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Veröffentlicht am 17.12.2021

„Was, wenn…?“

Stell dir vor ...
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„Der israelische Historiker Yuval Noah Harari vertritt die These, dass der Mensch deshalb zum mächtigsten Geschöpf auf Erden geworden ist, weil er über Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit, Geschichten ...

„Der israelische Historiker Yuval Noah Harari vertritt die These, dass der Mensch deshalb zum mächtigsten Geschöpf auf Erden geworden ist, weil er über Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, verfügt und weil er sich fragen kann: „Was, wenn?“ Und genau das hat Rob Hopkins, der Autor des Sachbuches „Stell dir vor…“ und Mitbegründer der Transition-Towns-Bewegung getan. Er hat sich gefragt, was es braucht, um die negativen Zukunftsvorhersagen abzukehren und an ihrer Statt ein lebenswertes Gesellschaftskonzept zu begründen. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es jedoch vieler Schritte. Und diese legt uns Rob Hopkins in seinem Buch vor. In acht Kapiteln zeigt und erläutert er dem Leser die elementaren Komponenten für das Gelingen einer positiven Bewegung hin zu einer besseren Welt.

So zeigt er uns, dass das freie Spielen in der Kindheit die Basis dafür bietet, dass man als Erwachsener über Fantasie und Vorstellungsvermögen verfügt. Die Fantasie ist wiederum, wie Rob Hopkins uns verdeutlicht, unser wichtigster Verbündete gegen die Angst und somit von elementarer Wichtigkeit für unsere mentale und physische Gesundheit. Weiterhin ist die Natur der Grundstein und Nährboden für unsere Vorstellungskraft – je mehr wir in der Natur verweilen, desto glücklicher und schöpferischer sind wir. Verbringen wir jedoch wenig Zeit in der Natur, verkümmert unser Geist. Denn was tut der heutige Mensch oftmals stattdessen? Genau, er sitzt vor dem Handy, Laptop oder Computer. Die Social Media rauben unsere Aufmerksamkeit und damit eines unserer wichtigsten Güter – unsere Lebenszeit. Rob Hopkins ruft dazu auf, dass wir unsere Aufmerksamkeit zurückgewinnen. Auch das Schulsystem gehört reformiert, so der Autor von „Stell dir vor…“, denn nur wenn die Vorstellungskraft junger Menschen gefördert wird, können Menschen heranwachsen, die Problemlösungsansätze entwickeln können. Deswegen braucht unsere Gesellschaft auch so genannte Geschichtenerzähler, die uns mit ihrer Kunst beflügeln. Nicht zuletzt braucht es auch fantasievolle Politiker, bei deren Entscheidungsfindung die Einbildungskraft eine ausschlaggebende Rolle spielt. Das sind die Grundpfeiler für eine glückliche Gesellschaft und eine bessere Welt. Ich habe die wichtigsten Thesen des Autors hier grob zusammengefasst, doch wer sich eingehender mit dem Thema beschäftigen möchte, der sollte unbedingt zu „Stell dir vor…“ greifen. Es ist ein Buch, das gute Denkanstöße liefert und von positiven Entwicklungen von überall auf der Welt berichtet. Es hat zuweilen seine Längen und Repetitionen, nichtsdestotrotz ist es ein lesenswertes Sachbuch. Und wer weiß, vielleicht verliebst du dich auch in diese beiden kleinen Wörter: „Was, wenn…?“

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Veröffentlicht am 30.11.2021

Ein informativer und schön illustrierter Bildband

Was uns schmeckt
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Mit „Was uns schmeckt. Ein Atlas der Köstlichkeiten“ liegt uns ein informatives Buch aus der Feder Laura Gladwins vor, das uns in die kategorisierte Welt der Essbarkeiten entführt. Illustriert wurde es ...

Mit „Was uns schmeckt. Ein Atlas der Köstlichkeiten“ liegt uns ein informatives Buch aus der Feder Laura Gladwins vor, das uns in die kategorisierte Welt der Essbarkeiten entführt. Illustriert wurde es von Zoë Barker und übersetzt von Ursula Heinzelmann. Unterteilt ist es in die Oberkategorien „Obst“, „Gemüse“, „Fleisch, Fisch & anderes Protein“, „Mehl, Nudeln, Reis & andere Stärke“ und „Der Vorratsschrank“. „Obst“ ist beispielsweise weiter in „Zitrusfrüchte“, „Äpfel & Birnen“, „Beeren“, „Trauben, Feigen & Melonen“, „Steinobst“ und „Tropische Früchte“ unterteilt. Jeder Kategorie wird eine große Doppelseite gewidmet mit einer Einführung und einer Auflistung der entsprechenden Objekte – also einer Zeichnung und einem kurzen Text dazu. Diese Vorgehensweise ist perfekt, um einen guten Überblick und eine Vorstellung zu erhalten, die sich im Gedächtnis festsetzt. „Was uns schmeckt“ ist quasi ein kleines Lexikon zum Essen.

