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Veröffentlicht am 08.11.2017

George Watsky kann nicht nur Lyrics und Poetry-Slam, sondern auch Erzählungen

Wie man es vermasselt
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George Watsky, Jahrgang 1986, lebt in Los Angelos. Er wuchs gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder in San Francisco auf. Bekannt wurde er als Hip-Hopper und Poetry-Slammer. Am Emerson College in Boston erhielt ...

George Watsky, Jahrgang 1986, lebt in Los Angelos. Er wuchs gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder in San Francisco auf. Bekannt wurde er als Hip-Hopper und Poetry-Slammer. Am Emerson College in Boston erhielt er den Bachelor of Arts in „Acting and Writing for the Screen and Stage“. „Wie man es vermasselt“ ist sein Debüt im Prosabereich und enthält dreizehn Erzählungen.

Im Mittelpunkt der Geschichten des Autors steht er selbst. Zeitlich sind sie nicht geordnet. Das Thema, dass alle Erzählungen umspannt, sind seine Misserfolge oder besser das, was George Watsky dafür hält. Er zeigt sich offen, humorvoll und schreckt nicht davor zurück, über schwierige Dinge zu reden. Der Autor erzählt von seiner Kindheit und seinem Wunsch nach Anerkennung. aber auch seinen ersten Erfolgen mit Hip-Hop und Spoken-Words. Verrückte Ideen, die er mit Freunden umgesetzt hat thematisiert er genauso wie die Vorliebe zum Baseball, die er mit seinem Vater teilt, und seinen geringen Erfolg diesen Sport auszuüben. Ebenso verschweigt er nicht, dass er unter Epilepsie leidet und schildert seinen Umgang mit der Krankheit.

Doch neben zahlreichen Fehlschlägen konnte ich als Leser auch über seine ersten Erfolge mit der Musik und beim Slammen lesen, bei denen der Stolz darüber in den Worten des Autors spürbar war. Joints und Alkohol scheinen nicht wegzudenken aus einem solchen Leben als Musiker wie George Watsky es führt. In seinen Geschichten ist jedoch sein Zwillingsbruder, der einen ganz anderen Lebensweg geht, nicht in die geschilderten Ereignisse involviert. Obschon die Erzählungen unterhaltsam geschrieben sind, hinterfragt George Watsky seine vergangenen Handlungen durchaus selbstkritisch.

George Watsky ist eine frische Stimme aus den USA, der nicht nur ansprechende kurze Poetry-Texte und Songlyrics, sondern jetzt auch Erzählungen in einer Länge von 20-30 Seiten verfasst. Ich bin sicher, dass wir bald mehr von ihm lesen können.

Veröffentlicht am 02.11.2017

Die Kraft der Worte

Ich treffe dich zwischen den Zeilen
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m Roman „Ich treffe dich zwischen den Zeilen“ von Stephanie Butland kommen sich die Protagonistin Loveday und der Illusionist Nathan durch ihre Vorträge beim Poetry-Slamen näher. Den Ausdruck ihrer Gefühle, ...

m Roman „Ich treffe dich zwischen den Zeilen“ von Stephanie Butland kommen sich die Protagonistin Loveday und der Illusionist Nathan durch ihre Vorträge beim Poetry-Slamen näher. Den Ausdruck ihrer Gefühle, den sie nur in dieser Form der Lyrik finden, lässt den jeweils anderen tiefer in ihre Seele blicken und bringt Verletzungen aus der Vergangenheit ans Tageslicht. Die Ausdrucksform gibt ihnen aber auch die Möglichkeit das auszusprechen, was sie sich im Alltagsleben nicht zu sagen trauen. Nicht nur auf dem Cover fliegen die Blätter eines Buchs wie fliegende Gedanken, sondern auch auf den Kapitelanfängen.

Loveday ist Mitte zwanzig und arbeitet seit zehn Jahren im Antiquariat Brodie in York/England, zunächst als Aushilfe, später als Vollzeitkraft. Eines Tages findet sie auf ihrem Weg zur Arbeit ein gebrauchtes Buch. In der Buchhandlung meldet sich auf ihren Aushang hin Nathan, der das Buch verloren hat. Er ist Leiter eines regelmäßig stattfindenden Poetry-Slams und lädt Loveday dazu ein. Obwohl sie zunächst ablehnt, gibt sie ihrer Neugierde schließlich nach, denn im Stillen hat auch sie bereits einige Gedichte geschrieben. Gemeinsam mit Loveday‘s Chef Archie gelingt es Nathan den Schutzschild, den sie um sich errichtet hat, einzureißen.

