Profilbild von Helena89

Helena89

Lesejury Star
offline

Helena89 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Helena89 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.04.2020

Wie eine Begegnung das Leben verändern kann

Der Wald, vier Fragen, das Leben und ich Von einer Begegnung, die alles veränderte
0

„Die Arbeit läuft dir nicht davon, während du deinen Kindern den Regenbogen zeigst, aber der Regenbogen wartet nicht, bis du mit der Arbeit fertig bist.“

Als ich das Büchlein „Der Wald, vier Fragen, das ...

„Die Arbeit läuft dir nicht davon, während du deinen Kindern den Regenbogen zeigst, aber der Regenbogen wartet nicht, bis du mit der Arbeit fertig bist.“

Als ich das Büchlein „Der Wald, vier Fragen, das Leben und ich“ aus dem Umschlag herausnahm, hatte ich den Eindruck eine Broschüre zur Lebenshilfe in den Händen zu halten: Das Buch ist äußerst klein, dünn und kompakt; das Cover vermittelt Lebensfreude, Ausgeglichenheit und Ruhe. Es lädt dazu ein, es zu öffnen und in den Inhalt einzutauchen - dieser Einladung leistet man auch direkt Folge.

Für ein bis zwei Stündchen taucht man in das Leben der Ich-Erzälerin ein, die uns in schlichter, schnörkelloser Sprache von einer schicksalhaften Begegnung erzählt, die ihr Leben verändert. Die Ich-Erzählerin ist Ehefrau und Mutter zweier Kinder, sie ist erfolgreich in ihrem Beruf, hat ein großes Haus mit Garten und kann mehrmals im Jahr in den Urlaub fliegen. Eigentlich müsste sie glücklich sein, doch sie fühlt sich zunehmend ausgelaugt und gestresst. Kaum kommt sie von der Arbeit nach Hause zurück, wartet ein Berg an Haushaltsarbeit auf sie, der bewerkstelligt werden möchte. Die Ich-Erzählerin hat den Eindruck, dass ihr die Zeit, ihr Leben durch die Finger rinnt: Sie hat keine Zeit für ihre Kinder, ihren Mann, ihre Freunde, für sich selbst. Da begegnet sie im Wald an ihrem Lieblingsplatz einer älteren Frau, die sie etappenweise mit den vier Fragen des Lebens konfrontiert, die das Leben der jungen Frau verändern sollen.

Tessa Randau inspirierte ihre eigene Arbeit als selbstständige Stress- und Burnout-Beraterin zu ihrem Buch „Der Wald, vier Fragen, das Leben und ich“, das halb Sachbuch, halb Fiktion ist. Sie wurde von dem Wunsch geleitet, möglichst vielen Menschen dabei zu helfen, einen erfüllenden Lebensweg zu finden. Mit einer alltagsnahen Geschichte, in der sich wohl jede Frau mehr oder weniger wiederfinden wird, führt sie uns vor Augen, wie wir unser Leben überdenken und umgestalten können, sodass wir zu einem erfüllten und glücklichen Dasein gelangen. Wir müssen nur vollkommen ehrlich gegenüber uns selbst die vier Fragen des Lebens beantworten.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.04.2020

Ein charmantes Zeitdokument

Die Kunst des stilvollen Wanderns – Ein philosophischer Wegweiser
0

„Leben ist nicht die Länge der Zeit, sondern die Breite der menschlichen Erfahrung.“

Stephan Graham war ein leidenschaftlicher Wanderer. Wer glaubt, mit dem Buch „Die Kunst des stilvollen Wanderns“ nimmt ...