Die Illustrationen sind wirklich sehr schön, die Informationstexte enthalten das Wesentliche, ohne überladen zu sein und die Gliederung ist einleuchtend. Was mir besonders gut gefallen hat, sind die zehn Rezepte bzw Ideen für jede der im Buch vorgestellten Kategorien, die neben den bereits genannten Obstkategorien folgende sind: „Erbsen & Bohnen“, „Zwiebel & Lauch“, „Kürbisse“, „Wurzelgemüse & Knollen“, „Blattgemüse & Algen“, „Triebe, Stiele & Sprossen“, „Tomaten, Paprika & Auberginen“, „Blattsalate & Gemüse“, „Pilze & Trüffel“, „Eier & Eierspeisen“, „Vegetarische Nahrungsmittel“, „Milch, Joghurt, Sahne & Butter“, „Käse“, „Fisch & Meeresfrüchte“, „Geflügel“, „Rotes Fleisch“, „Schweinefleisch, Schinken, Speck & Würstchen“, „Frühstücksflocken & Gebäck“, „Mehl & Maisgrieß“, „Nudeln“, „Reis, Körner & Couscous“, „Getrocknete Bohnen, Erbsen & Linsen“, „Brot“, „Pfannkuchen, Waffeln & Crumpets“, „Kuchen“, „Nachspeisen“, „Kekse“, „Saures & Würziges“, „Öl, Essig, Würzsaucen & Pasten“, „Würzmittel, Gewürze & Kräuter“, „Nüsse, Samen & getrocknete Früchte“, „Backzutaten“.

Empfehlen würde ich das Buch Kindern ab ca. zwölf Jahren, die bereits selbst ein wenig in der Küche experimentieren können, denn es ist nicht nur schön, die Bilder und Texte zu studieren; das Buch macht auch große Lust, selbst in der Küche tätig zu werden. Auch für Erwachsene, die neue Inspiration brauchen, ist es ideal. Ich habe jedenfalls in fast jeder Kategorie Nahrungsmittel entdeckt, die ich noch nicht kannte. Es gab nur ein paar kleinere sprachliche Ungenauigkeiten, weshalb ich nicht die volle Punktzahl vergebe.

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Veröffentlicht am 15.07.2021

Dunkle, intensive Tiefe

Auszeit
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„Es kommt mir vor, als würden sich im Leben der allermeisten Menschen die Dinge einfach irgendwie fügen. Nicht zwangsläufig zum Guten, aber sie fügen sich eben, das heißt, sie haben eine gewisse innere ...

„Es kommt mir vor, als würden sich im Leben der allermeisten Menschen die Dinge einfach irgendwie fügen. Nicht zwangsläufig zum Guten, aber sie fügen sich eben, das heißt, sie haben eine gewisse innere Logik, einen Zusammenhang. Nur mein Leben erscheint mir komplett zufällig, wie eine kaum zu bewältigende Leere, eine Fläche, in die ich dringend einen Pfosten einschlagen muss, bevor es zu spät ist.“

Henriette promoviert seit längerem an der Uni, sie schreibt an einer Kulturgeschichte über den Werwolf im internationalen Vergleich. Eigentlich wollte sie nie promovieren, aber „dann habe ich mit allem so lange gebraucht, dass es mir als das einzig Sinnvolle erschien, weiterzumachen.“ Doch sie kommt nicht weiter, Henriettes Leben befindet sich in einem Zustand der Stagnation. „Mir fehlt auf elementare Weise der innere Antrieb. Meine ganze Energie wandert in Gedanken, die nichts mit der Realität zu tun haben. Ich verbringe Stunden damit, Dinge zu planen, die ich genauso gut einfach tun könnte. Mir fällt zu viel zu den falschen Dingen ein.“ Als Henriette ungewollt schwanger wird, hat sie das Gefühl, mithilfe dieses Kindes aus ihrer Depression herauszukommen. „Etwas daran machte mich stolz, es riss mich aus meiner Beliebigkeit, gab mir ein Gefühl der Verantwortung. […] Das Kind […] fügte der Situation einen weiteren Jemand hinzu, der etwas mit mir machen, der mich von außen bearbeiten und mir etwas vorgeben würde.“ Doch als sie den Vater des Kindes über ihre Schwangerschaft in Kenntnis setzt und dieser sie fortan mit Nachrichten bombardiert, kippt Henriettes innere Einstellung ins Entgegengesetzte. Sie entscheidet sich für eine Abtreibung: „Ich fühlte mich stark, auf eine neue, dunkle Weise, ich hatte eine Entscheidung gegen die Natur getroffen, gegen meine Natur. Ich hatte, so fühlte ich mich in diesem Moment, zum ersten Mal in den Lauf der Dinge auf eine Weise eingegriffen, die relevant war. Ich würde ich Zukunft spüren, wo ich anfing und wo ich aufhörte, weil ich, vielleicht zum ersten Mal, wirklich eine Grenze überschritten hatte.“ Doch Henriette soll sich irren, nach der vorgenommenen Abtreibung fällt sie in eine noch dunklere Tiefe als zuvor. Henriettes beste Freundin, Paula, überredet sie zu ein paar Tagen in einer Hütte im bayrischen Wald. Dort stellt sich Henriette ihrer eigenen persönlichen Wahrheit.