Als Leser merkte ich von Beginn an, dass Loveday eine zu tiefst verletzte Persönlichkeit ist und es dazu ein erklärendes Ereignis aus ihrer Kindheit geben muss. Sie liebt ihre Arbeit, lebt aber zurückgezogen und vertieft sich in die Geschichten der Bücher, die sie liest. Äußerlich fällt sie durch ihr Nasenpiercing und ihre Schrifttatoos auf.

Die Geschichte wird auf drei Zeitebenen von Loveday selbst erzählt. Neben der Gegenwart gibt es Abschnitte, die im Jahr 1999 spielen und mit „Krimi“ überschrieben sind. Dadurch lässt sich leicht ahnen, dass das hier zu Beginn geschilderte Familienleben von Loveday und ihren Eltern unsanft gestört werden wird. Weitere Teile des Buchs spielen in einer Vergangenheit, die erst drei Jahre zurück liegt. Darin schildert die Protagonistin ihre gescheiterte erste Liebesbeziehung. Loveday zeigt also nicht nur aufgrund der Erlebnisse in ihrer Kindheit ein abwehrendes Verhalten, sondern ebenfalls aufgrund des Ausgangs ihrer ersten Schritte in Richtung feste Beziehung. Sie hat ein tiefes Misstrauen zu ihrer Umwelt entwickelt.

Mit und mit erfuhr ich als Leser, wodurch ihr Verhalten erklärt werden kann. Stephanie Butland entwirft eine sehr berührende Erzählung, die aufzeigt, dass seelische Leiden in früher Kindheit nicht nur durch Fürsorge geheilt werden können. Loveday ist aufgrund fehlender anderer Gelegenheiten sehr mit sich selbst beschäftigt. Obwohl sie sich vieler ihrer Fehler bewusst ist, gelingt es ihr nicht, über ihren Schatten zu springen. Die Protagonistin ist aufgrund ihres argwöhnischen Verhaltens nicht unbedingt liebenswert, doch die Figuren des kauzigen, warmherzigen Antiquitätenhändlers Archie und der dandyhafte, selbstbewusste Nathan, gleichen das aus. Das uneingeschränkte Schuldeingeständnis der Mutter hat mich überrascht und hat sicher das Leben ihrer Tochter nachhaltig beeinflusst.

„Ich treffe dich zwischen den Zeilen“ ist ein einfühlsam geschriebener Roman, der die Kraft der Worte wiederspiegelt. Besonders hat es mich gefreut, dass die Autorin, die selbst an Poetry-Slams teilnimmt, einige Texte in ihren Roman einbindet. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Veröffentlicht am 30.10.2017

Bürokratie der Europäischen Kommission unterhaltend dargestellt

Die Hauptstadt
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In Brüssel spielt ein großer Teil der Handlung des Romans „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse, der dafür den Deutschen Literaturpreis 2017 erhalten hat. Der Roman heißt aber nicht nur so, weil Brüssel ...

In Brüssel spielt ein großer Teil der Handlung des Romans „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse, der dafür den Deutschen Literaturpreis 2017 erhalten hat. Der Roman heißt aber nicht nur so, weil Brüssel die Hauptstadt Belgiens und nebenbei auch Sitz der Europäischen Kommission ist, sondern weil es nach einem der Charaktere endlich an der Zeit ist, nachnational zu denken und eine Hauptstadt für Europa zu bauen, funktionell vergleichbar mit Brasilia.

Die Protagonisten des Romans lernte ich im Prolog kennen, der umklammert wird von einem Tier, nämlich einem Schwein. Man könnte meinen, hier wird dem Sprichwort nach eine Sau durchs Dorf getrieben, aber erstens rennt es geschlechtslos durch eine Stadt und zweitens ist die Ursache dazu nicht sichtbar, allerdings ist ihm Aufmerksamkeit auf der ganzen Ebene sicher. Und dabei bleibt es nicht nur für diese kurze Begebenheit, sondern das Thema „Schwein“ zieht sich durch den Roman in vielerlei Form.