„Leben ist nicht die Länge der Zeit, sondern die Breite der menschlichen Erfahrung.“

Stephan Graham war ein leidenschaftlicher Wanderer. Wer glaubt, mit dem Buch „Die Kunst des stilvollen Wanderns“ nimmt er einen Ratgeber in die Hand, der ihn darin unterweist, wie er kleine Wanderungen, Tagesausflüge am besten bewerkstelligt, der irrt sich gewaltig. Stephan Graham möchte uns beibringen wie wir ganze Länder zu Fuß erforschen können, er schildert die Art des Reisens und Erkundens eines „wahren Bohemiens und Lebenswanderers“. Das Wandern ist für Graham nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern eine eigene Lebensform, die eine einzigartige Philosophie und Stärke in sich birgt: „Wandern ist eine Kunst: Derjenige, der weiß, wie man wandert, weiß auch, wie man lebt.“

Das Wandern ist in vieler Hinsicht absolut einzigartig. Man fühlt sich eins mit der Natur und dem Universum. „Sie werden spüren können, wie wohltuend es ist, sich ins rechte Verhältnis zu Gott, der Natur und den Mitmenschen zu setzen.“ Man versteht intuitiv so vieles, was man in der Stadt, in seinem eingefahrenen zivilisatorischen Leben nicht versteht: „Das Leben wird nicht etwa von Stunde zu Stunde, Tag zu Tag, Jahr zu Jahr immer großartiger - sein Wert steckt im Augenblick, nicht im Langstreckenlauf.“ Deshalb ermuntert Graham den Wanderer auch zum Verweilen: „Die Natur versucht, uns etwas mitzuteilen. Sie spricht zu uns auf einer Langwelle.“

Dabei legt er uns nicht nur ganz konkrete Ratschläge zur Hand, die u. a. die Ausrüstung, das Entfachen von Feuer und die Schutzsuche bei Gewittern betrifft, sondern möchte uns auch auf philosophische Weise mit dem Lebensgefühl vertraut machen, welches das Wandern vermittelt. So spricht der Autor beispielsweise davon, welche Bedeutung Lieder und Dichtung auf die Qualität des Wanderns hätten: „Die Unbeschwertheit bringt Lieder hervor. Wir singen beim Gehen und gehen beim Singen und lassen so Kilometer um Kilometer hinter uns. [...] Gesang und Dichtung machen den Wanderer zum Bürger des Universums, ein paar Augenblicke lang kennt er sämtliche Geheimnisse und Mysterien, Tiefen und Höhen.“ Oder wie erquicklich es sei, ein Wandertagebuch zu führen: „Ihr eigener Gedanke, niedergeschrieben an dem Tag, an dem er Ihnen kam, ist wie ein mentaler Schnappschuss. [...] Am Ende einer langen Wanderung werden Sie sich freuen, ein Buch vor sich zu haben, das über und über mit Notizen bedeckt ist. Es protokolliert gewissermaßen die geistige Dimension Ihres Abenteuers und erinnert Sie daran, wenn Sie in späteren Jahren darin blättern.“

Stephan Graham, der ein äußerst belesener Schriftsteller ist, ergötzt uns immer wieder mit passenden Zitaten aus der schönen Literatur – vornehmlich Shakespeare und Kipling – sowie, zum Teil abgewandelten, Bibelzitaten. Ein erheiterndes Beispiel für ein abgewandeltes Bibelzitat wäre zum Beispiel folgendes: Der Autor beschreibt wie er mit seiner Frau, die von ihm entwickelte Zickzack-Methode bei der Erkundung von Städten auf London anwandte, wobei sie auf eine vermeintliche Sackgasse stießen: „Wir fürchteten [...] umkehren zu müssen, da entdeckten wir ein Nadelöhr, durch das der reiche Mann ins göttliche Reich des Green Park gelangt.“

„Die Kunst des stilvollen Wanderns“ ist nicht nur ein interessantes Zeitdokument, das uns Aufschluss über den damaligen Lebensstil, gesellschaftliche Zustände und den Zugang zur Natur gibt, sondern ist eine Quelle der Inspiration und des Vergnügens. Es ist sowohl kurzweilig als auch philosophisch. Gelten viele der Empfehlungen und Ratschläge für heute als überholt – schließlich ist der Ratgeber fast hundert Jahre alt – bleibt doch vieles von dem, was der Autor schreibt, für immer zeitlos: „Es ist nicht die Luft allein, die heilt und erfüllt, sondern das, was man mit ihr atmet: den Geist der freien Natur, die weite des Himmels. Man greift nach dem grenzenlosen Horizont. Das lässt einen Menschen wachsen, verleiht ihm innere Stärke. [...] Ganz allein soll man im Mittelpunkt der Welt stehen, und das göttliche Bilderbuch wird einem in die Hände gelegt, damit man es öffnen, betrachten und in seinen prachtvollen Seiten blättern kann.“