Hannah Lühmann ist es mit ihrem kurzen, sehr intensivem Roman gelungen, ein wahrhaftes Bild des psychischen Zustandes einer Frau, die eine Abtreibung vorgenommen hat, zu zeichnen. In nur wenigen Sätzen bringt sie die Trauer und die Unmöglichkeit zur Trauer einer solchen Frau zum Ausdruck. „Um das Kind kann ich in zweifacher Hinsicht nicht trauern: weil ich es getötet habe. Es wäre eine selbstgerechte Trauer, die das Betrauerte verlacht. Und, aber dieser Grund wiegt weniger schwer: weil ich es nicht kannte, das Kind.“ Die Leserin taucht ein in die dunkelste Tiefe einer Frau, die es geben kann. Und es gelingt ihr das fast Unmögliche: Auch jede Frau, die niemals in ihrem Leben abgetrieben hat, ist im Stande zu verstehen, was es bedeutet und was es mit einem macht. Hannah Lühmann ist ohne Zweifel eine große Schriftstellerin, die uns in psychologische Tiefen mitreißt und uns am Ende wieder völlig unerwartet an die Oberfläche rauswirft. Atemlos, bewegt, geläutert. Lediglich das abrupte Romanende mit seinem Abschluss hat mich nicht vollkommen überzeugt. Nur deswegen vergebe ich keine volle Sternebewertung.

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Veröffentlicht am 30.04.2021

Ein solider Thriller mit vielen unerwarteten Wendungen

Eine perfekte Ehe
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„Das Einzige, was Amanda wirklich konnte, war laufen. So weit und so schnell wie möglich. Das tat sie schon seit Jahren. Es war ihre Art, sich selbst Halt zu geben, auch in Zeiten, in denen sie sich völlig ...

„Das Einzige, was Amanda wirklich konnte, war laufen. So weit und so schnell wie möglich. Das tat sie schon seit Jahren. Es war ihre Art, sich selbst Halt zu geben, auch in Zeiten, in denen sie sich völlig verloren fühlte. Vermutlich lief sie deshalb sogar in ihren Träumen.“

Für die New Yorker Anwältin Lizzie Kitsakis kommt der Hilferuf ihres alten Studienfreundes Zach aus der berüchtigten Haftanstalt Rikers Island denkbar ungelegen. Eigentlich versucht sie ihrem Ehemann Sam mit seiner Alkoholsucht zu helfen und einen gewaltigen Schaden, den Sam verursacht hat, abzubezahlen. Doch Zach wird verdächtigt, seine Frau ermordet zu haben, und glaubt, dass Lizzie die einzige ist, die ihn überzeugend verteidigen kann. Und so kommt es schließlich, dass sie in einer Sache ermittelt, die ihr völlig fremd ist. Je mehr Lizzie über die Ehe ihres Mandanten herausfindet, desto mehr häufen sich die Ungereimtheiten. Nicht nur Zach selbst, auch die Freunde seiner Frau Amanda scheinen etwas vor Lizzie geheim halten zu wollen. Je mehr Lizzie in den Mordfall eintaucht, desto unentwirrbarer erscheint der Knäuel aus Beweisen und Motiven. Als dann plötzlich ein schockierendes Beweismittel auftaucht, steht Lizzies Welt von einem Augenblick auf den anderen komplett auf dem Kopf…