Soviel Interesse wie für das Schwein wünscht sich die Leiterin der Generaldirektion Kultur der EU auch für ihr Ressort. Denn der Kultur kommt bei weitem nicht die Beachtung zu wie etwa der Wirtschaft oder der Energie verbunden mit der Diskussion um den Klimawandel. Eine Jubiläumsfeier zum 50. Jahrestag der Gründung der Europäischen Kommission soll daher das Image und damit die Bedeutung der Kultur aufwerten. Nach einer Idee der Festausrichtung wird gesucht und gefunden, doch die Umsetzung gestaltet sich schwierig durch die Notwendigkeit der Zustimmung auf nationaler Ebene der angeschlossenen Staaten.

Während die EU-Mitarbeiter an den Planungen feilen, bereitet sich einer der letzten Überlebenden von Auschwitz, der in Brüssel lebt, auf seine letzten Tage vor und ein Kommissar versucht ein vertuschtes Verbrechen aufzudecken, dass in einem zentral gelegenen Hotel Brüssels geschehen ist just an dem Tag, an dem das Schwein durch die Straßen rannte. Robert Menasse greift die losen Fäden der Erzählung auf und führt den Leser unter verschiedenen Berührungspunkten stringent durch den Roman bis hin zu einem besonders traurigen Moment in Brüssel im März 2016, der uns alle erschüttert hat.

Mit Martin Schulz und Armin Laschet sind zwei führende Politiker in diesem Jahr ins Rampenlicht getreten, die eine politische Vergangenheit auf europäischer Ebene haben und die mir vorher nur deshalb bekannt waren, weil sie hier im Grenzland zu den Niederlanden zur lokalen Prominenz gehören. Sollte ich heutige Europapolitiker nennen, käme ich ins Grübeln und ich glaube, dass es sehr vielen so geht. „Die Hauptstadt“ hat mein Augenmerk auf einen wichtigen Part unserer Geschichte gelenkt, auf die Zusammenarbeit der Staaten mit den vielen, nötigen, oft kleinteiligen Abstimmungen zur Steuerung des Schiffs Europa. Am Rand seines Romans blickt der Autor auf die Gründe zurück, die zur Zusammenarbeit der ersten Länder Europas führten.

Um seine Schilderung authentisch zu gestalten ist Robert Menasse für eine Weile nach Brüssel gezogen. Er hat dort das Alltagsleben beobachtet, den Flair der Stadt aufgenommen und vor allem Gespräche mit Arbeitnehmern der Europäischen Kommission geführt bei Kaffee und Zigarette, damit er sich in deren Denkweise hineinversetzen konnte. Seine Charaktere bringen Europa mit in die multikulturelle Hauptstadt Belgiens. Die meisten Mitarbeiter verlassen ihre Heimat, um hier zu arbeiten wie beispielsweise die Griechin und Zypriotin Fenia oder der Österreicher Martin. Der Autor blickt auf deren familiären Hintergründe und schweift in seinen Schilderungen gern mal ab auf Begebenheiten, die mir weitere Zusammenhänge in der Europapolitik aufzeigten. Und immer wieder ist auf allen Ebenen ein großer bürokratischer Aufwand zu bewältigen. Doch ich konnte die Figuren auch im Privaten Ebene begegnen: der liebenden Frau mit Hintergedanken, dem eher unwirschen und dennoch besorgten Bruder, dem auf einer Idee beharrenden und seiner Frau nachtrauernden Emeritus und auch dem Mörder.

Gewürzt mit einer Portion Sarkasmus und einer Prise Ironie gelingt es dem Autor, die große Politik Europas verbunden mit dem Intrigenspiel und Machtgerangel der Funktionäre auf allen Ebenen und taktischen nationalen Abwägungen, ob man den Vorschlägen der Europäischen Kommission zustimmen soll und will, in einer nachvollziehbaren, ansprechenden Geschichte darzustellen. Meiner Meinung nach, hat „Die Hauptstadt“ den Deutschen Buchpreis zu Recht erhalten und ich wünsche dem Roman noch viele weitere Leser.

Veröffentlicht am 24.10.2017

Spannende Dystopie und Auseinandersetzung mit dem Wert unseres Lebens

Scythe – Die Hüter des Todes
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Auf dem Cover der Dystopie „Scythe – Die Hüter des Todes“ von Neal Shusterman ist ein martialisch aussehender Sensenmann abgebildet. Die Sense (=Scythe) als ihr Werkzeug benutzen die zum Töten Ausgewählten ...

