auf diese Weise konnte ich mit schnellem Blick während des Lesens feststellen, wer mit wem wie verwandt ist. Obwohl im Buch über viele Personen erzählt wird, sind Klara und Sevan die Protagonisten. Klara wird von ihren Eltern bereits im Hinblick auf eine spätere gute Partie hin erzogen. Durch die örtliche Entfernung haben Klara und Peter wenig Möglichkeit, sich näher kennen zu lernen. Klara kann sich das Leben in Smyrna nicht vorstellen, weil sie noch nie außerhalb von Deutschland beziehungsweise der Schweiz gewesen ist. Auch wie das Leben in einer großen Familie sich gestaltet, kann sie als Einzelkind nicht ahnen. Sie hat nicht darüber nachgedacht, dass sie tagsüber ohne ihren Ehemann sein wird, weil er tagsüber seinen Geschäften nachgeht und dazu die Insel verlässt. Vage blieb für mich, welche Tätigkeiten alle zu Peters Alltag gehörten.

Sevan ist Armenier, die in Smyrna eine Minderheit sind. Bereits als Kind wünscht er sich, später Arzt zu werden. Sein Wunsch erscheint zunächst aufgrund fehlender finanzieller Mittel als unrealistisch. Seine spätere Frau hat er schon als Junge bewundert. Doch ihre Liebe leidet unter der ablehnenden Haltung ihrer Familie. Gesellschaftspolitisch steht er deren Meinung entgegen. Sowohl für Klara als auch für Sevan stellt sich die Frage, ob es wirklich Liebe ist, was sie für den Ehepartner empfinden. Als sie einander begegnen, fühlen sie sich sofort zueinander hingezogen, meinem Empfinden nach etwas zu schnell.

Lydia Conradi hat ihre Figuren bis in die Nebenhandlungen hinein gut ausformuliert. Sie vermittelte mir gekonnt geschichtliches Hintergrundwissen das dazu notwendig war, die kriegerischen Auseinandersetzungen zu verstehen, in die die Bewohner von Smyrna im Laufe der Zeit hineingezogen wurden. Deutlich konnte man auch das Unbehagen der Frauen empfinden, die zu Hause auf ihre Liebsten zu warten hatten, groß waren die Verluste in allen Gesellschaftsschichten. Aber nicht nur in der weltpolitischen Lage herrschte der Kampf um Ländereien, sondern es gab Auseinandersetzungen in Smyrna um die Vorherrschaft der Nationalitäten und Religionsgemeinschaften. Auch begannen die Frauen sich gegen die ihnen zugeteilten Rollen als ausschließliche Hausfrau und Mutter aufzubegehren, während die Männer die Riten und Konventionen ihres jeweiligen Volkes in Frage stellten denen sie sich verpflichtet fühlt,en. Auf allen Ebenen zeichnete die Autorin für mich ein nachvollziehbares Bild der damaligen Ereignisse ohne dabei wertend zu sein. Anhand detaillierter Beschreibungen konnte ich mir ebenfalls die Örtlichkeiten sehr gut vorstellen.

Der Roman hat einen angenehm zu lesenden Schreibstil. Die Erzählung hat mich mitgenommen zu einer mir noch nicht bekannten Begebenheit der Weltgeschichte. Mit viel Einfühlungsvermögen vermittelte Lydia Conradi mir die Gefühle und Eindrücke ihrer Figuren, so dass ich ihr Handeln nachvollziehen konnte. Es entstand anhand ihrer Beschreibungen für mich ein umfassendes Bild der Stadt Smyrna und ihrer Bewohner von 1912 bis 1922. Ich empfehle dieses Buch gerne an alle die sich für historische Romane interessieren.

Veröffentlicht am 02.10.2017

Betroffen machende Story unterlegt mit Leichtigkeit

Liebe ist was für Idioten. Wie mich.
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„Liebe ist was für Idioten. Wie mich.“ ist der Debütroman der Österreicherin Sabine Schoder für Jugendliche ab 14 Jahren. Die 17-jährige Protagonistin Viktoria, von ihren Freunden kurz Viki genannt, erzählt ...

„Liebe ist was für Idioten. Wie mich.“ ist der Debütroman der Österreicherin Sabine Schoder für Jugendliche ab 14 Jahren. Die 17-jährige Protagonistin Viktoria, von ihren Freunden kurz Viki genannt, erzählt hier von ihrem Alltag. Ihre Freunde sind ihr besonders wichtig, aber nach einer Enttäuschung sucht sie auf keinen Fall nach einer neuen Beziehung. Sie fragt sich selbst, ob das nicht idiotisch ist. Viki kleidet sich gern in schwarz, denn so passt ein Kleidungsstück zum anderen. Außerdem hat sie nicht viel Geld um sich ständig was Neues zu kaufen. Schwarz ist auch der Grundton des Covers. Aber darauf befinden sich ganz viele bunte Schnipsel. Denn im Laufe des Jahres von dem sie hier erzählt gewinnt Vikis Leben an Farbe und sie sieht wieder eine bunte Zukunft für sich. Interessant fand ich die Kapitelüberschriften, die in verklausulierter kurzer Form jeweils ein Appetithäppchen des folgenden Kapitels andeuteten.