„Die Kunst des stilvollen Wanderns“ ist zweifellos ein Klassiker, der in keinem Bücheregal fehlen sollte!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.03.2020

Natur, Poesie und das Leben

Offene See
0

„Möge das Heute für immer währen, Robert. Begreifst du, was wir hier machen? Wir untergraben just das, was die Menschheit zusammenhält. Wir werfen die Ketten ab. Ist das nicht genial?“

Während seiner ...

„Möge das Heute für immer währen, Robert. Begreifst du, was wir hier machen? Wir untergraben just das, was die Menschheit zusammenhält. Wir werfen die Ketten ab. Ist das nicht genial?“

Während seiner Wanderung durch England trifft der sechzehnjährige Robert auf Dulcie Piper, eine äußerst unkonventionelle ältere Dame. Aus ein paar Stunden werden Tage, aus Tagen werden Wochen. Robert bleibt den ganzen Sommer bei Dulcie. Während er das heruntergekommene ehemalige Cottage neben ihrem Haus wieder auf Vordermann bringt und abends im Meer schwimmt, kocht Dulcie für sie beide und eröffnet Robert, der aus einer einfachen Bergarbeiterfamilie aus dem Norden stammt, die Welt der Bücher und der Poesie, denn „ein gutes Gedicht bricht die Austernschale des Verstandes auf, um die Perle darin freizulegen. Es findet Wörter für Gefühle, deren Definitionen sich allen Versuchen des verbalen Ausdrucks entziehen.“

Sie wird zu seiner Lehrerin und Mentorin, die ihn darin ermutigt, aus vorgefertigten Lebensschemata auszubrechen (wenn er von seiner Wanderschaft zurückkehrt, soll er in die Fußstapfen seines Vaters treten und im Bergbau arbeiten) und das zu tun, wofür er wirklich brennt: „Jeder junge Mann, der sein Leben geplant hat, ist zu bemitleiden, da Pläne kaum Platz für Zufälle und unerwartete Entdeckungen lassen. Und überdies ist jeder Mensch an sich [...] eine sich ständig verändernde Entität, ebenso wie die Welt um ihn herum. Was für ein trostloses Leben führen doch diejenigen, die sich familiären Erwartungen oder Traditionen beugen. [...] Du musst dein Leben haargenau so leben, wie du willst, nicht für irgendjemand anderen.“

Doch Robert profitiert nicht nur von der Lebensweisheit und Güte der älteren Frau, die ihn ohne jegliche Vorbehalte bei sich aufnimmt, er bringt auch seinerseits Licht in das Leben Dulcies: Während seiner Renovierungsarbeiten stößt er auf eine Mappe mit Gedichten. Wie sich herausstellt, stammen sie von der deutschen Dichterin Romy, die mit Dulcie in enger Freundschaft verbunden war, sich aber vor sechs Jahren das Leben nahm. Dulcie hat nie die hinterlassenen Gedichte gelesen, unter Roberts Einfluss fühlt sie sich jedoch schließlich der Herausforderung gewachsen und öffnet sich gegenüber Romys Poesie. So widmen sie sich von nun an jeden Abend einem Gedicht, bis sich am Ende herausstellt, dass Romy einen persönlichen Abschiedsgruß an Dulcie versteckt hat. Auf diese Weise kann Dulcie mit der Tragödie Frieden schließen und bringt schließlich auch deren Gedichte heraus.

Was Robert über den Gedichtband schreibt, könnte man auf das Buch „Offene See“ selbst anwenden: „Ich hielt ein dünnes, kunstvoll gebundenes Buch mit geprägtem Einband in den Händen. [...] Es war traumhaft schön.“ Und das ist es wirklich: Ein Kleinod hält man mit dem Roman „Offene See“ in Händen - sowohl äußerlich als auch innerlich. Der Roman kommt leicht und leise daher. Man muss sein Herz und seinen Verstand öffnen, um all die zarten Klänge wahrzunehmen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.03.2020

Auf der Suche nach dem gelobten Land

Eine fast perfekte Welt
0

„Papa, glaubst du, das Kind wird sterben?“
„Nein, ich glaube, das war nur ein Versuch. Kann man es ihm verübeln? Er sehnt sich nach einer anderen Welt. Einer perfekten Welt. Daran leiden wir doch alle. ...