Auf dem Cover der Dystopie „Scythe – Die Hüter des Todes“ von Neal Shusterman ist ein martialisch aussehender Sensenmann abgebildet. Die Sense (=Scythe) als ihr Werkzeug benutzen die zum Töten Ausgewählten jedoch sehr selten, denn ihnen stehen vielfach andere Mittel zur Verfügung. Willkürlich werden für diesen Beruf Personen in ihrer Jugend ausgesucht und zu Scythe ausgebildet. Ihre Aufgabe besteht darin, den natürlichen Tod zu ersetzen, denn inzwischen kann jede Krankheit und jede körperliche Versehrtheit geheilt werden, es gibt keinen Anlass mehr um Kriege zu führen, das Verkehrswesen ist sicher, Verbrechen wurden ausgemerzt und jeder hat genug zum Leben. Sie töten, von ihnen „nachlesen“ genannt, nach ihrer eigenen Auswahlmethode, um eine festgesetzte Quote zu erfüllen. Allein dieser Tatbestand führt zu kritischen Stimmen innerhalb des Berufsstands der hochgeachteten, gleichzeitig auch gefürchteten Scythe in Bezug auf Anwendung und Durchführung der Methoden und Quotenerfüllung.

Bei einer seiner Nachlesen wird Scythe Faraday auf die 16-jährige Citra aufmerksam, bei einer weiteren auf den gleichaltrigen Rowan und daher beruft er sie zu seinen Auszubildenden. Beide lernen im Laufe der Auseinandersetzung mit ihrem zukünftigen Beruf das Für und Wider der willkürlichen Nachlese kennen. Durch eine unerwartete Wendung der Geschehnisse werden Citra und Rowan zu Konkurrenten, denn nur einer von ihnen soll letztlich zum Scythe ernannt werden, der andere darf nicht, wie ursprünglich geplant, in sein altes Leben zurückkehren, sondern wird vom Rivalen sofort vor Ort nachgelesen.

Neal Shusterman spielt in seiner Dystopie mit einer spannenden Idee. Er geht davon aus, dass im Jahr 2042 die Rechenkraft unserer Computer eine ungeahnt enorme Größe erreicht hat. Das System „Thunderhead“, entwickelt aus der heute bereits bestehenden Cloud, besitzt die Fähigkeit sich selbst anhand der ausgewerteten Daten zu verbessern und so optimiert es beispielsweise den Verkehrsfluss oder auch Medizintechnik. Es leben zwar auch heute in der Realität immer mehr Menschen auf unserem Planeten weil die Geburtenzahl die Todesfälle übersteigt. Nach der Vision des Autors stirbt ein Mensch aber keines natürlichen Todes mehr, ganz im Gegenteil kann er sich immer wieder verjüngen lassen. Die Möglichkeit andere Welten zu erschließen ist wegen Misserfolgen ausgeschlossen. Die einzig logische Konsequenz daraus, scheint es zu sein, weltweit ein System zum Beenden von Leben zu etablieren. Thunderhead errechnet zwar den Bedarf an Sythe, mischt sich aber ansonsten nicht in deren Belange ein. Doch nach welchen Maßstäben soll getötet werden? Kann die Auswahl gerecht getroffen werden? Wird unsere Moral es zulassen, sich über das Verbot des Tötens unter dem Deckmantel der Notwendigkeit hinwegzusetzen?

Alle diese Fragen bilden den Hintergrund der Geschichte um Citra und Rowan. Der Autor fügt zwischen den Kapiteln Tagebucheinträge verschiedener Scythe ein, die mir Einblicke in das Denken der Ausgewählten gaben. Auf diese Weise habe ich deren Zweifel an ihrer Tätigkeit, manchmal aber auch die Begeisterung dafür gespürt. Sehr geschickt zeigt Neal Shusterman unterschiedliche Positionen seiner Charaktere, die ein Abbild der Ansichten in unserer Gesellschaft bilden. Spielt es überhaupt eine Rolle, wie die Auswahl der zu Mordenden getroffen wird, ob schnell getötet wird und auf welche Weise? Es ist nicht einfach, Figuren sympathisch zu finden, die zum Töten ausgebildet werden, obwohl der Autor dazu Argumente findet, den Bedarf an Scythe zu erklären. Sind Citra und Rowan schließlich Opfer oder Täter?

„Scythe – die Hüter des Todes“ ist nicht einfach nur eine spannende Dystopie, sondern eine Auseinandersetzung mit dem wertvollen Gut unseres eigenen Menschseins. Mich hat das Buch zum Nachdenken über das Problem des Bevölkerungswachstums gebracht. Sehr gespannt bin ich schon auf die Fortsetzung des Buchs voraussichtlich im April 2018.