Kimberly McCreight hat mit ihrem Buch „Eine perfekte Ehe“, das im Original „A Good Marriage“ heißt, einen soliden Thriller geschaffen, der einen bis zur letzten Seite in Spannung hält. Der Titel „A Good Marriage“ ist dabei passender als derjenige der deutschen Ausgabe, denn im Buch geht es immer wieder darum, was eine gute Ehe ausmacht. Eine perfekte Ehe gibt es zudem nur nach außen, eine gute Ehe dagegen kann als solche ebenso gut von dem Ehepaar an sich empfunden werden. Romanintern stellt sich zudem die Frage, welche Ehe als „perfekt“ angesehen wird: Ist es diejenige zwischen Zach und Amanda oder diejenige zwischen Lizzie und Sam. Bei dem Titel „A Good Marriage“ stellt sich nicht so sehr die Frage nach dem, welches konkrete Ehepaar damit gemeint ist, sondern vielmehr welches Ehekonzept – in dem Buch, aber nicht nur – das Attribut „gut“ verdient. Neben den zwei genannten Ehepaaren kommen noch zwei weitere im Buch vor, die jeweils ein anderes Ehekonzept leben. Lange Rede, kurzer Sinn: „Eine gute Ehe“ wäre ein besserer Titel gewesen.

Dass Kimberly McCreight selbst Anwältin gewesen ist, lässt sich sehr gut an dem Thriller erkennen. Die geschilderten Vorgänge weisen große Sachkenntnis auf und die in der Anwaltskanzlei und vor Gericht geführten Dialoge wirken sehr authentisch. Aber auch als Autorin zeigt Kimberly McCreight ihr Talent. In „Eine perfekte Ehe“ schlüpft die Autorin abwechselnd in zwei Figuren: In die von Lizzie, die als Ich-Erzählerin aus ihrer Perspektive berichtet, und in die von Amanda, die sich uns in Form des personalen Erzählers anvertraut. Amandas Bericht reicht sechs Tage vor ihrer Ermordung, Lizzies Bericht knüpft direkt daran an und geht über eine Strecke von neun Tagen. Diese beiden Perspektiven werden von Zeugenaussagen vor dem Geschworenengericht ergänzt. Diese Vorgehensweise führt zu einem abwechslungsreichen und spannenden Leseerlebnis. Bis zum Ende hält die Handlung einen auch in Atem, da das Rätsel um die Umstände von Amandas Tod erst auf den letzten Seiten des Romans gänzlich aufgeklärt wird. Da die Auflösung nicht gänzlich überzeugend ist und sich im Laufe des Buches auch die eine oder andere Ungereimtheit ergeben hat sowie einige nebensächliche unbeantwortete Fragen zurückgeblieben sind, reicht es für eine volle Punktzahl nicht aus. Nichtsdestotrotz stellt der Thriller ein spannungsreiches und kurzweiliges Leseerlebnis dar.

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Veröffentlicht am 04.03.2021

Eine Geschichte jenseits von Wahrheit und Lüge

Die dritte Frau
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Ein bekannter Schriftsteller, der vor fünfundzwanzig Jahren ein fiktives Werk rund um das berühmte Gemälde „Gabrielle d'Estrées und eine ihrer Schwestern“ schrieb, auf dem Gabrielle d‘Estrées und Henriette ...

Ein bekannter Schriftsteller, der vor fünfundzwanzig Jahren ein fiktives Werk rund um das berühmte Gemälde „Gabrielle d'Estrées und eine ihrer Schwestern“ schrieb, auf dem Gabrielle d‘Estrées und Henriette d‘Entragues zu sehen sind, befindet sich an einem Krisenpunkt seines Lebens: Seine Ehe, aus der zwei mittlerweile erwachsene Kinder hervorgegangen sind, ist geschieden und auch seine schriftstellerische Karriere ist festgefahren, jedenfalls hat der Autor den Eindruck, nichts mehr zu sagen zu haben. Als seine Verlegerin ihn dazu animiert, sich mit seinen vergangenen Werken aufs Neue auseinanderzusetzen, um die Schreibblokade zu lösen, befasst sich der Autor daraufhin mit seinem Erstlingswerk „Die Purpurlinie“. Dieser Roman, der sich mit dem Leben und tragischen Tod Gabrielles d‘Estrées und ihrer unglücklichen Liebe zu Heinrich IV. auseinandersetzt, endet mit einem offenen Ende, das den Autor nun mit Frust erfüllt. Als er mit dem Gedanken spielt, eine Fortsetzung des Romans zu schreiben, stößt er auf einen Brief, den er vor einigen Jahren von einem französischen Leser mit dem Namen Charles Balzac erhielt und unbeantwortet ließ. Jener Leser hatte in dem Brief besagtes Erstlingswerk des Autors stark kritisiert und zu verstehen gegeben, dass er mehr über den historischen Hintergrund des Gemäldes wüsste. Als der Autor nun verspätet auf diesen Brief antwortet, erfährt er von Balzacs Nichte, die mit ihrem ganzen Namen, Camilles Balzac d‘Entragues, unterschreibt, dass ihr Onkel verstorben ist und die Hinterbliebenen gerade mit der Auflösung seines Nachlasses beschäftigt sind. Die Aussicht darauf, mit einer Nachfahrin Henriettes zu sprechen und womöglich neues Material für den Folgeband zu erhalten, fasziniert den Autor dermaßen, dass er beschließt nach Frankreich zu der Nachlassabwicklung zu reisen. Dort erwarten ihn nicht nur Dokumente, die ein neues Licht auf die historischen Begebenheiten werfen, sondern auch eine Frau, die eine seltsame Faszination auf den Autor ausübt. Die schicksalhafte Begegnung mit Camille Balzac d‘Entragues zieht Entwicklungen nach sich, die das Leben des Autors auf immer prägen sollen.