„Papa, glaubst du, das Kind wird sterben?“
„Nein, ich glaube, das war nur ein Versuch. Kann man es ihm verübeln? Er sehnt sich nach einer anderen Welt. Einer perfekten Welt. Daran leiden wir doch alle. Aber dann finden wir uns irgendwie zurecht. Auch Gregorio wird sich zurechtfinden. Bestimmt spürt er, dass wir hier draußen auf ihn warten und dass wir ihn lieben. Vielleicht reicht ihm das bereits, um zu beschließen, hierzubleiben.“

Ester lebt auf Sardinien. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als dass sie ihr Verlobter Raffaele von diesem steinigen Leben wegbringt. Doch kaum ist sie mit ihrem Mann in Genua und dann in Mailand, wünscht sie sich ihr altes Leben auf Sardinien zurück. Als sie nach vielen Jahren schließlich mit Raffaele und ihrer Tochter Felicita dorthin zurückkehrt, stellt sie fest, dass das Leben, das sie zunächst verabscheut und nach dem sie sich später jahrelang gesehnt hat, doch nicht das Wahre ist. Felicita dagegen fühlt sich überall wohl, wo das Schicksal sie hinführt. So lebt sie sowohl gerne in Mailand und dann auf Sardinien als auch in Cagliari, wo sie hinzieht, um dort mit ihrem unehelichen Sohn Gregorio zu leben. Gregorio wiederum, der mit der Zeit ein großes Talent im Klavierspielen entwickelt, zieht es nach New York, in die Stadt des Jazz, wo er sein persönliches Glück zu finden hofft.

Milena Agus legt uns mit „Eine fast perfekte Welt“ eine moderne Fabel dar, in der die Figuren auf einige wenige Merkmale reduziert werden und der Roman voller symbolischer Szenen ist. Ester, Raffaele, Felicita, Gregorio und einige weitere Figuren haben eine Gemeinsamkeit – sie suchen nach dem gelobten Land, ihrem eigenen, persönlichen gelobten Land. Während Ester beispielsweise zu den Personen gehört, die ihr ganzes Leben lang auf der Suche sind und nie dort, wo sie sich gerade befinden, glücklich sind, ist Felicita das genaue Gegenteil von ihr. Sie findet sich an jedem Ort, wo sie das Schicksal verschlägt, zurecht und findet zu persönlichem Glück. Felicita wird somit zur Verkünderin ermutigender Lebensweisheiten, von denen wir profitieren können, denn schließlich sind wir ja alle in gewisser Weise auf der Suche nach unserem eigenen gelobten Land. Einige sind an dem Ort, wo sie leben, und mit dem, was sie haben, vollkommen zufrieden; andere sind stets auf der Suche nach etwas Größerem, Schönerem, Optimalerem. Vielleicht ist das gelobte Land auch kein Dauerzustand, sondern äußert sich in den wenigen, flüchtigen Momenten unseres Lebens? In einer Berührung, einem Duft, einer Melodie?

Milena Agus' „Eine fast perfekte Welt“ kann nicht mit denselben Maßstäben wie ein Roman gemessen werden, denn die Geschichte ist wenig romanhaft. Eine richtige Handlung fehlt, die Figuren bleiben schemenhaft. Die Autorin wollte uns vielmehr ein Werk mit Symbolkraft darlegen. Zu den Figuren konnte man somit keine Verbindung aufbauen und einige der symbolhaften Versatzstücke und Geschichten haben sich mir in ihrer Aussage nicht erschlossen, weshalb ich nur drei Sterne vergebe. Alles in allem ist „Eine fast perfekte Welt“ aber ein lesenswerter Roman, der je nach gegenwärtiger Situation des Lesers wohl in seiner Wirkungsintensität stark variieren kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.03.2020

Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen kann

Miracle Creek
0

„Das hier war mal ein Unfall, aber durch das ständige Vertuschen sind wir alle zu Mördern geworden.“

Pak, Young und Mary Yoo, eine Immigrantenfamilie aus Südkorea, betreiben in Miracle Creek, einem kleinen ...