Veröffentlicht am 17.10.2017

Eine Geschichte vieler Polen und eine ganz persönliche der Autorin

Wir Strebermigranten
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Im Buch „Wir Strebermigranten“ erzählt die Autorin Emilia Smechowski die Geschichte der Flucht ihrer polnischen Eltern im Jahr 1988, die sie selbst als Fünfjährige miterlebt hat. Die 1980er-Jahre waren ...

Im Buch „Wir Strebermigranten“ erzählt die Autorin Emilia Smechowski die Geschichte der Flucht ihrer polnischen Eltern im Jahr 1988, die sie selbst als Fünfjährige miterlebt hat. Die 1980er-Jahre waren eine Zeit des Aufbruchs in Polen mit dem Bestreben die Wirtschaftslage zu stabilisieren und sich von der Politik des Ostblocks zu lösen. Emilias Eltern fühlten sich unfrei, ausreisen durfte man nur mit Reisepass, der dem Vater verwehrt wurde. Heute fühlt sich die Autorin von den Flüchtenden aus Syrien, dem Sudan oder Irak in besonderer Weise berührt. Auch sie ist eine Geflüchtete und dennoch sind die Umstände gänzlich andere

In ihrer Geschichte beschäftigt sie sich vor allem damit, wieso heute die Flüchtlinge so starke Emotionen im Aufnahmeland hervorrufen und warum es so schwierig ist, die Angekommenen zu integrieren. Denn vor allem in den 1980ern ist etwa eine Million Polen nach Deutschland eingewandert, die aber seltsamerweise wenig aufgefallen ist. Das lag zum einen daran, dass viele von ihnen aufgrund der Vergangenheit mindestens eines Familienmitglieds das Anrecht hatten, als Deutsche zu gelten, so wie es auch bei der Familie von Emilia Smechowski der Fall war. Andererseits bemühten sich die eingereisten Polen um Assimilation mit ihrer Umgebung. Auch die Eltern der Autorin waren darum bemüht, von Beginn an wie Deutsche zu leben, also nicht nur die Sprache zu lernen sondern sich auch mit der Kultur der Deutschen auseinanderzusetzen.

Bei uns im Westen Deutschlands leben viele Griechen, Portugiesen und Türken, die vor allem in den 1960er als Gastarbeiter eingereist sind. Sowohl Griechen als auch Portugiesen haben eigene Versammlungsheime, eigene Kirchengemeinden und eigene Volkstanzgruppen die bei Festivitäten gern gesehen sind. Ursprünglich aus Polen stammende Bekannte habe ich auch genügend, muss aber länger darüber nachdenken, wer zu dieser, immerhin zweitgrößten Migrationsgruppe Deutschlands gehört, denn meist erkennt man im Gespräch noch nicht einmal einen Akzent, entsprechend der Bezeichnung der Autorin erscheint mir der Begriff „Strebermigranten“ zu passen. Auffällig ist höchstens der Vorname, wenn gerade Zwanzigjährige mit Hans oder Erika angesprochen werden. Sobald diese Gedanken da waren, habe ich fasziniert die Schilderungen der Autorin gelesen und dieses Stück Geschichte einmal aus einer ganz anderen Sicht gesehen.

Ihr Buch erzählt aber nicht nur von der Flucht und dem Ankommen der Familie, sondern auch von ihrer ganz eigenen Loslösung aus dem Familienverbund und dem langsamen Vortasten in beruflicher Hinsicht auf für sie ungewohntem Terrain ohne der Hilfe der Eltern, die ihren Vorstellungen entgegen standen. Gerade der Weg ihrer Selbstverwirklichung hat bei ihr jedoch den Wunsch freigesetzt sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und auszusöhnen.

„Wir Strebermigranten“ ist die Geschichte vieler Polen und eine ganz persönliche der Autorin, ein Reisebericht, ein Familienroman und eine kulturelle Auseinandersetzung. Emilia Smechowski beobachtet scharf. Sie lenkt den Blick auf die aktuelle Flüchtlingslage und wirft Fragen nach der Möglichkeit einer besseren Integration auf. Das Buch bringt einen Abschnitt der Flüchtlingspolitik Deutschlands ans Licht, der bisher eher verborgen liegt. Die Aussagen des Buchs sind eine Beschäftigung mit ihnen wert und daher vergebe ich gerne eine Leseempfehlung.