„Die dritte Frau“ ist, wie Wolfram Fleischhauer selbst erklärt, eine Verbindung aus Künstler- und Liebesroman. Er lässt uns darin einem Schriftsteller bei seinem Arbeitsprozess über die Schulter schauen. Wir beobachten ihn bei der Quellensuche, bei der Dechiffrierung von Codes, bei der Suche nach Antworten auf künstlerische Fragen und nach der richtigen literarischen Form für sein Werk. Gleichzeitig sehen wir das Buch als ein Produkt, das denselben Marktprozessen unterworfen ist wie jedes andere Handelsgut. Nicht zuletzt kommt auch die mitentscheidende Rolle des Konsumenten zur Sprache: „Dieses gnadenlose, unberechenbare, launische, verwöhnte, vergessliche, lebenswichtige und unverzichtbare Publikum, das immer recht hatte, das man überzeugen, verführen, gewinnen musste.“
In der metafiktionalen Spielweise mit der Thematik – der Autor integriert Kopien von Quellen aus seinem eigenen Archiv in den Roman – lässt Fleischhauer den Leser seine eigenen Vermutungen über den autobiografischen Anteil in der Geschichte anstellen. Wie wir in einem Interview erfahren, hatte der Autor tatsächlich auch selbst zunächst an einer Fortsetzung seines Erstlingromans „Die Purpurlinie“ gearbeitet, nach 80 geschriebenen Seiten das ursprüngliche Vorhaben allerdings wieder verworfen und sich für eine andere Herangehensweise und neue Form entschieden.
So lässt er den Erzähler, der sich mit seinem Erstlingswerk auseinandersetzt, „das auch für ihn wieder ganz neue Rätsel enthält“, auf eine Leserin treffen, die wiederum „sehr eigene Vorstellungen davon hat, was er da geschrieben hat und was er eigentlich hätte schreiben sollen“. Die beiden Figuren, der Erzähler und die Leserin, Camille Balzac, vetreten dabei zwei „konträre Positionen“, wie Wolfram Fleischhauer in dem Interview erklärt. „Wir haben einerseits den Erzähler“, sagt er, „der die Auffassung vertritt, dass alles ein Spiel ist und dass nur hinter der Maske letztendlich die Freiheit zu finden ist und auf der anderen Seite eine Frau, die die absolute Wahrheit sucht und lebt, und die keinerlei Spiel akzeptiert. Zwischen diesen beiden Polen oszilliert diese Geschichte.“
Es ist „ein Kammerspiel, ein Duell“, das sowohl der Autor selbst als auch der Leser gespannt verfolgen. Wir beobachten, wie die Leserin den Ich-Erzähler mit unbequemen Fragen konfrontiert und wie der Erzähler immer mehr in eine Schaffens- und Lebenskrise verfällt. Sie ist eine schwierige Muse, die ihn an sich selbst zweifeln lässt: „Wie sehr die Begegnung mit ihr zunächst meine Fantasie beflügelt hatte, nur um mir am Ende jede Fabulierlust zu vergällen.“ In diesen Fragen geht es dabei aber nicht nur um die Wahrhaftigkeit in der Kunst, sondern auch um das Verhältnis zwischen Mann und Frau und um die besonders drängenden Fragen, um Wahrhaftigkeit in der Liebe und im Leben. Wir erfahren wie der Erzähler und die Leserin auf diese Fragen antworten, doch letztendlich geht es auch darum, wie wir selbst auf diese Fragen antworten. „Die dritte Frau“ ist somit eine „Versuchsanordnung für die Leser, die sich in der Geschichte aufhalten“.

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