„Das hier war mal ein Unfall, aber durch das ständige Vertuschen sind wir alle zu Mördern geworden.“

Pak, Young und Mary Yoo, eine Immigrantenfamilie aus Südkorea, betreiben in Miracle Creek, einem kleinen Städtchen im Staat Virginia, die so genannte „Miracle Submarine“ – eine spezielle Druckkammer zur hyperbaren Sauerstofftherapie, der man gute Resultate bei der Behandlung von Autismus, Nervenleiden, Unfruchtbarkeit und vielen anderen Krankheiten nachsagt. Am 26. August 2008 ereignet sich dort ein schreckliches Unglück. Während einer Behandlungssitzung bricht an einem der Sauerstofftanks Feuer aus und fordert zwei Todesopfer – Kitt, Mutter von fünf Kindern, und Henry, einen achtjährigen autistischen Jungen – sowie mehrere Verletzte – Matt, der beim Versuch Henry zu helfen, seine Hände verliert, Pak erleidet eine Lähmung, Mary liegt im Koma, die restlichen Patienten tragen wie durch ein Wunder lediglich eine Lungenvergiftung davon. Als ein Jahr später der Prozess wegen Brandstiftung und Mord gegen Henrys Mutter, Elizabeth Ward, geführt wird, sollen auch die Youngs gegen sie aussagen. Doch je weiter der Prozess voranschreitet, desto dünner wird die Beweislage gegen Elizabeth und das Netz aus Lügen und Verheimlichungen zieht sich zu einer immer engeren Schlinge zusammen, die nicht nur den Anklägern und Zeugen, sondern auch dem Leser die Luft abschnürt ...

Vor dem Hintergrund einer menschlichen Tragödie und eines spannungsreichen Gerichtsprozesses tauchen wir in das Innenleben von sieben Figuren ein. Wir tauchen in die Innensicht von Elizabeth Ward ein, die ihren Sohn von morgens bis abends zu verschiedenen Spezialisten und Therapieformen fährt, die keiner Mühen und Kosten scheut, um den Gesundheitszustand ihres Sohnes zu verbessern. Die aber auch oft die Geduld mit ihm verliert, die sogar Hass und Scham empfindet...

Da ist Teresa Santiago, die von allen Mutter Teresa aufgrund ihrer selbstlosen Aufopferung, mit der sie ihre im Rollstuhl sitzende Tochter Rosa pflegt, genannt wird. Trotz ihrer aalglatten Reputation ist auch sie nicht frei von dunklen Gedanken, die so dunkel sind, dass sie eigentlich nicht gedacht, geschweige denn ausgesprochen werden sollten – und die doch nur menschlich sind...

Wir tauchen in Janine Chos Innenleben ein, die mit Matt verheiratet ist. Sie ist eine strebsame Ärztin, die ihr Leben lang alle Ziele, die sie sich gesetzt hat, erreicht und stets auf der Suche nach neuen Herausforderungen ist. Mit derselben Beharrlichkeit, um nicht zu sagen Fanatismus, verschreibt sie sich dem Ziel schwanger zu werden. Da es nicht gelingt, sieht sich Matt gezwungen zweimal täglich an Sitzungen in der Luftdruckkammer teilzunehmen...

Matt, der 33-jährige Arzt, verbittert und von jeglichem sexuellen Verlangen gegenüber seiner Ehefrau beraubt, rebelliert gegen Janines verkrampfte und sterile Umgangsweise mit dem Problem, indem er sich mit Mary Yoo trifft und die beiden zusammen heimlich rauchen. Mit Mary kann Matt sich nicht nur wunderbar unterhalten, sie ist auch schön und voller jugendlichem Reiz. Und so merkt Matt selbst nicht, wie er immer stärkere Gefühle für Mary entwickelt...