Viki hat schon als Siebenjährige ihre Mutter verloren. Sie war eine starke Raucherin und starb an Lungenkrebs. Ihr Vater ist zum Alkoholiker geworden. Ihre Eltern waren nicht verheiratet. Die gemeinsame Wohnung wird an dem Tag ihrer Volljährigkeit ihr gehören. Doch bis dahin scheut sie die täglichen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater und flüchtet sich gerne zu ihrer Freundin Mel nach Hause. Zu ihrem 18. Geburtstag planen ihre Freunde eine Überraschungsparty in einer angesagten Kneipe. An diesem Abend spielt dort eine Schülerband, deren Sänger Jay umwerfend aussieht. Seine Eltern sind gut betucht. Er nutzt seinen Status dazu, ständig neue Mädchen aufzureißen. Darum kann Viki ihn nicht leiden. Doch nachdem ihr von einem Joint reichlich schwindlig ist, findet sie sich in seiner Gesellschaft wieder und wacht am nächsten Morgen in seinem Bett auf. Da waren doch hoffentlich keine Gefühle im Spiel, oder doch?

Sabine Schoder hat mit Viki eine nicht ganz alltägliche Protagonistin geschaffen. Viki ist Selbständigkeit gewohnt. Was ihr fehlt ist jemand, bei dem sie Schutz suchen kann und der ihr Zuneigung entgegenbringt, jemand mit dem sie ihre Gedanken und Gefühle teilen kann und der ihr Orientierung gibt. Der Roman ist in der Ich-Form erzählt und so habe ich zwar in der Geschichte nicht viel von ihrer ersten verflossenen Liebe Adrian erfahren, konnte jedoch die tiefe Enttäuschung über das Aus in der Beziehung aus Vikis Worten spüren. Viki wird dadurch zum „gebrannten Kind“ und weiß jetzt genau, wie ihr zukünftiger Freund nicht sein soll. Trotz ihrer Vorbehalte gegen das Rauchen und Alkohol, senkt sich ihre Grenze der Ablehnung dagegen im Beisein ihrer Freunde. Es ist schön dem Gruppendruck ein wenig nachzugeben und sich auch mal fallen zu lassen. Hinterher kann sie kaum glauben, dass sie sich auf Jay eingelassen hat. Mit der Zeit wird sie jedoch erkennen, dass er für sein Handeln ganz bestimmte Gründe hat, Probleme die er nicht an die Öffentlichkeit bringen möchte.

Viki ist nicht unbedingt ein Sympathieträger, dazu ist sie zu misstrauisch. Doch in dem vor ihr liegenden Jahr setzt sie sich mit ihren festen Ansichten auseinander und beginnt sich über Klischees hinweg zu setzten. Dadurch, dass Viki Jay zunächst nicht mag, hatte ich es als Leser schwer ihn zu mögen. Einige Verhaltensweisen von ihm mochte ich nicht, dennoch konnte ich im Laufe der Zeit teilweise Verständnis für seine Handlungen aufbringen. Grundsätzlich fand ich den Umgang mit Rauschmitteln im Buch als zu harmlos dargestellt. Auch war ich erschrocken darüber, wie einfach und leicht die Jugendlichen über einen möglichen Freitod reden, manchmal vielleicht nur um Aufmerksamkeit zu erhalten. Das ist durchaus realistisch dargestellt.

Das Ende hält eine Überraschung bereit. Nachdem die Autorin mich zunächst mit einem Ereignis entsetzt hat, kam die Geschichte dennoch zu einem versöhnlichen Ende.

Sabine Schoder schafft es, eine betroffen machende Story in eine Sprache zu verpacken, die genug Luft für Leichtigkeit lässt. Im Hintergrund warteten die Vergangenheit von Viki und das aktuelle Geheimnis von Jay darauf, aufgedeckt zu werden, was eine ständige Spannung aufrechterhielt. „Liebe ist was für Idioten. Wie mich“ ist nicht nur ein Buch für Jugendliche, sondern spricht auch interessierte Erwachsene an. Gerne empfehle ich das Buch weiter. Inzwischen ist die Fortsetzung „Sowas passiert nur Idioten. Wie uns“ erschienen