Gewagtes, in der Gesellschaft nicht häufig thematisiertes Thema, das sehr berührend umgesetzt worden ist
Immer noch wachMit 30 Jahren die Nachricht zu bekommen, nur noch ein paar Monate zum Leben zu haben, ist schockierend und zieht einem den Boden unter den Füßen weg, wie der Protagonist Alex uns zeigt. Aber dabei auch ...
Mit 30 Jahren die Nachricht zu bekommen, nur noch ein paar Monate zum Leben zu haben, ist schockierend und zieht einem den Boden unter den Füßen weg, wie der Protagonist Alex uns zeigt. Aber dabei auch noch Erinnerungen aus der Kindheit zu haben, wie er diesen Weg schon bei einem ihm nahestehenden Menschen erlebt hat und die Vorstellung, dass dieser Kampf bei ihm genauso sein wird, machen es noch schlimmer. Da kann man fast schon verstehen, dass Alex sich gegen eine Behandlung und für ein Hospiz entscheidet. Doch was macht man, wenn man das Hospiz wieder lebend verlassen muss, wieder anfangen soll zu leben, unter den Menschen, bei denen das Leben zwischenzeitlich nicht stillgestanden hat? Sei an Alex Seite, wenn er genau diesen Weg gehen muss und erlebe eine berührende Geschichte, die den Wert des Lebens und der kleinen Augenblicke verdeutlicht.
Wir begleiten Alex mehr als ein halbes Jahr lang durch Höhen und Tiefen, doch wir lernen ihn noch weit mehr kennen und erfahren durch diverse Zeitsprünge, was für ein Mensch er vor seiner Diagnose, das heißt in seiner Kindheit, seiner Jugend und als Erwachsener war. Diese sind als Erinnerungen eingebaut und kommen ungefiltert und nicht chronologisch, was authentisch ist, denn Gedanken und Erinnerungen kommen im echten Leben auch wild durcheinander, ohne sich an eine chronologische Reihenfolge oder an einen korrekten Zeitablauf zu halten. Ohne, dass Jahreszahlen oder sonstige konkrete Zeitangaben dabei stehen, kann man die dargestellten Situationen trotzdem grob einordnen und klar zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden. Die Zeitsprünge sind meiner Meinung nach als ein stimmiges und inhaltsbezogenes Stilmitteln passend gesetzt worden.
Die sehr kurzen Kapitel sorgen für einen guten Lesefluss und passen auch stilistisch zum Inhalt, denn Alex' Erinnerungen kommen und gehen, immer zwischendurch und springen auch in der Zeit zum Teil weit umher. Seine Gedanken sind schnellebig und finden manchmal einfach keine Ruhe.
Es ist ein eindrücklicher Schreibstil gewählt worden, sodass ich beim Lesen das Gefühl hatte, mir alles bildlich vorstellen zu können. Die Atmosphäre wurde gut eingefangen, insbesondere in der Zeit, in der Alex im Hospiz war. Gut gefällt mir, dass nicht alles romantisiert, das heißt nicht alles als positiv dargestellt wird, sondern auch die Konsequenzen der Entscheidungen und der Verlauf einer solchen Krankheit sowie der Ablauf in einem Hospiz unbeschönigt aufgezeigt werden. Es waren sehr traurige Szenen dabei, die wir durch die Ich-Perspektive beinahe hautnah miterleben durften, doch durch die Rückblicke wurde die Atmosphäre immer wieder aufgelockert und es wurden auch schöne Gedanken, Erinnerungen und Szenen eingebaut, die oftmals trotzdem sehr berührend waren.
Wir Leser erkennen durch Alex' Augen den Wert der Freundschaft und was eine solche ausmacht - es ist nicht nur, dass wahre Freunde die eigenen Entscheidungen akzeptieren und einen bei der Umsetzung unterstützen, sondern sie sind immer für einen da und wenden sich nicht von einem ab, nur weil man schlecht gelaunt ist oder Mist gebaut hat. Alex hat das Glück, genau dies zu erfahren und wir Leser haben das Glück, dabei sein zu dürfen.
Mit der Situation, in der sich Alex befindet, möchte ich an keiner Stelle im Buch tauschen. Es stellt sich die Frage, was man alles noch in den letzten Monaten machen möchte, was einem wichtig ist und mit welchen Menschen man nicht im Frieden auseinander gegangen ist, dies aber vielleicht ändern möchte. In einer "normalen" Situation ist es schon keine leichte Aufgabe, sich darüber im Klaren zu sein, aber wenn einem dann zusätzlich noch die Zeit im Nacken sitzt, ist es noch schwieriger. Der Leitspruch des Hospizes, „den letzten Tagen mehr Leben geben“, ist treffend, jedoch stellt sich die Frage, was die Tage lebenswert macht und was in der Situation noch wirklich wichtig ist. Alex zeigt uns, dass es manchmal nicht die großen Dinge sind, die man unbedingt noch erleben muss, sondern kleine, scheinbar alltägliche Dinge, deren Wert wir durch diese Geschichte wieder besser verstehen können.
Alex' Gefühlskonflikt und Unsicherheit wird sehr gut herausgearbeitet. Nicht selten schwankt er zwischen seinen eigenen Wünschen/Plänen und zwischen der Erfüllung der Erwartungen anderer. Doch es wird immer wieder deutlich, dass jeder seine eigenen Träume und sein eigenes Leben leben darf und sollte, und dass andere zwar Vorschläge und Anregungen machen bzw. über die Entscheidung auch mal nicht so glücklich sein dürfen, aber sie diese letztendlich akzeptieren müssen.
Als es dann so weit ist und Alex doch noch viel mehr Zeit als ursprünglich gedacht zur Verfügung steht, ist es für ihn keine leichte Situation, denn er merkt schnell, dass sich die Welt weiter dreht, auch wenn er aus seinem vorherigen Leben "ausgestiegen" ist. Wie er sich dann verhält und welche Wege er einschlägt, mag man als Leser nicht immer für gut befinden, aber gerade diese Missverständnisse und Fehltritte machen ihn in meinen Augen authentisch, denn in einer solchen Situation gibt es kein richtig oder falsch und auch, wenn er weiser damit hätte umgehen können und sich nicht so von seiner Vergangenheit hätte leiten lassen sollen, so darf man nicht vergessen, dass es für ihn eine Ausnahmesituation war und er auch zum ersten Mal lebt - Fehler machen bzw. nicht die rational weisesten Entscheidungen zu treffen, ist menschlich.
Die Idee der Geschichte ist nicht neu, aber die Umsetzung finde ich sehr schön.
Ich konnte einiges aus diesem Buch mitnehmen bzw. mich in manchen Punkten noch einmal bestärken. Und auch, wenn es keine großen überraschenden inhaltlichen Wendungen gibt, machen diese kleinen Anregungen zum Nachdenken das Buch so wertvoll.
Ich kann dieses Buch nur empfehlen, wenn ihr etwas mit tiefgründigen Gedanken sowie mit emotionalen Szenen lesen möchtet, aber nicht vor einer traurigen Grundstimmung zurückschreckt - es lohnt sich!