Die siebzehnjährige Mary, die vor fünf Jahren mit ihrer Mutter nach Baltimore kam, findet sich weiterhin in ihrer neuen Heimat nicht zurecht. Sie rebelliert gegen ihre Eltern und das ihr von den beiden aufgezwungene Leben und bringt sich selbst damit in Schwierigkeiten...

Auch Pak findet sich in Amerika nicht zurecht: „Pak auf Englisch war ein anderer Mensch als Pak auf Koreanisch. Wahrscheinlich konnten Einwanderer überhaupt nicht anders, als sich in eine neue kindliche Ausgabe ihrer selbst zu verwandeln – ihres Redeflusses beraubt und damit automatisch teilweise ihrer Kompetenz und Reife. [...] Auf Koreanisch war er ein selbstbewusster Mann, angesehen und gebildet. Auf Englisch war er ein taubstummer Trottel, nervös und ungebildet.“

Und schließlich Young – die wohl stärkste Person in diesem Roman, die sich ihrer eigenen Stärke nicht bewusst ist. Sie ist klug und bewundernswert aufopferungsvoll. Ihr einziger Fehler besteht darin, in den falschen Momenten nachgegeben zu haben. Und doch ist sie es, die im entscheidenden Moment nicht schwankt: „Wir haben alle irgendwelche Erklärungen für unser Verhalten. [...] Ein ganzes Jahr lang haben wir in Bezug auf so viele Dinge gelogen, haben eigenmächtig entschieden, was richtig ist und was nicht, was wichtig ist und was nicht. Wir alle tragen Schuld.“

Angie Kim stellt sich als Meisterin darin heraus, uns die Handlungen verschiedenster Menschen begreiflich zu machen. Sie verfolgt die Ursprünge bis zu ihren Wurzeln zurück. Hadert man auch hin und wieder mit einer der Figuren, komplett ablehnen kann man sie nicht, denn es wird deutlich, dass sie alle in ihren Handlungen von zutiefst menschlichen Gefühlen getrieben werden.

Die Autorin hat einiges aus ihrem eigenen Leben in den Roman einfließen lassen. So wie die Yoos stammt sie aus Südkorea und ist im Alter von elf Jahren mit ihren Eltern nach Baltimore gezogen, wo ihre Eltern ein Lebensmittelgeschäft eröffneten. Aus ihrem späteren Leben als Anwältin sollte sie ihr juristisches Wissen in diejenigen Romanpassagen, die im Gerichtsaal spielen, einfließen lassen. Die wichtigste Inspirationsquelle für „Miracle Creek“ sollte aber sicherlich die einmonatige HBO-Therapie sein, der sich ihr damals zweijähriger Sohn, der an einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung litt, unterzog und den sie zu den Behandlungssitzungen begleitete. In dieser Zeit hatte Angie Kim Einblick in das Leben von Müttern autistischer und behinderter Kinder. Auf diesem Wege, so die Autorin, änderte sich ihre Sichtweise auf das Leben selbst und die Relativität des Glücks. Diese Relativität des Glücks versucht die Autorin in ihrem Roman zu ergründen, was ihr auch wunderbar gelingt.

Angie Kim legt uns mit „Miracle Creek“ nicht nur sieben psychologische Persönlichkeitsstudien dar, die uns in menschliche Abgründe eintauchen lassen. Sie bietet uns nicht nur ein spannungsreiches und bewegendes Justizdrama. Sie konfrontiert uns nicht nur mit der Problematik der Identitätskrise von Immigranten und wie Sprache eine Identität mitbegründen kann. Sie führt uns auch behutsam und doch so frappierend intensiv in die Realität eines Lebens mit einem autistischen Kind und in die Extreme von mütterlicher Aufopferung ein.

Es ist nicht nur ein Roman, den man nicht aus der Hand legen kann, nicht nur ein Roman, der bewegt und erschüttert, und auch nicht nur ein Roman, der nachhallt. Es ist ein Roman, der uns durchdringt und verändert, ein Roman „über die Wahrheiten, die jeder von uns verbirgt.“

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere